Reinhard Hempelmann

Sind Evangelikalismus und Fundamentalismus identisch?

Helmut Obst zum 65. Geburtstag am 9. Dezember 2005
 

Wenn deutsche Medien über Evangelikale in den USA berichten, wird in der Regel vorausgesetzt, dass Evangelikalismus und christlicher Fundamentalismus im Wesentlichen identisch sind. Verwiesen wird dafür auf die seit den 1980er Jahren zu beobachtende politische Wirksamkeit der Bewegung. Viele Evangelikale sind treue Anhänger von George W. Bush. Sie unterstützten die Republikaner nachweislich im Wahlkampf 2004. Sie üben Einfluss auf die amerikanische Außenpolitik aus. Viele von ihnen waren und sind Befürworter des Irak-Krieges. Ihre endzeitlichen Erwartungen machten sie zu engagierten Unterstützern der Siedlerbewegung und eines Groß-Israel-Konzeptes. Sie kämpfen gegen Feminismus, gegen die Evolutionslehre an öffentlichen Schulen, gegen die historisch-kritische Bibelforschung, kurz gegen die Moderne. Das Erlebnis der Wiedergeburt als persönliche Heilserfahrung und die Überzeugung der unbedingten Geltung der Heiligen Schrift hat für viele nicht nur Folgen für ihre individuelle Lebensführung, sondern beinhaltet politische Optionen. Dies entspricht einer allgemein verbreiteten Charakteristik fundamentalistischer Bewegungen: Sie antworten auf die Krise der Moderne mit dem Bemühen, „auf der Grundlage der heiligen Texte eine neue Gesellschaft aufzubauen“.1

Der Hang von Teilen des amerikanischen Evangelikalismus zur Verwischung der Grenze zwischen Religion und Politik kann im Blick auf Europa und Deutschland nicht bestätigt werden. Evangelikale Strömungen gewinnen zwar auch hier zunehmend an Bedeutung, allerdings vorrangig im gemeindlichen und kirchlichen Kontext, nicht im politischen. Dabei wird auch deutlich, dass sich die Evangelikale Bewegung in Deutschland – zu ihr gehören nach Angaben der Deutschen Evangelischen Allianz ca. 1,3 Millionen Christinnen und Christen hauptsächlich aus evangelischen Landeskirchen und Freikirchen – keineswegs einheitlich darstellt. Sie umfasst verschiedene Richtungen und reicht vom in den evangelischen Landeskirchen verwurzelten pietistischen Gemeinschaftschristentum bis zu enthusiastischen und separatistischen Gruppen, die in landeskirchlichen Gemeinden „unbiblische Systeme“ sehen.

Im Jahr 2004 erschien das Buch „Gott ist nicht pragmatisch. Wie Zweckmäßigkeitsdenken die Gemeinde zerstört“2. Verfasser ist Wilfried Plock, der als „Evangelist und Gemeindeberater“ tätig und seit 1995 Vorsitzender der Konferenz für Gemeindegründung ist, einer Initiative, in der sich in den letzten Jahren zahlreiche neue Gemeinden (freie Brüdergemeinden, freie Baptisten, Biblische Missionsgemeinden etc.) netzwerkartig zusammengeschlossen haben. Plocks Buch setzt sich kritisch mit in Deutschland populären evangelikalen Initiativen und Trends auseinander. Thematisiert werden u.a. die Gemeindewachstumsbewegung, Alpha-Glaubenskurse für Erwachsene, die evangelistische Aktion ProChrist mit Satellitenübertragung in zahlreiche europäische Länder, das Konzept von besucherzentrierten Gottesdiensten (Willow Creek), die Bücher des Gründers der Saddleback Community Church, Rick Warren, „Kirche mit Vision“ und „Leben mit Vision“, die auch in Deutschland intensiv gelesen und als Therapie für kleiner werdende und missionsmüde Gemeinden empfohlen werden. Plock hat den Eindruck, dass in manchen evangelikal geprägten Gemeinden Marketingmethoden mehr Gewicht haben „als die Briefe des Apostels Paulus“.3 Er kritisiert das Zahlen- und Wachstumsfieber, spricht von „verhängnisvollen Veränderungen“, von Prozessen problematischer kultureller Anpassung und dem Verzicht evangelikaler Gemeinschaftsbildungen darauf, Kontrastgesellschaft zu sein. „Der Pragmatismus verändert zuerst die ‚Verpackung‘ des Evangeliums, dann die Botschaft selbst und schließlich die Identität von Gemeinden.“4

Solche Anfragen sollten sich alle, die Konzepte und Strategien des Gemeindewachstums aufgreifen, gefallen lassen. Plocks Empfehlungen offenbaren allerdings seine eigene „evangelikal-fundamentalistische“ Position. Dem modernen Evangelikalismus rät er zum „neutestamentlichen Gemeindemodell“ zurückzukehren. Er versteht darunter die unveränderliche Predigt von Gottes Heiligkeit. Praktisch bedeutet dies u.a. den Ausschluss von Frauen aus dem Leitungs- und Lehramt für die Gemeinde. Dass in evangelikalen Initiativen Frauen Leitungs- und Lehrverantwortung innehaben, sieht er als zentrales Problem und Defizit an. Ihm geht es um die Aufrechterhaltung patriarchalischer Autorität in der Gemeinde. Wofür Plock plädiert, ist eine Liaison mit dem Zeitgeist von gestern.

In der Außenperspektive lassen sich sowohl Plocks Position wie auch die von ihm kritisch beleuchteten evangelikalen Initiativen unter dem Stichwort Evangelikalismus zusammenfassen. Das Beispiel zeigt, wie schwer es ist, von den Evangelikalen zu sprechen. Welche Evangelikalen sind gemeint? Die Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“, die sich ähnlich wie Plock äußert, oder die Deutsche Evangelische Allianz, die ProChrist und Willow Creek mit Nachdruck unterstützt? Stellungnahmen zur evangelikalen Bewegung und zum christlichen Fundamentalismus erfordern differenzierende Wahrnehmungen und Urteilsbildungen, insbesondere eine Klärung dessen, was gemeint ist, wenn von Fundamentalismus bzw. Evangelikalismus geredet wird.

Fundamentalismus – eine Strömung innerhalb des konservativen Protestantismus

Die augenfälligsten Formen engagierter Christlichkeit finden sich heute in denjenigen Bereichen des Christentums, die aufklärungskritisch und konservativ geprägt sind. In seiner Berner Abschiedsvorlesung meinte der reformierte Theologe und Ökumeniker Lukas Fischer: „Der Traditionalismus in allen seinen Formen – Evangelikalismus, Fundamentalismus, Integrismus [Mit Letzterem sind fundamentalistische Ausprägungen innerhalb des Katholizismus gemeint. R. H.] – hat bessere Chancen. Alle Positionen, die mit einem klaren Profil herkommen, können von vornherein mit einem Vorsprung an Plausibilität rechnen und vermögen Menschen auch zu übergreifenden Projekten zu mobilisieren.“5 Innerhalb der protestantischen Landschaft ist unübersehbar, dass sich erwecklich geprägte Strömungen, deren Ziel die Wiederentdeckung urchristlicher Missionsdynamik und Gemeinschaftsbildung ist, überaus schnell und wirksam ausgebreitet haben. Auch der Katholizismus hat durch die Akzeptanz charismatischer Frömmigkeit protestantischem Erweckungschristentum in sich Raum gegeben und eklektisch aufgenommen. Zwar zeigen sich diese Entwicklungen in Afrika, Lateinamerika und Asien deutlicher als im europäischen Kontext. Sie werden jedoch auch bei uns immer mehr erkennbar und verbinden sich mit den Impulsen, die vom Pietismus, der Erweckungsbewegung und freikirchlichen Gemeinschaftsbildungen ausgehen. Während noch vor wenigen Jahrzehnten Strömungen des konservativen Protestantismus von vielen „modernen Theologen“ als eine im Wesentlichen vergangene Erscheinung angesehen wurden, zeigt sich inzwischen, dass es sich hierbei um ein dauerhaftes Phänomen handelt.

Man wird der Ausbreitung evangelikaler und pfingstlich-charismatischer Strömungen nicht gerecht, wenn man diesen Vorgang mit dem eindeutig negativ besetzten Begriff Fundamentalismus stigmatisiert. Die Konjunktur des Begriffs deutet zwar durchaus auf eine verbreitete Sache hin. Im Kontext pluralistischer Gesellschaftssysteme verstärken die Kompliziertheit und „neue Unübersichtlichkeit“ des Lebens die Sehnsucht nach Einfachheit und Klarheit, nach Reduktion von Komplexität. Fundamentalistische Strömungen haben in diesem Umfeld ihre Chancen. Der gegenwärtige Gebrauch des Fundamentalismusbegriffs reicht weit über den Bereich des Religiösen hinaus. Er ist ein wichtiges Wort in der Medienöffentlichkeit geworden. Es gibt jedoch berechtigten Anlass, differenzierende Begriffsverwendungen anzumahnen. Konservative Theologen, Evangelikale, Charismatiker, Pfingstler wehren sich mit Recht dagegen, mit religiösen Fanatikern in einem Atemzug genannt zu werden, die vor der Anwendung brutaler Gewalt nicht zurückschrecken, um ihre religiös-politischen Visionen zu verwirklichen. Es ist wenig hilfreich und sowohl in historischer wie auch phänomenologischer Perspektive nicht zutreffend, den christlichen Fundamentalismus pauschal z.B. mit der evangelikalen oder charismatischen Bewegung zu identifizieren, wie dies teilweise in einer Außenperspektive durch distanzierte Beobachter wie auch in einer Innenperspektive durch einzelne Repräsentanten geschieht. Christlicher Fundamentalismus muss auch vom christlichen Konservativismus unterschieden werden. Zwischen Evangelikalismus und Fundamentalismus gibt es zwar vielfältige Zusammenhänge, „Übergänge und sich überlappende Grauzonen“6 – beide Bewegungen sind transkonfessionell und international orientiert, beide konkretisieren sich in zahlreichen Initiativen und Werken, in beiden sind modernitätskritische Orientierungen wirksam –, der Hauptstrom des Evangelikalismus unterscheidet sich jedoch vom Fundamentalismus. Ein herkömmlicher kirchlich-theologischer Sprachgebrauch nimmt diese Selbstunterscheidung auf und bezeichnet mit fundamentalistisch denjenigen Bereich evangelikaler Frömmigkeit, der hinsichtlich des Bibelverständnisses die Auffassung ihrer wörtlichen Inspiriertheit mit den Postulaten Unfehlbarkeit und absolute Irrtumslosigkeit verbindet. (Pointiert wird ein solches Bibelverständnis von der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule in Basel und der Freien Theologischen Akademie Gießen vertreten.) Freilich bedarf auch eine solche Begriffsbestimmung weiterer Differenzierungen. So muss etwa unterschieden werden, ob jemand die christliche Glaubensüberzeugung mithilfe eines fundamentalistischen Bibelverständnisses zum Ausdruck bringt, sich aber offen und anerkennend in einer größeren Gemeinschaft von Christinnen und Christen bewegt und damit auch andere theologische Entscheidungen zur Bibelfrage gelten lässt, oder ob jemand seinen Glauben derart eng mit einem fundamentalistischen Bibelverständnis verbindet, dass er anderen, nichtfundamentalistisch geprägten Christen, ihr Christsein abspricht.

Auch der Rekurs auf die Anfänge der fundamentalistischen Bewegung in den USA ist ein möglicher Weg, vorläufige Begriffsklärungen herbeizuführen. Um in historischer Perspektive von Fundamentalismus im engeren Sinn des Wortes sprechen zu können, reicht das Motiv der wörtlichen Inspiriertheit und Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift als Definitionskriterium noch nicht aus. Es müssen weitere Motive hinzukommen: die konservative politische Gesinnung und der Wille, religiös begründete Überzeugungen auch politisch durchsetzen zu wollen. Dazukommen muss also die Verbindung von Politik und Religion bzw. das Interesse, die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Recht, Politik, Ethos, Wissenschaft und Religion im Namen der Religion zurückzunehmen. Der christliche Fundamentalismus in diesem engeren Sinn stellt in Deutschland, anders als in den USA, keinen hoch organisierten und politisch einflussreichen Faktor dar. Insofern ist es richtig, wenn Martin Marty und andere sagen, dass Deutschland zum „fundamentalismusschwachen Gürtel“ gehöre, „der von Europa über Kanada und die nördlichen Teile der Vereinigten Staaten bis nach Japan reicht“7. In Deutschland artikulieren sich politisierte Formen des Fundamentalismus beispielsweise in christlichen Kleinparteien, wie der Partei Bibeltreuer Christen (PBC) oder der Christlichen Mitte (CM). Die PBC hat bezeichnenderweise einen Vorsitzenden, der aus der Pfingstbewegung kommt und wird u.a. von Pfingstlern und Charismatikern maßgeblich unterstützt. Die CM, die vor allem durch ihre anti-islamische Propaganda hervortritt, ist in rechtskonservativen katholischen Milieus verwurzelt. Aus allen bisherigen Wahlergebnissen wird sichtbar, dass beide Parteien politisch einflusslos bleiben.

Diese Hinweise bedeuten nicht, dass christlich-fundamentalistische Orientierungen in ihren politischen Implikationen bedeutungslos wären und vernachlässigt werden können, wie dies die Praxis des Homeschoolings und Plädoyers für die Aufnahme des Kreationismus in Schulbücher zeigen. Der christliche Fundamentalismus in seinen protestantischen oder katholischen Spielarten stellt sich in unserem Kontext vor allem als kirchenpolitische, seelsorgerliche und ökumenische Herausforderung dar.

Das Prinzip der Übertreibung und der Missbrauch von Autorität

Orientiert man die Begriffsbestimmung von „fundamentalistisch“ nicht primär historisch, sondern geht von gegenwärtigen Konflikten und ihrer öffentlichen Diskussion aus, so tritt die dunkle Seite christlicher Erweckungsfrömmigkeit ins Blickfeld. Der Fundamentalismusbegriff dient dann als Bewertungsbegriff für Fehlentwicklungen christlicher Frömmigkeit.

Religiöse Hingabebereitschaft kann ausgenutzt und missbraucht werden,

• die Orientierung an charismatischen Führerpersönlichkeiten kann das Mündig- und Erwachsenwerden im Glauben verhindern,

• die Berufung auf die Bibel und auf den Heiligen Geist kann funktionalisiert werden für ein problematisches Macht- und Dominanzstreben,

• das gesteigerte Sendungsbewusstsein einer Gruppe kann umschlagen in ein elitäres Selbstverständnis, das sich scharf nach außen abgrenzt, im Wesentlichen von Feindbildern lebt und Gottes Geist nur in den eigenen Reihen wirken sieht.

Ein Grundprinzip, das in fundamentalistischen Strömungen immer wieder in Erscheinung tritt, ist das Prinzip der Übertreibung. Einsichten des Glaubens werden so übertrieben, dass sie das christliche Zeugnis verdunkeln, ja verkehren. Dies bezieht sich zwar zuerst und vor allem auf das zur Verbalinspirationslehre gesteigerte Schriftprinzip – verbunden mit der Annahme einer absoluten Unfehlbarkeit der Bibel in allen ihren Aussagen –, darüber hinaus aber auch auf andere Ausdrucksformen und Motive der Frömmigkeit:

• das Motiv des wiederhergestellten urchristlichen Lebens;

• das Motiv der Unmittelbarkeit göttlichen Handelns; es bedeutet, dass beanspruchte Gotteserfahrungen einem Prozess der Prüfung und möglicher Korrektur nicht unterzogen werden;

• das Motiv autoritativer Vor- und Nachordnungen (zwischen Eltern und Kindern, Mann und Frau, Pastor und Gemeinde ...), die als Zeichen wahren christlichen Lebens verstanden und praktiziert werden;

• das Versprechen des geheilten und erfolgreichen Lebens;

• die Behauptung der Greifbarkeit und Lokalisierbarkeit Gottes und der Mächte des Bösen;

• ein weltbildhafter Dualismus, oft verbunden mit einem deutlichen Weltpessimismus. Rettung wird nur der eigenen Gruppe zuteil, während die übrige Welt dem erwarteten Untergang anheim fällt;

• elitäres Selbst- und Wahrheitsbewusstsein, Abgrenzung von der Außenwelt; wer nicht zur eigenen Gruppe gehört, wird abgeschrieben.

Die Gewichtung der genannten Motive ergibt sich u.a. daraus, mit welcher Intensität sich das zu Grunde liegende Motiv der Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift mit ihnen verbindet. Aus der Vielfalt möglicher Ausprägungen des Fundamentalismus haben sich insbesondere zwei Gestalten ausgebildet, die im Folgenden näher erläutert werden. 8

Wort- und Geistfundamentalismus – streitende Geschwister

Die eine Gestalt nimmt Bezug auf das unfehlbare Gotteswort in der Bibel (biblizistische, literalistisch-legalistische Orientierungen), die andere Gestalt sucht und findet Gewissheit in außergewöhnlichen Erfahrungen des Heiligen Geistes (enthusiastische, pfingstlich-charismatische, pentekostale Orientierungen). Biblizismus und Enthusiasmus können gesteigert werden und gewinnen dabei die Gestalten von Wort- und Geistfundamentalismus. Für beide (!) Gestalten ist charakteristisch, dass sie sich auf die biblische Tradition berufen und dabei von der wörtlichen Inspiriertheit der Bibel ausgehen. Beide Gestalten können sich mit bestimmten Annahmen zur Entstehung der Welt und des Menschen verbinden (Kreationismus), ebenso mit entsprechenden Annahmen vom Ende der Welt (Millennarismus). Im kreationistischen Gedankengut ist der Widerspruch zur Darwinschen Abstammungslehre zusammengefasst. In der Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel von 1978 heißt es: „Wir verwerfen die Ansicht, dass die Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit der Bibel auf geistliche, religiöse oder die Erlösung betreffende Themen beschränkt seien, sich aber nicht auf historische und naturwissenschaftliche Aussagen bezögen.“9

In den millennaristischen Perspektiven und dem Glauben an das Tausendjährige Reich (Chiliasmus) artikuliert sich der Protest gegen den Fortschrittsglauben der Moderne. Beide Gestalten tendieren dazu, wertkonservative und gesetzesethische Lebensorientierungen zu vermitteln. In beiden Gestalten ist die Sehnsucht nach Rückkehr in urchristliche Verhältnisse wirksam. Enthusiastische Orientierungen machen sich durchweg auch biblizistische Anliegen zu Eigen. Die Berufung auf religiöse Erfahrungen, auf Visionen, auf Worte der Erkenntnis, auf Glossolalie (Zungenrede), auf Heilungswunder, auf unmittelbare Eingebungen Gottes ... sind der enthusiastische Weg zur Aufrichtung von religiöser Autorität. „Wunder, göttliche Krankenheilung, Dämonenaustreibung, Umfallen, Zittern, Lachen, Ekstase, spontaner Empfang des Sprachengebetes, übernatürlich ausgelöster Lobpreis all das sind Phänomene, die sich oft und deutlich in der Bibel finden lassen. Sie sind biblisch.“10

Beide, Wort- und Geistfundamentalisten, würden den so genannten fünf „fundamentals“ des christlichen Fundamentalismus (Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift, Jungfrauengeburt, Sühnetod, leibliche Auferstehung, sichtbare Wiederkunft Christi), wie sie im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in den USA formuliert wurden, zustimmen, ebenso den grundlegenden Sätzen, die bereits im Vorfeld der Entstehung des protestantischen Fundamentalismus im so genannten „Niagara Creed“ festgehalten wurden.11 Der eine leitet daraus eine kreationistische Position ab und ist daran interessiert, eine alternative Biologie und Geologie aufzubauen, dem anderen liegt an einer christlichen Psychologie oder am Powermanagement in der Kraft des Heiligen Geistes. Der in einer bestimmten Dispensationalismuskonzeption (mit der Entstehung des Kanons der Schrift ist die Zeit der Wunder zu Ende) begründete Ausschluss der Zeichen und Wunder für unsere heutige Zeit beruft sich ebenso auf die Schrift wie die emphatische Forderung, sie heute zur Normalität der Frömmigkeit werden zu lassen. Geist- und Wortfundamentalismus können als streitende Geschwister verstanden werden. Da der Geistfundamentalismus sich in nahezu allen Ausprägungen gegenüber einem Wortfundamentalismus inklusiv versteht und dessen Anliegen mitvertreten kann, ist hier Streit in grundsätzlicher Weise vorprogrammiert, wofür es in historischer Perspektive wie auch im Blick auf die gegenwärtige Situation zahlreiche Beispiele gibt. Der Geistfundamentalismus bietet alles, was der Wortfundamentalismus auch beinhaltet, kennt jedoch darüber hinaus ergänzende, steigernde Elemente.

Solche Differenzierungen zeigen, dass diejenigen Recht haben, die sagen, dass der Kern des christlichen Fundamentalismus nicht allein in dem Verständnis der Heiligen Schrift liegt, sondern in einer besonderen Art der Frömmigkeit, die von Fundamentalisten als die einzig richtige angesehen wird. „Fundamentalisten sind keine Buchstaben-Gläubigen oder zumindest keine konsequenten. Man könnte dagegen sagen, dass das Hauptproblem für einen fundamentalistischen Exegeten in der Entscheidung liegt, welcher Abschnitt wörtlich zu nehmen ist und welcher nicht.“12 Damit ist auch ein wichtiger Hinweis für die Erklärung des Phänomens gegeben, dass die Ausbreitung christlich-fundamentalistischer Bewegungen Hand in Hand geht mit ständig neuen Abspaltungen und Denominationsbildungen. Wenn sich gegenwärtig ein Geistfundamentalismus als chancenreicher darstellt als ein reiner Wortfundamentalismus, liegt das u.a. darin begründet, dass er an Ausdrucksformen der religiösen Alternativkultur anknüpfen kann. In der so genannten „Dritten Welt“ hat der Geistfundamentalismus zusätzliche kulturelle Anknüpfungsmöglichkeiten.

Anliegen des Evangelikalismus

Die Wurzeln der evangelikalen Bewegung liegen im Pietismus, Methodismus und der Erweckungsbewegung. Vorläufer hat sie in Bibel- und Missionsgesellschaften, in der Bewegung der Christlichen Vereine junger Männer und Frauen, der Gemeinschaftsbewegung sowie der 1846 gegründeten Evangelischen Allianz. Bereits die geschichtliche Entwicklung belegt, dass der Evangelikalismus an vorfundamentalistische Strömungen anknüpft und innerhalb der Bewegung ein breites Spektrum an Ausprägungen der Frömmigkeit erkennbar wird.13 Auf der einen Seite steht die Heiligungsbewegung, aus der die Pfingstfrömmigkeit erwuchs, auf der anderen Seite steht ein sozial aktiver Typus evangelikaler Frömmigkeit, der Beziehungen aufweist zum Social Gospel. Ähnlich weit wird das Spektrum, wenn die gegenwärtige evangelikale Bewegung in ihrer weltweiten Verbreitung und Verzweigung ins Blickfeld kommt. Sie hat in unterschiedlichen Kontinenten durchaus verschiedene Profile. In Europa geht es neben konfessionsübergreifenden missionarischen und evangelistischen Aktivitäten u.a. auch darum, überschaubare Ergänzungen und Alternativen zu landes- bzw. volkskirchlichen Einrichtungen zu entwickeln. In Südafrika und Südamerika setzen sich evangelikale Kreise kritisch mit ihrer eigenen Tradition auseinander und sind darum bemüht, Evangelisation und soziale Verantwortung in einen engen Zusammenhang zu bringen. Sowohl die Frömmigkeitsformen wie auch die theologischen Akzente im Schriftverständnis, in den Zukunftserwartungen, im Verständnis von Kirche und Welt weisen kein einheitliches Bild auf. Gleichwohl lassen sich gemeinsame Anliegen in Theologie und Frömmigkeit benennen.

• Für evangelikale Theologie und Frömmigkeit charakteristisch ist die Betonung der Notwendigkeit persönlicher Glaubenserfahrung in Buße, Bekehrung/Wiedergeburt und Heiligung sowie die Suche nach Heils- und Glaubensgewissheit.

• In Absetzung von der Bibelkritik liberaler Theologie wird die Geltung der Heiligen Schrift als höchster Autorität in Glaubens- und Lebensfragen unterstrichen. Entsprechend der theologischen Hochschätzung der Heiligen Schrift ist eine ausgeprägte Bibelfrömmigkeit kennzeichnend.

• Als Zentrum der Heiligen Schrift wird vor allem das Heilswerk Gottes in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi gesehen. Der zweite Glaubensartikel wird im theologischen Verständnis und in der Frömmigkeit akzentuiert. Die Einzigartigkeit Jesu Christi wird pointiert hervorgehoben. Evangelikale Religionstheologie ist exklusivistisch geprägt.

• Gebet und Zeugendienst stehen im Mittelpunkt der Frömmigkeitspraxis. Gemeinde bzw. Kirche werden vor allem von ihrem Evangelisations- und Missionsauftrag her verstanden.

• Die Ethik wird vor allem aus den Ordnungen Gottes und der Erwartung des Reiches Gottes heraus entwickelt.

Mit diesen Akzenten in Theologie und Frömmigkeit ist der personale Aspekt des Glaubens betont, während der sakramentale zurücktritt. Das Verhältnis zwischen evangelikaler Bewegung und katholischer Kirche gestaltete sich über lange Zeit eher distanziert. Inzwischen sind von beiden Seiten zahlreiche gemeinsame Anliegen entdeckt worden, keineswegs nur in Fragen der individuellen Ethik. Durch seine Modernitäts- und Relativismuskritik spricht Papst Benedikt XVI. vielen Evangelikalen aus dem Herzen.

Kristallisationspunkt der Sammlung der Evangelikalen im deutschsprachigen Raum ist die Deutsche Evangelische Allianz, die sich zunehmend in Richtung einer evangelikalen Allianz entwickelt hat. Zentrale Dokumente der Bewegung sind die Allianz-Basis (in Deutschland/Österreich und der Schweiz in unterschiedlichen Fassungen) und die Lausanner Verpflichtung von 1974, die durch das Manila-Manifest (1989) bekräftigt und weitergeführt wurde. Vor allem mit der Lausanner Verpflichtung bekam die weit verzweigte evangelikale Bewegung ein wichtiges theologisches Konsensdokument, welches zeigt, dass sie sich nicht allein aus einer antiökumenischen und antimodernistischen Perspektive bestimmen lässt, sondern in ihr die großen ökumenischen Themen der letzten Jahrzehnte aufgegriffen werden (z.B. Verbindung von Evangelisation und sozialer Verantwortung, Engagement der Laien, Mission und Kultur). Im Unterschied zur ökumenischen Bewegung, in der Kirchen miteinander Gemeinschaft suchen und gestalten, steht hinter der evangelikalen Bewegung das Konzept einer evangelistisch-missionarisch orientierten Gesinnungsökumene, in der ekklesiologische Eigenarten und Themen bewusst zurückgestellt und im evangelistisch-missionarischen Engagement und Zeugnis der entscheidende Ansatzpunkt gegenwärtiger ökumenischer Verpflichtung gesehen wird. Evangelikalen und pfingstlich-charismatischen Gruppen geht es nicht um die offizielle Kooperation und Gemeinschaft von Kirchen, wie dies in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) geschieht, sondern um eine transkonfessionell orientierte Gesinnungsgemeinschaft auf der Basis gleichartiger Glaubenserfahrungen und -überzeugungen.

Der „Aufbruch der Evangelikalen“14 im deutschsprachigen Raum konkretisiert sich in zahlreichen missionarischen Aktionen, Konferenzen, Gemeindetagen, theologischer Forschung (die in den letzten Jahren einen deutlichen Kompetenzgewinn verzeichnen kann) und überaus erfolgreichen publizistischen Aktivitäten, die sich z.T. in Parallelstrukturen zu kirchlichen Initiativen vollziehen. Das Profil der evangelikalen Bewegung in Deutschland ist einerseits durch das Gegenüber zur pluralen Volkskirche und Kritik an bestimmten kirchlichen Entwicklungen bestimmt, andererseits auch durch konstruktive Kooperation in verschiedenen Initiativen. Erich Geldbach weist darauf hin, dass die evangelikale Bewegung in steigendem Maße durch „intellektuelle Offenheit und irenischen Geist“ gekennzeichnet ist.15 Diese Einschätzung trifft jedoch nicht gleichermaßen auf alle Ausdrucksformen des Evangelikalismus zu.

Ausprägungen des Evangelikalismus

Auch im deutschsprachigen Kontext werden verschiedene Typen und Ausprägungen des Evangelikalismus erkennbar, die sich berühren, überschneiden, teilweise auch deutlich unterscheiden:

  • Der klassische Typ,

der sich in der Evangelischen Allianz (gegründet 1846), der Gemeinschaftsbewegung und der Lausanner Bewegung konkretisiert und vor allem Landeskirchler und Freikirchler miteinander verbindet. Dieser Strang knüpft an die „vorfundamentalistische“ Allianzbewegung an und stellt den Hauptstrom der evangelikalen Bewegung dar.

  • Der fundamentalistische Typ,

für den ein Bibelverständnis charakteristisch ist, das von der absoluten Irrtumslosigkeit (inerrancy) und Unfehlbarkeit (infallibility) der „ganzen Heiligen Schrift in jeder Hinsicht“ ausgeht (vgl. Chicago-Erklärung16). Kennzeichnend ist ebenso sein stark auf Abgrenzung gerichteter, oppositioneller Charakter im Verhältnis zur historisch-kritischen Bibelforschung, zur Evolutionslehre, zu ethischen Fragen (Abtreibung, Pornographie, Feminismus etc.). Da ein fundamentalistisches Schriftverständnis unterschiedliche Frömmigkeitsformen aus sich heraus entwickeln kann, differenziert sich der fundamentalistische Typ in verschiedene Richtungen.

  • Der bekenntnisorientierte Typ,

der an die konfessionell orientierte Theologie, die altkirchlichen und die reformatorischen Bekenntnisse anknüpfen möchte und sich in der Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“ und der „Konferenz Bekennender Gemeinschaften“ konkretisiert.

  • Der missionarisch-diakonisch orientierte Typ,

der die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Evangelisation hervorhebt, in der Evangelisation und soziale Verantwortung in ihrer engen Zusammengehörigkeit akzentuiert werden. Dieser Typ ist u.a. in der „Dritten Welt“ bei den „social concerned evangelicals“ verbreitet, im deutschsprachigen Raum ist er eher unterrepräsentiert. Er findet seinen Ausdruck u.a. in Projekten, die an einer Kontextualisierung von Evangelisation und Mission interessiert sind.

  • Der pfingstlich-charismatische Typ,

dessen Merkmal eine auf den Heiligen Geist und die Charismen (u.a. Prophetie, Heilung, Glossolali) bezogene Frömmigkeit ist und der sich seinerseits nochmals vielfältig ausdifferenziert und mindestens drei verschiedene Richtungen ausgebildet hat: innerkirchliche Erneuerungsgruppen, pfingstkirchliche Bewegungen, neocharismatische Zentren und Missionswerke, die sich als konfessionsunabhängig verstehen, theologisch und in der Frömmigkeitspraxis eine große Nähe zur Pfingstbewegung aufweisen.

Zu allen Typen gibt es entsprechende Gruppenbildungen und entsprechende Grundlagentexte.17 Erst in den letzten Jahren ist die Weitläufigkeit der evangelikalen Bewegung auch im deutschsprachigen Raum offensichtlich geworden, unter anderem durch die Annäherung zwischen Evangelikalen und Charismatikern. Zur ökumenischen Bewegung, wie sie durch den Genfer Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) vertreten wird, hat der oben genannte missionarisch-diakonisch orientierte Typ die größte Affinität, während der fundamentalistische Typ die größte Distanz zu ihr hat. In deutlicher Skepsis gegenüber der Ökumene stehen auch der bekenntnisorientierte Typ und der pfingstlich-charismatische Typ, v.a. der nicht konfessionsgebundene Teil der charismatischen Bewegung und große Bereiche der Pfingstbewegung. Das Selbstverständnis zahlreicher Gemeinschaftsbildungen und Aktionen als „überkonfessionell“ oder „interkonfessionell“ kann falsche Assoziationen wecken. Es suggeriert ökumenische Weite, dabei geht es eher um ein bestimmtes christliches Profil und weniger um die Anerkennung von Vielfalt. Vor allem dann, wenn Vertreter evangelikaler oder pfingstlich-charismatischer Bewegungen dazu neigen, ihre Glaubensform absolut zu setzen und nur evangelikal orientierte Gläubige als Christinnen und Christen anerkennen, provozieren sie Vorbehalte und Unbehagen. Die Antwort auf die Frage „Wer ist ein Christ?“ lässt sich angemessen nicht allein durch Bezugnahme auf eine besondere Frömmigkeitsform beantworten. Vielmehr ist anzuerkennen, dass es eine Vielfalt und Unterschiedlichkeit von authentischen christlichen Lebens- und Frömmigkeitsformen gibt.

Fundamentalismus als Gefährdung des Evangelikalismus

Von dem Philosophen Ludwig Wittgenstein stammt das Diktum „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“. Fundamentalismus ist im deutschsprachigen Kontext vor allem ein Bewertungsbegriff, der auf die Schattenseiten und Fehlentwicklungen protestantischer Erweckungsfrömmigkeit hinweist; er ist eine zentrale Gefährdung des Evangelikalismus. Zwar gibt es unverkennbar Überschneidungen zwischen Fundamentalismus und Evangelikalismus, eine Gleichsetzung ist jedoch weder historisch noch phänomenologisch gerechtfertigt. In historischer Perspektive war die fundamentalistische Bewegung nicht Fortsetzung des Evangelikalismus, sondern ein neues, modernes Phänomen, das „aus einer Verengung des evangelikalen Erbes des 18. Jahrhunderts hervorgegangen“18 ist. Auch die Gründung (1942) der National Association of Evangelicals (NAE) ist nicht als Weiterführung des Fundamentalismus unter anderem Namen zu verstehen. Insofern lässt sich eine Identifikation von Evangelikalismus und Fundamentalismus auch im Blick auf die USA historisch nicht rechtfertigen, obgleich sie sich heute durch die zunehmende Politisierung evangelikaler Strömungen nahe legt.

Verhältnisbestimmung zur reformatorischen Theologie

Fundamentalistische Bewegungen beantworten die Frage nach christlicher Identität hauptsächlich und primär durch Abgrenzung – antipluralistisch, antihermeneutisch, antifeministisch, antievolutionistisch – bei gleichzeitiger Aufrichtung starker „patriarchalischer“ Autorität. Der Evangelikalismus will stärker positiv arbeiten und nicht nur negativ auf die moderne Gesellschaft reagieren. In beiden Strömungen kommen Aspekte zum Tragen, die den Protestantismus von Anfang an bestimmt haben: die Orientierung am Wort Gottes (sola scriptura) und die Konzentration auf das Elementare und Fundamentale – das unbedingte Vertrauen auf den einen Gott, der sich in Christus den Menschen zuwendet. Fundamentalismus und Evangelikalismus rezipieren diese Anliegen in je besonderer Weise. Wie verschieden die Rezeption erfolgen kann, zeigt die im deutschsprachigen Raum intensiv geführte Debatte über die Frage der Bibeltreue verschiedener evangelikaler Ausbildungsstätten.

Der Fundamentalismus beantwortet die offenen Fragen protestantischer Lebens- und Glaubensgestaltung in einer verzerrenden Weise, indem etwa die wahre Auslegung der Bibel durch ein Verbalinspirationsdogma gesichert werden soll. Faktisch wird damit die Unverfügbarkeit des göttlichen Wortes eingeschränkt. Die Freiheit im Umgang mit der Bibel und der historischen Wissenschaft wird verleugnet. Stilfragen werden mit kanonischen Fragen verwechselt. Beide Bewegungen, der christliche Fundamentalismus wie der Evangelikalismus, haben von Anfang an den Anspruch erhoben, das Erbe der Reformation treu zu bewahren, auch und gerade in ihrer Auffassung von der Bibel. Im Mittelpunkt theologischer Auseinandersetzung mit ihnen werden insofern immer auch Fragen der Bibelauslegung zu stehen haben. Eine theologische Kritik fundamentalistischer Strömungen wird deutlich machen müssen, warum ihre Denkformen und ihre Praxis zentrale Anliegen des christlichen Glaubens verfehlen. Bereits die so genannten fünf fundamentals, auf die sich die anfängliche christlich-fundamentalistische Bewegung bezieht, artikulieren in der Themenauswahl das christliche Glaubensverständnis reduktionistisch. Sie beziehen sich auf das Bibelverständnis und das Verständnis Jesu Christi, bringen jedoch nicht die Fülle des christlichen Glaubens in seiner trinitarischen Struktur zur Geltung.

In der Frage der Begründung der Glaubensgewissheit differieren reformatorisches und fundamentalistisches Bibelverständnis an einem entscheidenden Punkt. Die reformatorische Theologie verzichtete darauf, die Verlässlichkeit des göttlichen Wortes durch ein Verbalinspirationsdogma zu sichern. Ebenso verneinte sie eine prophetische Unmittelbarkeit, die sich vom Wort der Schrift und den äußeren Mitteln göttlicher Gnadenmitteilung loslöst und bestand auf der Wortbezogenheit des Geistwirkens. Gegenüber einem Wortfundamentalismus ist hervorzuheben, dass es Gottes heilvolle Nähe in seinem Wort nur in gebrochenen und vorläufigen Formen gibt. Die Bibel ist weder in den zentralen reformatorischen Bekenntnistexten noch in den altkirchlichen Symbolen Gegenstand des Heilsglaubens. In der Bibel lässt sich Gott durch Menschen bezeugen und spricht durch die fehlerhafte Grammatik menschlicher Sprache. Deshalb gibt es kein beweisbares, kein sichtbares Wort Gottes. Im christlichen Zeugnis wird der Unterschied zur Wahrheit, die es bezeugt, gewahrt. Das göttliche Wort gibt es nicht pur, es verbirgt sich im unzulänglichen Menschenwort und lässt sich darin zugleich finden. Fundamentalistische Strömungen leugnen solche Spannungen, sie ersetzen Gewissheit durch Sicherheit und lassen sich von einer Vollkasko-Mentalität beherrschen, die die Wahrheit des Glaubens an den dreieinigen Gott der Anfechtung entzieht.

Zwischen Fundamentalismus und Relativismus

Das Erstarken evangelikaler und fundamentalistischer Strömungen deutet darauf hin, dass der Nachweis von Modernitätsverträglichkeit als Zentrum christlicher Identitätsbestimmung nicht ausreicht. Zahlreiche Ausdrucksformen von Moderne und Postmoderne und kirchliche wie theologische Arrangements mit ihnen sind in die Krise geraten. Aufgabe für eine auf die Zukunft gerichtete und an den reformatorischen Bekenntnissen orientierte Theologie und Kirche kann nur sein, fundamentalistische Ideologisierungen der eigenen Glaubensbasis ebenso zu vermeiden wie eine Kapitulation vor den Dogmen gesteigerter Säkularität, die jeden religiösen Wahrheitsanspruch unter das Fundamentalismusverdikt stellt. Die christlichen Kirchen und Gemeinden können in Treue zum reformatorischen Erbe nur einen Weg zwischen Relativismus und Fundamentalismus gehen und ihre Wahrheits- und Glaubensgewissheit mit Dialogbereitschaft und Hörfähigkeit verbinden.


Reinhard Hempelmann


Anmerkungen

1 Gilles Kepel, Die Rache Gottes, München 1991, 271.

2 Wilfried Plock, Gott ist nicht pragmatisch, Oerlinghausen 2004.

3 A.a.O., 56.

4 A.a.O., 128.

5 Lukas Vischer, Wachsende Gemeinschaft – die ökumenische Bewegung zwischen Illusion und Hoffnung, in: Evangelische Theologie 53 (1993), 186f.

6 Erich Geldbach, Art. Evangelikale Bewegung, in: Lexikon neureligiöser Gruppen, Szenen und Weltanschauungen, Freiburg i.Br. 2005, Sp. 338.

7 Martin Marty / R. Scott Appleby, Herausforderung Fundamentalismus. Radikale Christen, Moslems und Juden im Kampf gegen die Moderne, Frankfurt a. M. 1996, 214.

8 Vgl. dazu Martin Riesebroth, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“, München 2000, v.a. 97ff.

9 Der Text der Chicago-Erklärung ist abgedruckt in: Reinhard Hempelmann (Hg.), Handbuch der Evangelistisch-missionarischen Werke, Einrichtungen und Gemeinden, Stuttgart 1997, 372.

10 Martin Benz, Wenn der Geist fällt, Metzingen 1995, 49.

11 Der Text findet sich bei Ernest R. Sandeen, The Roots of Fundamentalism. British and American Millenarism 1800-1830, Chicago 1970, 273. Im sog. Niagara Creed (einer bekenntnisartigen Formulierung der Niagara-Konferenz 1878) heißt es: „Wir glauben, ‚daß die gesamte Schrift durch Inspiration von Gott eingegeben ist‘ / 2. Tim 3, 16 /. Wir verstehen darunter das ganze Buch, genannt die Bibel. Wir bekennen dieses nicht in dem Sinne, wie man zuweilen törichterweise sagt, daß Werke menschlichen Geistes inspiriert seien, sondern in dem Sinne, daß der Heilige Geist vor alters den heiligen Männern die genauen Wörter der heiligen Schriften eingab, und daß seine heilige Inspiration nicht in unterschiedlichen Abstufungen erfolgte sondern in völliger Gleichheit und Fülle in allen Teilen dieser Schriften, den historischen, poetischen, lehrhaften und prophetischen, und auch das kleinste Wort betrifft, selbst die grammatische Flexion des Wortes, vorausgesetzt daß dieses Wort in den Originalmanuskripten enthalten ist.“ Vgl. dazu auch Hubert Kirchner, Wort Gottes, Schrift und Tradition, Göttingen 1998, 52.

12 James Barr, Fundamentalismus, München 1981, 77.

13 Vgl. zum Folgenden: Erich Geldbach, Art. Evangelikale Bewegungen, in: EKL Bd. I, Sp. 1186-1191; ders., Art. Evangelikale Bewegung, in: Lexikon neureligiöser Gruppen, Szenen und Weltanschauungen, Sp. 338-344 (dort weitere Literatur); Friedhelm Jung, Die deutsche Evangelikale Bewegung – Grundlinien ihrer Geschichte und Theologie, Frankfurt a. M. 1992; Alister McGrath, Evangelicalism and the Future of Christianity, London 1993; Derek Tidball, Reizwort Evangelikal. Entwicklung einer Frömmigkeitsbewegung, Stuttgart 1999.

14 Vgl. dazu Fritz Laubach, Der Aufbruch der Evangelikalen, Wuppertal 1972.

15 Erich Geldbach, a.a.O., 338.

16 Vgl. die Chicago-Erklärung, abgedruckt in: Reinhard Hempelmann (Hg.), Handbuch der Evangelistisch-missionarischen Werke, Einrichtungen und Gemeinden, 370ff.

17 Einzelne Grundlagentexte finden sich im Anhang des Handbuches der Evangelistisch-missionarischen Werke, Einrichtungen und Gemeinden, 349-382. Zu dem bekenntnisorientierten Typ des Evangelikalismus siehe: Weg und Zeugnis. Dokumente und Texte der Bekenntnisgemeinschaften. Kirchliche Zeitgeschichte 1980-1995 hg. von der Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“, Lahr 1998.

18 Erich Geldbach, Protestantischer Fundamentalismus in den USA und Deutschland, Münster u.a. 2001, 89.