Sind Magie und Christentum Gegensätze?
Eine alte Polemik neu betrachtet
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Das scheint irgendwie klar zu sein: Magie und Glaube haben nichts miteinander zu tun. Magie ist gestrig und primitiv. Magie gehört in Bereiche der religiösen Gegenwartskultur, die dezidiert außerhalb des Christentums angesiedelt sind, etwa in der neu-alten Religion und Praxis der Hexen oder in esoterischen Heilungszirkeln. Die Abneigung, so scheint es, ist wechselseitig: Wer sich als christlich versteht, wird Magie als falsches Heilsversprechen und als Sünde von sich weisen, und wer Magie praktiziert, etwa im expliziten Selbstverständnis als Hexe oder als deren Klient, wird für sich Gründe benennen, warum er oder sie den Wahrheitsansprüchen des Christentums misstraut. So jedenfalls ist es gewesen, als bei der Tagung, auf der die Vortragsfassung dieses Aufsatzes diskutiert wurde, eine sich explizit als Hexe verstehende Frau und zwei ihrer Begleiterinnen zum Gespräch erschienen. Es war ein freundlicher Dialog, bei dem die Gesprächspartnerinnen bereitwillig Auskunft über ihre Überzeugungen und Praktiken gaben und auch eine Reihe von Gegenständen mitbrachten, die sie dabei einsetzen. Jedoch schien klar, dass zwei Überzeugungssysteme, ja zwei Welten aufeinandertreffen. Das zeigte sich deutlich, als ein Konferenzteilnehmer die Hexe aufforderte, sie möge zum Beleg ihrer Fähigkeiten doch ein wenig praktische Magie hier und jetzt veranstalten. Das wies sie als reine Zurschaustellung zurück. Ich kann das gut verstehen und würde, bäte mich ein Angehöriger einer anderen Religion, etwa „Abendmahl vorzuführen“, auch nicht anders reagieren. Freilich festigte sich durch die Episode mindestens bei diesem Teilnehmer der Eindruck von den beiden Welten ohne Schnittmenge.Im Folgenden möchte ich diesem Eindruck widersprechen. Er soll danach nicht verschwunden sein, aber ich werde argumentieren, dass es eine Schnittmenge, einen grauen Bereich zwischen Magie und christlichem Glauben gibt. Entsprechend ist es nicht richtig, Menschen, denen an magischer Praxis liegt, wie in einem Terrarium zu betrachten: Theologisches Reden über Magie ist immer auch Selbstauskunft des Glaubens, da, wo es Nähen zu sehen gibt, genauso wie in der weiterhin nötigen kritischen Distanzierung – einschließlich der Distanzierung von Praktiken und Selbstverständnissen des Glaubens selbst.
Eine klassische Vorstellung von Magie und ihr alltägliches Vorkommen
In der Religionswissenschaft gibt es, wenn man zunächst einmal grob unterscheidet, zwei Stufen der Auseinandersetzung mit Magie. Die eine versteht Magie wesentlich als frühe und primitive Praxis der Religion, die durch die Weiterentwicklung von Religion und Gesellschaft überwunden wird und früher oder später zum Aussterben verdammt ist. Entsprechend findet man magische Praxis bei Gruppierungen, die mit aller Vorsicht als nicht oder wenig entwickelt einzustufen sind. Hier beherrscht eine evolutionäre Vorstellung von Religion die Szenerie, die davon ausgeht, dass in Religionen eine Dynamik zur Weiter- und Höherentwicklung gleichsam eingebaut ist. Freilich kann man mit guten Gründen fragen, ob das überhaupt der Fall ist.Skeptiker in dieser Hinsicht gelangen in Sachen Magie denn auch zu signifikant anderen Ergebnissen. Am bekanntesten wurde hier eine Arbeitsdefinition, deren wichtigste Voraussetzung man als sektoral bezeichnen könnte. Nach ihr gibt es verschiedene Dimensionen des Lebens und Erlebens, die jeweils einer gewissen Eigendynamik folgen. Sie können eng benachbart oder distant voneinander sein; auch Überschneidungsbereiche sind nicht ausgeschlossen. Jedenfalls aber lassen sich funktionale Eigenständigkeiten dieser Lebensbereiche erkennen. Auf Magie bezogen kommt Folgendes dabei heraus: „Magie unterscheidet sich von Religion dadurch, dass letztere Werte schafft und direkt auf Zwecke aus ist, während Magie aus Handlungen besteht, die einen praktischen Nutzwert haben und nur als Mittel zum Zweck tauglich sind“ (Bronislaw Malinowski).2Das sektorale Moment in dieser Definition ist ziemlich deutlich. Wissenschaft – die hier noch zu nennen wäre – ist nicht gleich Religion und Religion nicht gleich Magie. Religion wird dabei mit Aspekten beschrieben, denen offenbar hoher Wert zukommt, während Magie vor allem als praktischer Vollzug gilt. Religiöse Praxis ist schöpferisch, weil sie Zwecke hervorbringt, Magie ist relativ auf solche Zwecke und ein Mittel zur Erlangung von etwas, was sie selbst nicht begründet. Etwas überspitzt gesagt: Religiös ist man nach dieser Definition, wenn man Orientierung und Wegweisung für sein Leben sucht, zum Magier geht man, um den einen oder anderen der in der Religion als richtig erkannten Zwecke auch erfüllt zu bekommen. Magie ist geschicktes Werkzeug, und ihr Vorgehen kann von Kenntnissen wissenschaftlicher Art nicht eingeholt oder ersetzt werden. Ein dauerhaftes Nebeneinander von Wissenschaft, Religion und Magie ist dabei durchaus vorstellbar, was diese Definition von einem evolutionären Religionsmodell deutlich unterscheidet.Freilich ist auch hier eine Wertung sichtbar. Ein nochmaliger Blick auf die leitenden Begriffe macht das deutlich: Religion setzt Zwecke, ist also in der Wertsphäre kreativ. Magie ist auf diese Sphäre hin nur werkzeuglich ausgelegt. Das erinnert an Immanuel Kants Unterscheidung, dass Menschen Zwecke an sich sind und niemals bloß zum Mittel werden dürfen. Mitgesetzt ist, dass Mittel unter den Zwecken stehen, da sie nur Werkzeuge sind – so nach Malinowski auch die Magie: Sie ist nicht schöpferisch, sondern nur Werkzeug. Die Vorstellung, Magie sei eine überwundene primitive Vorstufe der Religionsgeschichte, wird nicht völlig abgelegt, sondern durch die wertbezogene Niederstufung magischer Praxis im Gegenüber zur Religion abgelöst. Auch in dieser Definition wird Magie also eher abwertend eingeführt.Diese Zuschreibung, notabene, muss nicht falsch sein! Es ist ja immerhin möglich, dass magische Praktiken „nur“ werkzeuglich sind und deshalb anderen Vollzügen unterzuordnen oder zu deren Gunsten gar abzulehnen. Aber eine solche Feststellung sollte am Schluss einer Auseinandersetzung stehen. Dass sie in der Begriffsdefinition bereits angelegt ist, macht jedenfalls konzentrierte Aufmerksamkeit im Zuge der Erarbeitung nötig.Eine erste Übung in dieser Aufmerksamkeit besteht darin, magische Haltung und Handlung nicht nur in abwertender Absicht bei anderen zu vermuten, sondern auch bei sich selbst zu suchen. Ich behaupte: Sie sind bei fast jedem Mitglied der modernen, arbeitsteiligen und funktional differenzierten Gesellschaft zu finden, ganz unabhängig davon, ob all diese Menschen sich dessen bewusst sind oder nicht. Das lässt sich in zwei Schritten plausibilisieren: Im ersten ist zu beschreiben, wie alltägliche magische Praxis aussieht, im zweiten muss dann ein entsprechend einleuchtendes Beispiel gefunden werden.Zum ersten: Aus Malinowskis Definition geht – unter Zuhilfenahme nur weniger interpretierender Zwischenschritte – Folgendes als Kennzeichnung magischer Praxis hervor:1. Wer magisch handelt, möchte (eventuell an einem fernen Ort) eine Wirkung erzielen.2. Wer magisch handelt, möchte für sich oder für andere dabei die Faktoren günstig beeinflussen. Nicht nötig ist, aber womöglich in Kauf genommen wird dabei, dass dieser Umstand die Faktoren für andere Personen ungünstig stellt.3. Wer magisch handelt, bedient sich dabei eines Mediums im weitesten Sinne, also einer Größe, die zur Erzielung der Wirkung eingesetzt wird.Das alltägliche Beispiel, auf das man diese drei Punkte, die magisches Handeln kennzeichnen, anwenden kann, ist das Phänomen Geld. Es gibt kaum einen Bewohner der westlichen Welt, der nicht alltäglich mit ihm umgeht, und über die Geldbestimmtheit unserer Kultur ist eine unüberblickbare Fülle von Studien veröffentlicht worden. Um sie und um die damit oft verbundene Frage, ob man diese Geldbestimmtheit moralisch zu beurteilen hat, soll es jetzt aber gar nicht gehen. Vielmehr steht lediglich eine Anwendung der eben präsentierten Kennzeichen magischen Handelns an.
Zwanglos ergibt sich:1. Geld erzielt Wirkung, gleich ob es sich um eine unmittelbare bei einem Barkauf handelt oder ob über große Entfernungen hinweg Geldsummen transferiert werden. Das Kreditkarten- und Internetgeschäft macht das mit Verkürzung von Zeitspannen auf einen Augenblick noch einmal augenfälliger.2. Geld ist in sich ein Wertschöpfungsversprechen und von daher direkt darauf aus, eine positive Wirkung zu erzielen (vgl. den Aufdruck auf englischen Banknoten: „I promise to pay the amount of ...“, den der Direktor der ausgebenden Staatsbank unterzeichnet). Je nach Situation kann das durchaus mit dem bewussten Kalkül verbunden sein, eine Vergünstigung zu erlangen, die jemand anderem dann nicht mehr zur Verfügung steht – in einer auf Mangel aufgebauten Wirtschaft ist das im Grunde auch dann nicht zu verhindern, wenn es nicht angestrebt wird.3. Das Medium der Geldwirtschaft ist der in schon provozierender Weise an sich wertlose Geldschein. Reine Zahlungsanweisungen und Kreditkarten verstärken diesen Eindruck noch. Das Medium an sich muss nicht wertvoll sein. Was es einzigartig macht, ist das ihm zugesprochene Versprechen, eine Wirkung zu erzielen.Die Verwendung von Geld, so also die Behauptung, ist die alltägliche Magie unserer Lebenswelt. Mehr als diese halbwegs nüchterne Feststellung ist hier nicht gemeint: Es geht also nicht um eine theologische Kritik der geldbestimmten Gesellschaft, nicht um die Suche nach Alternativen oder entschiedenen Verbesserungen, was man mit guten Gründen als sinnvolle Ziele ausweisen könnte.3 Vielmehr war hier nur zu zeigen: Magie ist den Menschen der Gegenwart näher, als die meisten denken. Das gilt selbstverständlich auch für die, die sich mit ihr als Phänomen religiöser Gegenwartskultur befassen und ihr dabei kritisch gegenüberstehen.
„Magie“ im Neuen Testament
Durchaus im Gegensatz zum Vorkommen von Begriff und Thema im Alten Testament sind die neutestamentlichen Hinweise sparsam gestreut.4 Für unseren Zusammenhang ist ein jeweils kurzer Blick auf zwei klassische Stellen hilfreich: die Erzählung von den Weisen aus dem Morgenland und die Stelle aus der Apostelgeschichte, in der von Simon, dem Magier, die Rede ist.Die Volksreligiosität nennt sie „Könige“, die Tradition oftmals „Weise“, aber wenn man in Matth 2 nachschlägt, dann ist von den Magoi aus dem Osten die Rede, die von fern kommen, Herodes aufschrecken und sich vor dem neugeborenen Jesus niederwerfen. Ihr Beruf, obschon terminologisch völlig eindeutig, spielt in der Erzählung keinerlei Rolle. Es geht vielmehr um Folgendes: Dass die Magoi aus dem Osten sich vor dem neugeborenen König der Juden niederwerfen, heißt, dass sie die Universalität seiner Herrschaft betonen. In ihm kam nicht nur der zur Welt, der über das Volk Gottes herrschen soll, sondern der Herr der ganzen Welt. Die Ordnung des Kosmos weist auf seine Herrschaft hin, und die Proskynese der Fremden, die diese Ordnung zu lesen in der Lage sind, machen sie sinnenfällig (einschließlich des Kontrastes zu Herodes, der seine schon zum Vergehen bestimmte Herrschaft nicht anders als durch eine grauenhafte Gewalttat zu stabilisieren in der Lage ist). Eine Konfliktlinie „Glaube – Magie“ wird hier also gerade nicht etabliert. Vielmehr liegt der Ton darauf, dass in Christus die Gottesherrschaft gekommen ist und dass es diese Herrschaft ist, die es auszurichten gilt – durchaus in direkter Konkurrenz zu anderen Herrschaftsansprüchen: Die Kenntnis, für die die Magoi stehen, unterwirft sich ihr freudig und klaglos; die Gewaltherrschaft des Herodes sieht sich zu einem letzten Aufbäumen angestachelt.Nicht ganz unähnlich verhält es sich in der Erzählung vom Magier Simon: Nach Apg 8,9f hat er durch wunderartige Taten großes Aufsehen erregt und dadurch auch eine Anhängerschaft gesammelt, die ihm göttliche Kraft zusprach. Er ist getauft (8,13) und hat von der Kraft der Apostel gehört, den Heiligen Geist weiterzugeben. Kern der Perikope ist, dass Simon auf die Apostel zugeht und ihnen für diese Gabe Geld anbietet. Das weisen sie als Sünde wider den Geist zurück, und Simon bittet sie darum, stellvertretend für ihn bei Gott um Vergebung zu bitten. Auch in dieser Perikope muss zunächst auffallen, dass nicht zwischen „gutem Glauben“ und „schlechter Magie“ unterschieden wird. Eine solche Konfliktlinie scheint schlicht nicht zu existieren. Was explizit kritisiert wird, ist, dass Simon für seine erbetene Gabe Geld geben möchte. Das ist aus folgendem Grund sündhaft: Wer Heiligen Geist (bzw. seine Weitergabe) kaufen kann, der löst ihn aus dem Identitätszusammenhang des Volkes Gottes. Er macht ihn zu einer isolierbaren, ihm als Individuum zur Verfügung stehenden Größe. Was sich damit abzeichnet, ist dem Ergebnis des Blicks auf die Magoi-Perikope im Grundsatz vergleichbar: Wessen Herrschaft ist auszurichten, wessen Herrschaft sich zu unterstellen? Das Handeln des Simon, als mageuein bezeichnet, ist nicht an sich verwerflich. Es wird in dem Augenblick verwerflich, in dem er in göttlicher Vollmacht handeln möchte, ohne erkennbar und deutlich dem Volk Gottes und seiner Identität anzugehören. Offenbar hat er die Vollmacht der Apostel als mageuein besonderer Art verstanden und wünscht, das seinem Fähigkeits-Portfolio hinzuzufügen. Damit aber will er es aus dem Identitätszusammenhang des Volkes Gottes herausbrechen und gleichsam heilig sein, ohne zu der durch das Pfingstgeschehen entstandenen Gemeinde zu gehören. Darauf läuft im Kern hinaus, dass sein Begehren als Sünde gegen den Geist gewertet wird.Aus diesen beiden exegetischen Kurzbeobachtungen ist auf eine Themaregel zu schließen. „Themaregel“ besagt dabei, dass in ihr nicht der gesamte Inhalt des später zu Entfaltenden gespeichert ist, wohl aber, dass hier eine Regel genannt wird, die dem Ganzen die Richtung angibt, und der keine der im Folgenden zu entfaltenden Bestimmungen widersprechen darf. Diese Themaregel lautet: Es gibt keine scharfe Grenze zwischen „böser Magie“ und „gutem Glauben“, wohl aber gibt es die alles entscheidende Frage, wessen Herrschaft auszurichten ist und auf wessen Reich das eigene Leben und alle Hoffnung ausgerichtet werden dürfen.
Glaube und Magie – fremde Nachbarn
Eine konkrete Verhältnisbestimmung von Magie und Christentum bedarf einer Näherbestimmung. Der Begriff „Christentum“ ist dafür zu weit und selbst zu kritikabel, weil eine zur Selbstkritik bereite Bestandsaufnahme des Christentums dessen Verführ- und Verfälschbarkeit immer mitdenken muss – ganz so, wie etwa Karl Barth die christliche Religion zuerst und zumeist unter „Religion überhaupt“ rechnete und diese als Unglauben qualifizierte. Die deshalb fällige Näherbestimmung stützt sich auf Begriff und Thema des Glaubens. Bei ihm ist mitgesetzt, dass er nicht automatischer und sicherer Besitz ist, sondern vielmehr Gottes unverrechenbare Gabe. Zudem gehört es zur Selbstwahrnehmung derer, die sich – aus welchen Gründen auch immer – als „Glaubende“ bezeichnen, dass sie den Satz „Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben“ mitsprechen.Auf der Basis dieser Vorklärung folgt jetzt eine kurze und, der erheblichen Prominenz des Themas eingedenk, weithin ungeschützte Charakteristik dessen, was in evangelischer Perspektive unter „Glaube“ verstanden werden kann. Im Licht des zuvor Erarbeiteten sollte es dann möglich sein, eine vorläufige Verhältnisbestimmung von Magie und Glaube vorzunehmen. Bei „Glaube“ ist mindestens das Folgende aufgerufen:5• Gott und Mensch kommen im Glauben und nur im Glauben zusammen. Es mag andere Gottesbegriffe geben – sie sind entweder falsch oder vorläufig und vom Evangelium her korrekturbedürftig. Aus sich selbst heraus sind solche nicht aus der Glaubensrelation gewonnene Gottesbegriffe jedenfalls nicht dazu in der Lage, sich ins Recht zu setzen. Von Gott außerhalb des Ereignisses dieser Zugehörigkeit zu sprechen, wird falsch oder mindestens uneigentlich; vom Glauben ohne Gott, an dem er hängt, zu sprechen, würde in die zahlreichen Fallen einer intellektualistischen oder subjektivistischen Interpretation des Glaubens führen.• Glaube als Ereignis des Zusammenkommens verweist auf das Primat der Relation. Es gehört zu den kräftigen Einsprüchen der Reformation gegen manche ihr vorliegenden theologischen und philosophischen Traditionen, dass sie das Primat der Relation einforderte. Im Rahmen einer Substanzmetaphysik ist das nicht oder nur sehr schwer zu denken: Sie wird den Selbstand einer Substanz als das Primäre und die Relationen zwischen solchen Substanzen als sekundäre Ereignisse deuten. Eine entsprechende Soteriologie denkt dann auch in Termini von Übereignung von Gnade und Wachstum / Wandlung einer Substanz durch diese. Der reformatorische Einspruch, geschärft an manchen seelsorgerlichen und theologischen Nöten, die sich aus einer solchen Soteriologie ergeben können, rückte in den Vordergrund, dass Menschen primär Beziehungswesen sind und dass das Ereignis der Gemeinsamkeit mit Gott begründeterweise als ein Beziehungsereignis zu beschreiben ist.• Es gibt Faszinationsformen, die usurpatorisch an die Stelle Gottes treten wollen: Wenn Glaube wesentlich als Relationengefüge zu verstehen ist, dann kann es Relationengefüge geben, die sich gleichsam in der Hand Gottes fühlen und doch in der Hand einer anderen personformenden Größe sind: Sind Gott und Glaube nicht ohne Relation zu denken, so folgt die Einsicht auf dem Fuß, dass es andere, konkurrierende, verderbliche Relationen gibt. Das Verbot fremder Götter im ersten Gebot ist deswegen nicht Zierrat einer religionsgeschichtlich vergangenen Epoche, sondern die diagnostische Aufgabe einer gegenwartskulturell wachen Theologie.• Glaube als Beziehungsereignis ist von der Geschichte und Gegenwart Jesu Christi nicht zu trennen. Glaube als Relationsereignis ist Relation zu Gott, der sich in Jesus Christus endgültig kenntlich gemacht hat. Was immer von diesem Relationsereignis noch zu sagen ist, es kann nicht ohne inhaltlichen Bezug auf die Selbstfestlegung Gottes in Christus und im Hinblick auf die Präsenz dieser Selbstfestlegung im Heiligen Geist gesagt werden.• Glaube ist eine Lebensform und kopräsent mit der ganzen Lebenserfahrung. Es ist nicht so, dass Glaube zuerst „da“ ist und stattfindet und sodann in eine Weltbeziehung eintritt. Es ist vielmehr so, dass Glaube schon immer eine Lebensform ist, sich also in den mannigfachen lebensweltlichen Relationen des Glaubenden vorfindet und diese prägt. Nach reformatorischer Überzeugung ist die Gottesbegegnung nicht in einem weltlosen Innen eingehaust, vielmehr begegnet Gott sub contrario in der gesamten Welterfahrung. Die An- und Abwesenheit Gottes erfahren wir in der Erfahrung der Welt, nicht vor oder hinter ihr.• Glaube ist immer anfänglicher Glaube. Wiewohl es richtig ist, dass, wer im Glauben bei Gott ist, nach anderem nicht mehr fragen muss (Ps 73,25), weiß er doch, dass in seiner Fülle noch aussteht, woran er schon jetzt teilhat. Er ist deswegen von der Anfechtung nicht frei, die ihn immer wieder bedrängen wird; zugleich weiß er sich in die Unruhe eingebunden, die auf das noch Ausstehende Gottes verweist und aus ist.Fragt man nun, in welchem Verhältnis der so bestimmte Glaube zur Magie zu stehen kommt, so bietet sich eine Kernpraxis des Glaubens als Vergleichspunkt an, nämlich das Bittgebet. Magie kommt in ihrem Kern darauf hinaus, eine geheimnisvolle Änderung der Wirklichkeit zugunsten dessen, der sie vollzieht, oder seines Schutzbefohlenen zu erreichen. Wenn der Glaube sich an Gott wendet, um von ihm Schutz, Hilfe und die Veränderung von unterdrückenden und krankmachenden Zuständen zu erreichen: Ist das Bittgebet dann gleichsam der unscharfe Rand des Glaubens in Richtung Magie? Die Unterschiede der beiden sind deutlich genug, aber auf einige interessante Parallelen ist doch aufmerksam zu machen.So behauptet der Glaube im Bittgebet etwa, dass Gott nicht unveränderlich sei, sondern dass er dazu bewegt werden könne, zugunsten von Menschen präsent und wirksam zu sein. Wäre es anders, keine Fürbitte im Gottesdienst würde Sinn haben. Auch ist mitgesetzt, dass im Glauben fürbittend für andere eingetreten werden kann. In diesen beiden Momenten ist nichts weniger als eine Nähe zwischen Praxis des Glaubens und Praxis der Magie zu sehen. Der Glaube bekennt von Gott, er sei gegenwärtig und wirksam. Außerdem habe er zugesagt, dass er nicht unterschiedslos, sondern absichtvoll gegenwärtig und wirksam sei. Dies ist als Nähe festzuhalten, bevor der Blick auf die beträchtlichen Unterschiede fällt.Schon im exegetischen Kurzabschnitt zeigte sich, dass nicht eine Praxis an sich verwerflich ist, die Gutes für andere zu bewegen erstrebt, wohl aber eine, die dies tut und sich dabei von der Verheißungsgeschichte Gottes mit seinem Volk isoliert. Hier allerdings tun sich die beträchtlichen Unterschiede auf. Glaube ist ohne den Bezug auf diese Verheißungsgeschichte überhaupt nicht zu verstehen, weil Glaube im Wesentlichen damit identisch ist, sich in dieser Verheißungsgeschichte zu befinden. Entsprechend ist das Bittgebet auch nicht inhaltlich beliebiges Bittgebet, sondern orientiert sich wesentlich an dem, was aus der vollzogenen Versöhnung zwischen Gott und Mensch als der Bitte würdig naheliegt oder sich aufdrängt. Dieser Verflochtenheit des Glaubens und seiner Gebetspraxis mit der Geschichte Gottes gegenüber zeigt sich die magische Praxis als isolierter und losgelöster Akt. Entsprechend ruhen die Hoffnung und Zuversicht des Klienten solcher Praxis auch auf dem geheimnisvollen Akt und auf vermuteten besonderen Fähigkeiten der Person, die ihn vollzieht. Die Identität des Bittgebets im Glauben ist verdankte Identität von Gott her, die Identität des Klienten magischer Praxis muss im Bezug auf das, worin sie ihre Hoffnung setzt, punktförmig gedacht werden. Die für den Glauben wesentliche Relationsförmigkeit findet nicht statt. Das muss nicht notwendig auf eine Faszinationsform hinauslaufen, die usurpatorisch an die Stelle Gottes tritt. In der Gefahr, zu einer solchen zu werden, steht sie gleichwohl.Nähe und beträchtliche Ferne des Bittgebets im Glauben einerseits und der magischen Praxis andererseits liegen nahe beieinander. Ob es sich bei den beiden also um fremde Nachbarn oder benachbarte Fremde handelt, ist lediglich eine Frage der Herangehensweise.
Ein Sonderfall: Magie im Namen des Glaubens?
Die Selbstauskunft von Kirche und Christentum verpflichtet zu der Feststellung, dass es Magie nicht nur außerhalb ihrer gibt, sondern genauso im Namen des Glaubens und durchgeführt durch solche, die sich ihm zurechnen. So gibt es etwa Praktiken in den neopentekostalen Kirchen Brasiliens, die von Magie nicht zu unterscheiden sind: In einem Fernsehgottesdienst etwa fordert ein „Bischof“ die Zuschauer auf, sich mit einem Glas Wasser vor dem Bildschirm einzufinden. Er spricht dann eine segensähnliche Formulierung in die Kamera und weist die Zuseher an, das Glas Wasser zu trinken, wodurch sich, so seine explizite Behauptung, die ins Wasser gelangte Heiligkeit den Menschen inkorporieren werde. Bedenkt man zusätzlich, dass einige dieser zahlenmäßig großen Kirchen nach Art des Merchandising organisiert sind, sodass man sich in die Marke einkaufen kann und nach dem Besuch einiger Kurse in der Lage sein soll, selbst vergleichbare Rituale zu vollziehen und Dämonen auszutreiben, so bleibt auf der Basis des hier Entwickelten nur der Schluss, dergleichen als Magie mit christlichem Anstrich rundheraus abzulehnen.Freilich: Wer über andere Weltgegenden redet, tut gut daran, parallele Phänomene in der eigenen Religionskultur ebenso zu sehen: Die Votivkerze vom katholischen Wallfahrtsort und manche nicht immer offengelegte Logik eines evangelischen Lobopfers mögen als Hinweise genügen. Die „Religion der anderen“ ist eben immer auch eigene Religion und die Degeneration des Glaubens zur Magie eine Versuchung, über die sich erhaben zu dünken mindestens heikel ist. Als Maßstab der (Selbst-)Kritik kann Folgendes gelten: Magie ist tendenziell eine Kunstfertigkeit, wohingegen es im Glauben darum geht, der Macht Gottes gewahr zu werden und sich ihr zu unterstellen. Gefahr der „Magifizierung“ im Glauben droht dann, wenn die fragliche Handlung aus dem Erzählzusammenhang des christlichen Glaubens herausgenommen und isoliert wird und wenn sich seine Betrachtung auf Ergebnisfixierung zusammendrängt.Kurz: Das Weltverhältnis der Christinnen und Christen ist wesentlich nicht durch undurchsichtige Akte einzelner Schutz- und Hilfemaßnahmen gekennzeichnet. Es ist vielmehr auf Gegenseitigkeit und Mitgeschöpflichkeit ausgelegt. Das Handeln untereinander bewirkt nicht das Heil, es gehört aber wesentlich zum Christsein, und es stiftet ein Maß an Stetigkeit und Erwartungssicherheit, das bei aller Unverrechenbarkeit der Präsenz Gottes im Geist nicht klein geredet werden soll. Die Zusammengehörigkeit des Geschöpflichen ist von der Art, dass auf der Existenzstellvertretung zugunsten des anderen Gottes Segen und Verheißung liegen. Zur Reife einer solchen Lebenspraxis gehört es, sich auf das Abdriften in die Nähe magischer Praxis kritisch befragen zu lassen.
Martin Hailer
Anmerkungen
1 Dem Beitrag liegt ein Vortrag gleichen Titels zugrunde, der bei der Beratertagung „Magie zwischen Hirngespinst, Täuschung und Wunder. Ein Problem in Beratung und Seelsorge“ am 19.2.2011 in der EZW gehalten wurde. Beide beziehen viel Material aus meinem Aufsatz: Wie viel Magie verträgt der Glaube? Systematisch-theologische Reflexionen, in: Gabriele Lademann-Priemer / Rüdiger Schmitt / Bernhard Wolf, Alles fauler Zauber? Beiträge zur heutigen Attraktivität von Magie, Münster 2007, 103-136.
2 „For magic is distinguished from religion in that the latter creates values and attains ends directly, whereas magic consists of acts which have a practical utilitarian value and are effective only as a means to an end”, Bronislaw Malinowski, The Role of Magic and Religion, in: William A. Lessa / Evon Z. Vogt (Hg.), Reader in Comparative Religion. An Anthropological Approach, New York 41979, 37-46, hier 40 (Übersetzung durch den Autor).
3 Weitere Hinweise bei Martin Hailer, Die Unbegreiflichkeit des Reiches Gottes. Studien zur Theologie Karl Barths, Neukirchen-Vluyn 2004, 98ff („Geld als Gott. Ein Motiv bei Karl Barth, Walter Benjamin und anderen“); ders., Götzen, Mächte und Gewalten, Göttingen 2008, 159ff. Eine deutlich weitergehende Kritik der Geldwirtschaft, die ausführlich Alternativen bewirbt, bei Thomas Ruster, Von Menschen, Mächten und Gewalten. Eine Himmelslehre, Mainz 2005.
4 Vgl. Rüdiger Schmitt, Magie im Alten Testament, Münster 2004.5
Die nachfolgende Liste von sechs Aspekten zitiert mit einigen Auslassungen meinen in Anmerkung 1 genannten Aufsatz „Wie viel Magie verträgt der Glaube?“, 121-124. Neben Bezug auf reformatorische und meistens zugleich ökumenische Kernüberzeugungen, die hier nicht eigens ausgewiesen werden, stammen wichtige Anregungen aus: Eberhard Jüngel, Art. Glaube IV. Systematisch-theologisch, in: RGG4 3, Tübingen 2001, 953-974; George Lindbeck, The Nature of Doctrine. Religion and Theology in a Postliberal Age, Philadelphia 1984; Bruce McCormack, Participation in God, Yes, Deification, No. Two Modern Protestant Responses to an Ancient Question, in: Ingolf U. Dalferth u. a., Denkwürdiges Geheimnis. Beiträge zur Gotteslehre, Tübingen 2004, 347-374; Heinrich Schäfer, Art. Glaube / Vertrauen C. Aus evangelischer Sicht, in: Peter Eicher (Hg.), Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe 2, München 2005, 27-39. Ein neuer Entwurf hohen Ranges zum Thema ist: David H. Kelsey, Eccentric Existence. A Theological Anthropology, Louisville KT 2009.