Psychotherapie / Seelsorge

Sinnstiftung - gemeinsame Aufgabe von Seelsorge und Psychotherapie?

Die Sinnfrage ruft nicht nur religiös-philosophisches Nachdenken hervor, sondern hat auch eine psychologische Dimension. Eine seelische Krise oder Störung löst existenzielle Fragen nach Schuld, Zufall, Leid, Tod und Sinn aus. Gemeinsam mit einer leidenden Person wird in der Psychotherapie versucht, einer belastenden Situation Sinn und Bedeutung zu verleihen. Besonders der Wiener Psychiater Viktor Frankl (1905 – 1997) hat den „Willen zum Sinn“ in das Zentrum seines therapeutischen und pädagogischen Ansatzes gestellt. Der Mensch sei nicht primär sexuell frustriert (Freud), sondern leide an dem fehlenden Sinn. Er benannte deutlich zwei Gefahren, die bei der Ignoranz der spirituellen Dimension, also der Geistigkeit des Menschen, drohen: Anthropologismus und Existenzialismus. Sobald die Anthropologie den Menschen ausschließlich von ihm selbst her deute und ihn zum eigenen Maßstab mache, verharre sie in der menschlichen Immanenz, und das Menschenbild erstarre zu einem Anthropologismus. Wenn die Existenzphilosophie das Angelegtsein menschlicher Existenz auf Transzendenz hin ausklammere, erstarre sie zum Existenzialismus (vgl. Viktor Frankl, Der leidende Mensch, Bern 1984, 221). Nicht umsonst heißt eines von Frankls Hauptwerken „Der unbewusste Gott“ (1992). Die Frage nach dem Sinn könne manche auch zur religiösen Frage, zur Frage nach Gott führen.

Sinn- und Existenzfragen spielen besonders in den Verfahren humanistischer Psychotherapie eine zentrale Rolle. Obwohl Frankl als ein Schulengründer humanistischer Psychotherapie gilt, richtet er kritische Bemerkungen an seine Kollegen. Ohne Bezug zu Transzendenz sei der Humanismus kein Humanismus mehr. Wenn der Mensch alles sei, werde der Humanismus zum Nihilismus und lasse keinen Platz für den Sinn im Leiden. Dadurch hat Frankl eine Brücke zur Seelsorge gebaut, die er sehr schätzte. Traditionell werden Psychotherapie und Seelsorge treffend als verfeindete Geschwister bezeichnet. Trotz vieler Gemeinsamkeiten sind die unterschiedlichen Ziele, Vorverständnisse und Methoden beider Disziplinen unübersehbar. Seit kurzem ist allerdings ein neues gegenseitiges Interesse bei in der Psychotherapie und in der Seelsorge Tätigen zu beobachten. Wie können beide Zugänge ergänzend dem Wohl von Hilfesuchenden dienen? Was sind die Stärken und Grenzen der Seelsorge, was kann eine psychotherapeutische Begleitung leisten – und was nicht?

Vorbildlich werden diese komplexen Fragen im neuen „Handbuch psychiatrisches Grundwissen für die Seelsorge“ behandelt (hg. von Jochen Sautermeister und Tobias Skuban, Freiburg i. Br. 2018). Im allgemeinen Teil sind theologische Zugänge zu psychischen Störungen aus ökumenischer Sicht gesammelt, etwa Trost oder Therapie, Existenzielle und theologische Herausforderungen seelischer Krankheiten, Geschichtliches, Umgang mit psychiatrischen Notfällen, Klinikseelsorge, Grundwissen Psychopharmaka, Stigmatisierung, transkulturelle Aspekte. Den Schwerpunkt bildet der Teil 2, in dem die häufigsten seelischen Störungen von erfahrenen und renommierten Psychiatern und Psychotherapeuten differenziert und allgemeinverständlich erläutert werden, immer mit Bezug zur die Praxis der Seelsorge.

Das aktuelle Themenheft der von der Schweizer Charta für Psychotherapie herausgegebenen Zeitschrift „Psychotherapie-Wissenschaft“ (1/2019, www.psychotherapie-wissenschaft.info/index.php/psywis/issue/view/209) untersucht, ob und wie Sinnstiftung eine gemeinsame Aufgabe von psychotherapeutisch und seelsorglich Tätigen sein kann. Der renommierte Hannoveraner Psychiater Wielant Machleidt wirbt für eine stärkere Öffnung und einen „Wandel der Selbstidentität von Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen bei der Begegnung mit dem religiösen und kulturell Fremden“. Er versteht Religionen als unterschiedliche Symbolsysteme, die eine Weltordnung mit einem Symbolsystem verbinden. Versöhnung und Heilung könne durch religiöse Sinnstiftung ermöglicht werden. Weitere Aufsätze über Psychoanalyse und Islam sowie Religionen als sinnstiftendes Element in der Psychotherapie belegen die hohe Aufmerksamkeit für religiös-spirituelle Themen in der Psychotherapie.


Michael Utsch