Spiritismus und ästhetische Moderne - Berlin und München um 1900. Dokumente und Kommentare
Priska Pytlik (Hg.), Spiritismus und ästhetische Moderne – Berlin und München um 1900. Dokumente und Kommentare, A. Francke Verlag, Tübingen/Basel 2006, 723 Seiten, 98,00 Euro.
Bei dem vorliegenden Band, entstanden im Rahmen eines zweijährigen Forschungsprojekts an den Universitäten Regensburg und Tübingen, handelt es sich zweifelsohne um ein wichtiges Quellenwerk, in dem erstmals Texte und Dokumente erschlossen wurden, die unbekannt oder nur schwer zugänglich sind. Die Herausgeberin, die bereits ihre Dissertation zu diesem Themenkomplex vorgelegt hat (vgl. Rezension in MD 8/2005, 311), möchte die „Fülle signifikanter und teils überraschender Querverbindungen zwischen literarischem Leben und spiritistischer Kultur“ aufzeigen. Ihr besonderes Augenmerk gilt dabei den Städten Berlin und München, die sich um 1900 zu Zentren und Umschlagplätzen okkultistischer Ideen entwickelten. Für andere europäische Länder und Metropolen sind solche Lokalstudien nach wie vor ein Desiderat.
In der Einleitung (1-27) legt Pytlik ihren Forschungsansatz dar. Er weiß sich einer „interdisziplinär und kulturgeschichtlich orientierten Literaturgeschichtsschreibung“ (15) verpflichtet. So bietet der erste Teil eine Einführung in den Spiritismus um 1900 (1-74). Hier finden sich Texte im Spannungsfeld zwischen Okkultismus und Parapsychologie, u.a. von Wilhelm Hübbe-Schleiden, Max Dessoir und Carl du Prel. Der zweite, viel umfangreichere Abschnitt widmet sich der Frage, welche Bedeutung dem Spiritismus für die Herausbildung der ästhetischen Moderne zukommen könne. Hier stehen zum einen das Verhältnis von Kunst und Spiritismus (u.a. Hanns von Gumppenberg, Max Brod), zum anderen das Phänomen des automatischen Schreibens „als spiritistische wie literarische Verfahrensweise“ (135-202). Abschließend widmet sich das Kapitel mit Texten u.a. von Alfred Döblin, Rainer Maria Rilke dem Problem der Autorschaft unter der Leitfrage: „der Künstler als Medium – das Medium als Künstler?“ (203-250). Der dritte, weit voluminösere Teil des Bandes (251-640) beleuchtet personelle wie institutionelle Konstellationen zwischen Literatur und Spiritismus. Neben Einzelpersonen und Kreisen in München (z.B. Psychologische Gesellschaft, Albert von Schrenck-Notzing) und Berlin (z.B. Gesellschaft für Experimental-Psychologie und Einzelmedien wie Anna Rothe und Eleonora Zugun) werden auch Verknüpfungen zwischen einzelnen spiritismusaffinen Literaten deutlich. Geisterbeschwörungen und offenbarungsspiritistische Varianten wie z.B. bei Hanns von Gumppenberg („Das dritte Testament, eine Offenbarung Gottes“) und Frank Wedekind („Das neue Vater Unser“) veranschaulichen die antimaterialistische und von antikirchlichen Ressentiments bestimmte Haltung der Spiritismusgläubigen jener Jahre.
Die thematische Anordnung und das jeweils mit Kommentaren versehene Quellenmaterial machen das Buch empfehlenswert. Besonders erfreulich: Durch zahlreiche Abbildungen, ein Glossar und ein kommentiertes Personenregister ist das umfangreiche Werk eine literarische Fundgrube für Wesen und Praktiken des neu zeitlichen Spiritismus in Deutschland.
Matthias Pöhlmann