„Spiritual Care“ - eine Herausforderung für die Seelsorge?
Ein neuer Begriff ist da
Der Begriff „Spiritual Care“ hat Karriere gemacht.1 Warum? In ihm bündeln sich zweierlei Anliegen und Erkenntnisse, die in jüngster Zeit merklich an Gewicht gewonnen und Verbreitung gefunden haben. Einerseits: In der psychosozialen und gesundheitlichen Versorgung sind verschiedene Bedürfnisse zu beachten. In der Palliativmedizin jedenfalls hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Bedarf an Spiritualität und die Fürsorge für diese Dimension eine vierte Säule neben der medizinischen, sozialen und psychologischen Dimension des angemessenen Handelns darstellt. Hier bahnt sich erstmals in einem Teilbereich am Rande des modernen medizinischen Handelns eine integrale Sicht des Menschen an, die auch das Phänomen Religion nicht mehr ausklammert. Hoffentlich bleibt sie im Gesundheitssystem nicht auf die Palliativmedizin beschränkt. Darin verschafft sich eine solche Anthropologie Geltung, wie sie die Theologie schon länger vertritt. Vertreter der Seelsorge registrieren das mit großer Freude.
Andererseits: Die Lage ist inzwischen durch vermehrte religiöse und weltanschauliche Pluralität und religiöse Unbestimmtheit des Erlebens der Individuen gekennzeichnet. Die Rede vom Spirituellen umfasst dann alles, was mit Sinn- und Identitätsfragen2 zu tun hat. Sie lässt offen, ob die gefundenen Lösungen und spirituellen Haltungen einer Religion zugeordnet werden können oder als individuelle Haltungen auch ganz ohne den Kontext Religion auskommen.3 Das Spirituelle benennt hier so etwas wie eine „anthropologische Konstante“4. Alles, was die Funktion der Sinnthematisierung und Ohnmachtsbewältigung erfüllt, also Religion, aber eben nicht nur sie, kann als spirituell gelten.
In dieser Beschreibung ist eine wichtige Weichenstellung vorgenommen: Wenn ein Verständnis von Spiritualität pluralitätskompatibel sein soll, dann bedingt das einen weiten Spiritualitätsbegriff, einen streng funktionalen. In der Debatte um die Spiritualität wird das natürlich nicht von allen so gesehen. Es gibt auch Verständnisse, die Spiritualität enger fassen wollen. Ist nicht wirkliche oder zumindest besonders intensive, also bessere Spiritualität erst da, wo sie sich in bestimmte Praktiken, etwa der Meditation, äußert? Vertritt man diese Ansicht, dann setzt man mit einer solchen Wertung ein normatives Verständnis, auch dann, wenn man es als Angebot an alle Menschen, gleich welcher Religion, präsentiert.5
Eine andere Möglichkeit ist, den Begriff der Spiritualität mit dem der Transzendenz zu verknüpfen und ihn so vom rein Psychischen in der dritten Säule abzugrenzen. Spiritualität wäre dann erst da gegeben, wo Transzendenz erfahren und als Kraft eigener Art gedeutet wird, die eine besondere Ressource darstellt.6 Bestimmt man Spiritualität so, dann tut sich aber auch hier eine Schwierigkeit für die Verwendung als Teil sozialstaatlicher Verantwortungsaufgabe im Gesundheitssystem auf. Denn der Staat darf nicht für eine bestimmte Weltsicht optieren und sie seinen Bürgern aufoktroyieren. Will er sich in der pluralen Gesellschaft terminologisch so weit hervorwagen, dann ist das wiederum nur systemadäquat, wenn er sogleich im Folgeschritt Spiritualität als ein kulturelles Phänomen festschreibt, etwa so: Es wird zwar die Transzendenzvorstellung als inhaltlicher Kern der Spiritualität akzeptiert, doch muss dann offen bleiben dürfen, welche Art von Deutung des Transzendenzphänomens vorgenommen wird. Und das muss einschließen können, dass Beteiligte Transzendenz als nichts anderes als einen übergreifenden kulturellen Zusammenhang und insofern dem Individuen transzendente Größe verstehen, mag diese nun religiös und welttranszendent als „Offenbarung“ oder auch genauso gut materialistisch und weltimmanent als Teil des menschlich gemachten Bewusstseins begriffen sein.
Wenn man, wie es m. E. angesichts der Religionspluralität und der weltanschaulichen Neutralität staatlichen Rahmenhandelns für das Gesundheitssystem angesagt ist, den Begriff des Spirituellen bewusst so weit hält, dann ergibt sich als Ausgangspunkt für die Überlegungen die Einsicht in eine erhebliche Differenz zwischen Spiritualität im Sinne des Spiritual-Care-Konzepts und Religion. Damit legt sich dann nahe, den Begriff „Spiritual Care“ eben nicht von vornherein mit dem der Seelsorge gleichzusetzen. Das ist auch damit kongruent, dass „Seelsorge“ kulturhistorisch als ein Angebot der Kirchen entstanden ist. In ihm drückt sich, anders als in der Einführung von Spiritual Care in das Gesundheitssystem, eine Innenperspektive auf Religion aus. Diejenigen, die als Krankenhausseelsorger bzw. -seelsorgerinnen bezeichnet werden, stehen in Verbindung zu einer Kirche und ihrer konfessionellen Theologie.
In der Praxis der Fürsorge für Menschen geht allerdings beides, Spiritual Care und Seelsorge, oft ineinander. Das erklärt, warum Spiritual Care und Seelsorge faktisch auch als geradezu austauschbare Begriffe verwendet werden. Zu analytischen Zwecken und angesichts der Situation, dass hinter beiden Begriffen durchaus verschiedene gesellschaftliche Akteure stecken, will ich aber hier zunächst von der Verschiedenheit in der Theorie und in der Systemlogik ausgehen, bevor ich Spiritual Care und Seelsorge dann wieder zueinander in Beziehung setze.7
Nimmt man stattdessen beides von vornherein zusammen, wie dies in der Praxis geschieht, dann taucht doch die Differenz „an der nächsten Ecke“ wieder auf. Dafür ist die Situation in den Niederlanden ein lehrreiches Beispiel.8 Hier hat man Spiritual Care und Seelsorge so aneinander angenähert, dass man es zum Strukturmerkmal erklärte, dass nicht nur die Seelsorge, sondern jede „geistliche Versorgung“ wie „Religion“ funktioniert. Damit wurde auch ein dezidiert nichtreligiöses Spiritual-Care-Konzept, wie es von denen vertreten wird, die sich in den Niederlanden als Humanisten bezeichnen, ebenfalls wie eine in sich geschlossene Weltanschauung definiert. Keine „geistliche Versorgung“ ohne weltanschauliche Bindung, so war die Devise. Diesen Weg zu gehen, war wohl für die „humanistische Seelsorge“ deswegen attraktiv, weil auch sie damit den Status einer Standesorganisation erringen konnte. Auf dem Arbeitsmarkt derer, die innerhalb des Spiritual-Care-Konzepts im Gesundheitssystem beruflich tätig sein wollen, finden sich inzwischen aber auf einmal solche Menschen, die im Zuge der Bachelor-Master-Struktur einen Master in Seelsorge gemacht haben, ohne jeden weltanschaulichen Zusammenhang, und sich nun auch als kompetente „geistliche Versorger“ sehen. Da lässt sich das bisherige niederländische Modell der weltanschaulichen Bindung nicht mehr halten. Muss es dann nicht konsequenterweise für alle abgeschafft werden oder verliert es jedenfalls de facto seine grundsätzliche Bedeutung?
Weitere Überlegungen weisen in die gleiche Richtung. Zwar ist richtig: Spirituelle Wahrheit lässt sich nicht an individuell erlebter Wahrhaftigkeit und Intensität vorbei konstruieren, aber bedeutet das, dass Wahrheit durch Wahrhaftigkeit ersetzt werden kann? Religionen – jedenfalls Christentum, Judentum und Islam – denken die Transzendenz Gottes so, dass Wahrheit bezogen auf Gott immer nur als Einsicht bezogen auf von Gott selbst Mitgeteiltes angemessen gedacht werden kann: Offenbarung. Eine humanistische geistliche Versorgung kann das gerade nicht so denken wollen. Würde sie es doch tun, wäre sie komplett zur Religion geworden. Ich setze also bei der Differenz an. So ergibt sich:
• Der Trend zu „Spiritual Care“ wertet Seelsorge auf: Denn nun gibt es neue Gründe für Seelsorge. Spiritual Care inkludiert Religion; auch Religion und Seelsorge betreiben Spiritual Care.9
• Der Trend zu „Spiritual Care“ wertet aber Seelsorge auch ab: Denn Seelsorge erscheint im Vergleich mit Spiritual Care als auf Religion fixiert, auf die jeweilige Religion des Seelsorge-Anbieters. Spiritual Care zielt aber auf Kommunikationsfähigkeiten über religiöse und nichtreligiöse Gehalte jeglicher Art, die spirituellen Charakter haben. Seelsorge muss dann im Verdacht stehen, weniger zu bieten, nämlich eine nur auf eine Religion begrenzte, aus ihrer Perspektive entwickelte Spezialkompetenz.
Wie kann Seelsorge mit der Konkurrenzsituation umgehen?
Im Modell Spiritual Care begegnet eine Außenwahrnehmung der Seelsorge. Seelsorge wird hier in ihrer Funktion für das Gesundheitssystem gesehen.10 Das stellt eine Herausforderung für Theorie und Praxis der Seelsorge dar. Sie ist darauf nicht so ganz vorbereitet, denn sie war bislang aus der internen Logik des Religionssystems konstruiert:11 Seelsorge als eine der Weisen der Kommunikation des christlichen Glaubens. Dabei hatte sich schon mit der Konkurrenz durch die Psychoanalyse und die Sozialberatung am Anfang des 20. Jahrhunderts eine neue Lage für die kirchliche Seelsorge ergeben. Es etablierten sich Psychotherapie und Beratung als Alternativen oder als Ergänzung zur Seelsorge. Angesichts dieser Konkurrenz entwickelte die Seelsorgetheorie und -praxis zwei gegensätzliche Strategien. In dem einen Lager der Seelsorge machte man die Differenz zu den Konkurrenten möglichst groß. So entwickelte die dialektische Theologie ein Verständnis von Seelsorge als dem ganz anderen: Verkündigung des Wortes Gottes an die einzelnen Getauften (Eduard Thurneysen) – und dementsprechend: Krankenhausseelsorge als Kirche im Krankenhaus. Die Seelsorgebewegung hingegen wollte die neuen Entwicklungen in sich integrieren und orientierte sich an den Standards des therapeutischen Gesprächs. Als „Psychotherapie im kirchlichen Kontext“ (Dietrich Stollberg) demonstrierte sie der Gesellschaft: Wir können es – in unserer kirchlichen Spezialperspektive – methodisch genauso gut wie Therapie und Konfliktberatung. Krankenhausseelsorge erschien damit als Counterpart zu der medizin-systemischen Ausrichtung in der Klinik – als Anwältin der Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten. Wie soll die Seelsorge(theorie) aber heute auf die Herausforderung durch das neue Konzept Spiritual Care angemessen reagieren?
a) Bloße Anpassung riskiert inhaltlich die Selbstauflösung und machtpolitisch die Bedeutungslosigkeit. Die Entwicklung in den Niederlanden führt das deutlich vor Augen. Wird dort nun auch nicht „ordinierte“ geistliche Versorgung akzeptiert und zum Normalfall werden, dann verschwindet in der Tat die Seelsorge als eine unterscheidbare Tätigkeit der Kirche aus der Öffentlichkeit, aus deren Gesundheitseinrichtungen. Die Kirche hat sich im Effekt damit in die Nische des rein Privaten der eigenen religiösen Kleingruppe begeben.12
b) Die bloße Abwehr und Negation des Anliegens von Spiritual Care und die Verweigerung von Pluralitätsfähigkeit ließe umgekehrt die Seelsorge in die fundamentalistische Falle tappen. Seelsorge ist dann nur etwas für die wenigen 150-prozentigen Mitglieder einer jeweiligen Glaubensgemeinschaft.
Das Ergebnis in den beiden zunächst konträren Szenarien unterscheidet sich damit kaum.
c) Angemessener ist demgegenüber eine differenzierte, flexible Kombination von Spiritual Care und Seelsorge. Dies ergibt sich auf der Basis von Gemeinsamkeiten wie Differenzen beider. Es wird deshalb wichtig, diese genauer in das Bewusstsein zu rufen.
Gemeinsamkeiten und Differenzen von Spiritual Care und Seelsorge
Eine gemeinsame Basis von Spiritual Care und Seelsorge ergibt sich aus der Analyse, dass es einen berechtigten Bedarf an integraler Versorgung gibt und dass dieser auch Fragen der Deutungen allgemein und der religiösen Deutungen einschließt.13 Nötig in einer pluralen Welt ist dafür auch die Kompetenz, bei dieser Versorgung mit nichtreligiösen Welten und anderen religiösen Welten umzugehen. Religiöse und spirituelle Sensibilität wird deshalb für alle in Heimen und Kliniken Tätigen zu einem Berufserfordernis, sie wird speziell zum Profil der Spiritualitätsprofessionellen und der Seelsorger und Seelsorgerinnen.
Doch es gibt auch Unterschiede: Weil für das Gesundheitssystem einzelne Weltanschauungen funktional austauschbar sind, relevant ist ja nur ihr Gesundheits- bzw. Pflegeeffekt, neigt es zu Spiritual Care statt Seelsorge als der systeminternen einfacheren Lösung: ein „spiritual caregiver“ für jede Art von spirituellem Bedarf.
Aber die Individuen haben es de facto in ihren Biografien mit bestimmter Religion zu tun, so patchworkartig und synkretistisch sie auch rezipiert worden sein mag. Ihre Kommunikation über Religion und Spiritualität kann im Prozess immer auch – mehr oder minder – selbst zu religiöser Kommunikation werden, zu Kommunikation aus Religion und in Religion.14 Auch ihr Gegenüber in der Kommunikation wird von ihnen nicht nur einfach als Experte für Religionen, der über Religion kommunizieren kann, in Anspruch genommen, sondern als Gegenüber für die religiöse Kommunikation selbst, als eine Person, die selbst religiös kommuniziert. Ob das Gegenüber Informantin über Religion oder Partizipantin in Religion ist, macht demnach einen beträchtlichen Unterschied aus. Die funktionale Abdeckung von Religion durch allgemeines Spiritual Care entspringt also den vorrangigen Interessen des Gesundheitssystems, aber damit noch nicht unbedingt denen der Individuen. Dabei haben Menschen ein Grundrecht auf freie Religionsausübung, und dazu gehört auch das Recht, Zugang zu religiösen Personen und Traditionskontexten zu haben,15 auch wenn sie in einer Institution des Gesundheitssystems versorgt werden. Und das schließt ein, dass Menschen die Möglichkeit haben müssen, beim Gegenüber auch auf aktive religiöse Deutungs- und Handlungsangebote begründet hoffen zu können.16
Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin: Die Indikationen für Seelsorge und für Spiritual Care sind identisch. Beide dienen dem Erhalt und der Rückgewinnung von „Lebensgewissheit“.17 Sie bearbeiten deren Gefährdung: wenn das Wechselverhältnis von Ich und Welt und Transzendenz als gestört erlebt wird. Dann ist die Person in ihrem Selbstbild und in ihrem Bild von Transzendenz verunsichert. Eine solche Situation wird ausgelöst durch Empfindungen von Ohnmacht, von Schuld, von Verquickungen aus Ohnmacht und Schuld, von der Desintegration eines als sinnvoll erlebten Ichs und von der Desintegration einer sozialen Kohärenz.18 Die Identität erscheint bedroht, „[w]enn mindestens drei von den fünf identitätsstützenden Säulen [Leiblichkeit, soziales Netz, Arbeit und Leistung, materielle Sicherheit, Werthaltungen/-vorstellungen] brüchig werden oder gar wegbrechen“.19
Wenn diese Indikationen für Seelsorge bzw. Spiritual Care gegeben sind, besteht Bedarf, die Fragen der Lebensgewissheit zu thematisieren, und dies nicht nur intellektuell, vielmehr sie auch emotional zu durchleben. Dann ist individuelle Beratung, Begleitung, Stützung sinnvoll.
Bei dieser Beratung und Begleitung tut sich der Unterschied von Seelsorge zu Spiritual Care so auf: Von der Seelsorge darf man erwarten, dass diese Hilfe auch dadurch erfolgt, dass nicht nur über Religion geredet wird, sondern dass im Gespräch der Beziehung zu einer Religion (d. h. einer bestimmten Religion oder auch patchworkartigen Kombinationen) ein Vertrauensvorschuss entgegengebracht werden kann.
Dies soll dann aber nicht nur so geschehen können, dass nur der hilfebedürftige Mensch den Vertrauensvorschuss leisten müsste, während das Gegenüber sich neutral verhält, verhalten muss. Denn auch da, wo die hilfebedürftige Person gerade darunter leidet, dass ihr Vertrauen gefährdet ist, und das dem Gegenüber signalisiert, möchte sie darauf zurückgreifen können zu erfahren, wie bei ihrem Gegenüber das Vertrauen aussieht. Wo Spiritual Care auch das leistet – was vorkommt –, tut es jedoch mehr, tut es anderes als das, was das sozialstaatliche, refinanzierte Gesundheitssystem im Konsens der Staatsbürgerinnen und -bürger vom Gesundheitspersonal der „caregiver“ verpflichtend erwarten kann.
Aber wichtig ist es für die, denen geholfen werden soll, durchaus. Hier wird dann die Ohnmacht von einer bestimmten Macht gehalten, der auch das Gegenüber vertraut, oder es wird stellvertretend für die Hilfe suchende Person vertraut. Vergebung wird erlebt als möglich durch die Macht, von der auch das Seelsorge ausübende Gegenüber Vergebung erwartet. Vertrauen darauf wird gestärkt, dass Sinn da ist, wo ihn auch das Gegenüber selbst sucht. Soziale Kohärenz wird gelebt, die auch dann greift, wenn sie empirisch nicht mehr nachweisbar ist, weil sie von einer Macht geschaffen wird, die auch die soziale Kohärenz zwischen den beiden Seelsorgepartnern stiftet. Seelsorger sind daraufhin ansprechbar. Und noch mehr: Bei ihnen ist die Möglichkeit gegeben zum Rollenwechsel hin zum religiösen Lehrer und zum Liturgen. Das sind Rollen, in denen die Wahrheitsfrage über Wahrhaftigkeit hinausgehend mit thematisiert ist und die körperlich-religiöse Expression inszeniert wird. Von der Person, die Seelsorge erhält, wird ihr Gegenüber als eines erfahren, das Teilhabe gibt an einer sozialen Gemeinschaft (im Fall christlicher Seelsorge: der sichtbaren Kirche) und einer transzendenten Gemeinschaft (der unsichtbaren Kirche, des Reiches Gottes). Das Neutralitätsgebot des spirituellen „caregivers“ darf – wie gesagt – diese Möglichkeiten nicht erwartbar vorsehen, allenfalls kann das Gesundheitssystem dies als mehr oder minder zufällige Doppelrolle im Rahmen von Spiritual Care tolerieren.
Spiritual Care bezieht sich also auf einen spirituellen Minimalbedarf. Ein neutrales Spiritual Care allein entspricht jedoch den Bedürfnissen der Individuen nicht. Die Seelsorge wiederum arbeitet zwar durchaus im Interesse des Angebots von Spiritual Care, aber hat perspektivische Einschränkungen. Seelsorge und Spiritual Care können sich demnach nicht adäquat durchgängig ersetzen. Aber es gibt gemeinsame Aufgaben, deshalb können Seelsorge und Spiritual Care die Aufgabe des jeweils anderen in Teilbereichen mit übernehmen bzw. sie können fruchtbar zusammenarbeiten.
Gestalten der Kombination von Spiritual Care und Seelsorge
Dem eben Dargestellten entspricht am ehesten eine Kombination von Spiritual Care und Seelsorge als gemeinsame Angelegenheit von Gesundheitssystem und Religionsgemeinschaften. Welche Regeln und Muster gibt es dafür? Zwei Faktoren sind zu beachten:
Erstens spielt die Anzahl der Mitglieder und Sympathisanten einer Religionsgemeinschaft eine wichtige Rolle, also die Frage, wie verbreitet es ist, dass für sie Seelsorge mit Plausibilität „zuständig“ ist. Das faktische Gewicht einer Religion(sgemeinschaft) in der Gesellschaft ist für die aktuellen Gestaltungsmöglichkeiten alles andere als nebensächlich. Zweitens kommt es auf die innere Qualität der Religionsgemeinschaft an. Auf dem Gebiet des allgemeinen Spiritual Care können nur solche Seelsorgerinnen und Seelsorger arbeiten, die nicht nur hinreichend methodisch ausgebildet sind, sondern deren Theologie pluralitätskompatibel ist – und die auf eine Religionsgemeinschaft bezogen ist, in der eine pluralitätskompatible Theologie verbreitet ist.20
Damit ergeben sich zwei Grundmodelle:
Modell 1 – Seelsorge als Anbieter von Spiritual Care: Nur wenn beides – ausreichendes gesellschaftliches Gewicht und Pluralitätskompatibilität – gegeben ist, bietet es sich an, Seelsorge als Spiritual Care institutionell vereint zu regeln. Davon hat auch Spiritual Care nicht nur einen pragmatischen, sondern durchaus einen inhaltlichen Vorteil. Spiritual Care durch Seelsorger bietet einen Schutz davor, dass bei angeblicher Neutralität von Spiritual Care die Manipulationsgefahr versteckt und insofern gefährlicher auftritt, gerade weil das Bedürfnis nach unmittelbar religiöser Kommunikation eben doch da ist. Bei der Seelsorge ist erkennbar, dass keine Neutralität besteht und dass dann gegebenenfalls Spiritual Care in einer Konstellation der Religions- und Weltanschauungsverschiedenheit erfolgt und auch erfolgen kann.
Wo eine zahlenmäßige Dominanz einer Religionsgemeinschaft in der Gesellschaft vorliegt, kann deren Seelsorge Spiritual Care stellvertretend mit übernehmen. Sie muss dann betont offen für eine Pluralität der Spiritualitäten sein und deshalb Menschen ohne Kirchenbezug passendes Spiritual Care mit anbieten können;21 sie muss interreligiöse Seelsorge anbieten können und Menschen bei Bedarf Seelsorge in einer anderen Religion zugänglich machen.22
Modell 2 – Seelsorge mit Kooperation im professionellen Team: In diesem Modell gehört Seelsorge mit eigenen Leistungen zum Team Spiritual Care. Sie ergänzt das sonstige Spiritual Care und kooperiert mit dessen Mitarbeitenden. Das ist vielerorts schon längst die Realität. Meist ist die Seelsorge in Bereiche der ethischen Teambildung im Gesundheitssystem einbezogen.23 Sie bringt seelsorgliche spirituell-religiöse Erfahrungen mit den Einzelnen ein, dazu die pastorale theologische Kompetenz für Ethik und die Repräsentanz eines maßgeblichen Akteurs im Wertediskurs in der Zivilgesellschaft. Dabei können drei Muster der Kooperation unterschieden werden:24 1. Konsultation (Hinzuziehung der Expertise anderer, bezogen auf einen Einzelfall), 2. Zusammenarbeit und Koordination (zur Bewältigung von Einzelfallproblematiken oder Problemen in der Struktur, die verschiedene Dimensionen betreffen) und 3. Überweisung (wenn die Grenzen der eigenen fachlichen Kompetenz erreicht sind). So erbringen die Seelsorgerinnen und Seelsorger vielfältige Leistungen für die Institutionen der Behandlung und Pflege von Menschen im Gesundheitssystem.
Ausblick: Der besondere Beitrag der Seelsorge zu Spiritual Care
Ob in einer vereinten Struktur oder im Team auch unterschiedlicher Organisationen: Seelsorge hat dem Gesundheitssystem mit Bedarf an Spiritual Care Besonderes zu bieten – sie erweitert das Angebot in zweierlei Hinsicht:
1. Seelsorge auch an und mit Mitarbeitenden des Gesundheitssystems: Spiritual Care ist keine Einbahnstraße. Die Wahrnehmung spiritueller Bedürfnisse und Erfahrungen verändert und verbessert auch das Arbeitsklima der Mitarbeitenden. Im Spiritual-Care-Modell dürfen und sollen sich alle Mitarbeitenden auch am Spiritual Care beteiligen, mit der Maßgabe der Neutralität und der Privatisierung ihrer eigenen religiösen Kommunikation. Hier bringt die Seelsorge an und mit Mitarbeitenden ein Weiteres hinzu: Diese werden als selbst religiös Kommunizierende wahrgenommen und bekommen ein entsprechendes Gegenüber.
2. Seelsorge als Gegenüber zum Gesundheitssystem: Spiritual Care ist Teil des Gesundheitssystems, folgt seiner Logik, ist Teil seiner Organisationsstruktur. Es soll das System optimieren. Seelsorge ist Teil des Religionssystems. Dieses begrenzt den Anspruch des Gesundheitssystems. Es macht dessen Grenzen sichtbar, kann auch dessen Logik hinterfragen, ihm dabei helfen, seine eigene Logik komplex genug zu halten. Dass ein System seine Grenzen sichtbar macht, Übergänge in andere Systeme zulässt, tut ihm gut. Gerade dass die Seelsorgerinnen und Seelsorger Teil einer Fachlichkeit sind, die nicht zur jeweiligen Gesundheitsorganisation gehört, macht einen eigenen Reiz aus für die, die sich in der Einrichtung des Gesundheitssektors behandeln lassen bzw. dort arbeiten.
Alles in allem bietet Spiritual Care eine Chance für die Seelsorge – nicht ohne Risiken. Wenn Seelsorge um das ihr Eigene und Besondere weiß, dies auch geltend macht, es anderen in ihrer Fachlichkeit zeigen kann und es als teilanschlussfähig bestimmen kann und sich auf die jeweiligen örtlichen Verhältnisse einlässt, dann kann sie zu einer interessanten Partnerin und relevanten Verbündeten von Spiritual Care werden.
Anmerkungen
1 Vortrag, gehalten am 22.9.2012 auf der Fachtagung „Krankenhausseelsorge oder ‚Spiritual Care’? Der professionelle Umgang mit spirituellen Bedürfnissen im Krankenhaus“, veranstaltet von der Evangelischen Akademie zu Berlin in Kooperation mit der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW). Ein Teil der Überlegungen, teils auch in wörtlicher Übereinstimmung, findet sich bereits in: Eberhard Hauschildt, Seelsorge: Das Altern besprechen, begleiten und ihm Raum geben, in: Thomas Klie/Martina Kumlehn/Ralph Kunz, Praktische Theologie des Alterns, Berlin/New York 2009, 471-496, hier 489-494.
2 Vgl. Eduard Weiher, Spiritualität in der Begleitung alter und sterbender Menschen, in: Susanne Kobler-von Komorowski/Heinz Schmidt (Hg.), Seelsorge im Alter. Herausforderung für den Pflegealltag, Heidelberg 22006, 64-76, hier 72f.
3 Vgl. Traugott Roser, Spiritual Care. Ethische, organisationale und spirituelle Aspekte der Krankenhausseelsorge. Ein praktisch-theologischer Zugang, Stuttgart 2007, 249-252.
4 Auf die Funktion einer solchen Bestimmung wie das Zulassen von verschiedenartigen Füllungen des Begriffs machen Traugott Roser und Eckhard Frick im ersten Heft der neuen Zeitschrift „Spiritual Care“ aufmerksam: „Der Ausgangspunkt bei einem offenen Spiritualitätsbegriff und einer prinzipiellen anthropologischen Kategorie hat eine Schutzfunktion für den Einzelnen, sei er Patient oder Betreuender: Sie bewahrt die Subjekte vor den Übergriffen sowohl des Gesundheitswesens als auch von Religionsgemeinschaften“ (Traugott Roser/Eckhard Frick, Editorial, in: Spiritual Care. Zeitschrift für Spiritualität in den Gesundheitsberufen 1/2012, 3-6, hier 5).
5 Dementsprechend vermarktet die Tertön Sogyal Stiftung, eine Organisation des tibetischen Buddhismus, eine Einrichtung in Saarow bei Berlin, deren Eröffnung für 2014 geplant ist, als „Deutschlands erstes Spiritual Care Center“ (www.spiritualcare-center.de), zuletzt abgerufen am 2.12. 2012).
6 So deute ich die Ausführungen von Monika Renz (vgl. auch ihren Beitrag auf dieser Tagung): „Wenn ich von Spiritualität spreche, so in einem engern Sinn als Erfahrung mit einem ewig Grössern, Unverfügbaren. Spirituelle Erfahrung kann weder gemacht, noch – etwa über Musik – „herbeigeführt“ werden. Spiritualität ist mehr als Bewusstseinserweiterung. Sie ereignet sich gnadenhaft, wo Menschen als „die Frage, die ich bin“ (Karl Rahner) ins scheinbar Leere hinaus aushalten und genau so offen werden auf die Dimension Gott hin. Offenbarungsgeschehen“ (www.monikarenz.ch/de/spiritualitaet.php , zuletzt abgerufen am 31.1.2013).
7 Die Argumentation sollte in sich plausibel sein. Dabei will ich allerdings nicht unterschlagen, dass in einem solchen Verfahren, das ich vorschlage, de facto bei mir auch eine bestimmte konfessionelle Tradition, nämlich hier die protestantische, womöglich in ihrer typisch lutherischen theologischen Fassung, eine Rolle spielt. Als Theologe darf und soll man das ruhig offenlegen. Mir erscheint also die hier beschrittene Argumentation durchaus vertraut von derjenigen Schule des Denkens her, sich die christliche Religion aus der Differenz von Gesetz und Evangelium (und dann auch deren Beziehung) zu erschließen.
8 Vgl. dazu den Bericht von Joep van de Geer auf dieser Tagung.
9 Vgl. Traugott Roser, Spiritual Care (2007), a.a.O., 253.
10 Vgl. ebd., 245.
11 Auf diese Fragestellung verweist Traugott Roser, „Spiritual Care“. Seelsorge in der Palliativmedizin, in: PT 40 (2005), 269-283.
12 Vgl. von daher die engagierte Warnung an die Seelsorge vor der Übernahme der Spiritual-Care-Begrifflichkeit bei Doris Nauer, Seelsorge. Sorge um die Seele, Stuttgart 2007, 63-67, nicht zuletzt vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen in den Niederlanden.
13 Traugott Roser, Spiritual Care (2007), a.a.O., 246-249, stellte etwa dazu ein in München entwickeltes Instrument zur „Erhebung spiritueller Bedürfnisse und Ressourcen“ vor.
14 Anemone Eglin u. a., Das Leben heiligen. Spirituelle Begleitung von Menschen mit Demenz. Ein Leitfaden, Zürich 2006, 14: „Spiritualität gibt es nie an sich, sondern immer nur in einer konkreten Gestalt.“
15 Vgl. dazu etwa Art 4 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, Absatz 1 und 2 (siehe auch Traugott Roser, Spiritual Care [2007], a.a.O., 245f).
16 So auf dieser Tagung von Helmut Weiß (Berlin) in seinen Ausführungen betont.
17 Dieser Begriff zum Thema der Seelsorge findet sich etwa bei Dietrich Rössler, Grundriß der Praktischen Theologie, 1. Aufl. Berlin/New York 1986,182.
18 So die Typisierung von Seelsorgebedarf bei Thomas Zippert, Indikationen für Seelsorge. Versuch einer Grundlegung zu ihren genuinen Themen in Auseinandersetzung mit der Psychotraumatologie, in: PTh 93 (2004), 312-332, hier 323-331. Über die von Zippert genannten kollektiven Notfälle hinaus lässt sich auch an andere Fälle denken, die den sozialen Zusammenhang erschüttern.
19 So Anemone Eglin u. a., Das Leben heiligen, a.a.O., 18, unter Bezugnahme auf das Identitätsmodell von Hilarion Petzold bezüglich spiritueller Begleitung.
20 Wenn hingegen die religiösen Gruppen klein sind, dann erschwert dies strukturell die Möglichkeiten, gemeinsame Angelegenheiten auszuarbeiten. Und wenn sich religiöse Gruppen als nicht kompatibel mit Spiritual Care erweisen (also etwa wegen fundamentalistischer Ziele), dann ist die Möglichkeit gemeinsamer Angelegenheiten nicht gegeben.
21 Diese Situation dürfte vorausgesetzt sein bei Anemone Eglin u. a., Das Leben heiligen, a.a.O.
22 Z. B. einen Imam oder eine ehrenamtliche Person, fortgebildet in muslimischer Seelsorge.
23 Vgl. Traugott Roser, Spiritual Care (2007), a.a.O., 238-244.
24 Nach Roser, ebd., 253, in Aufnahme von Madonna Marie Cunningham, Consultation, Collaboration and Referral, in: Robert J. Wicks/Richard D. Parsons/Donald Capps (Hg.), Clinical Handbook of Pastoral Counseling, Vol. 1, expanded, Mahwah N.J. 1993, 162-170.