Spiritualistische Bewegungen: eine globale Herausforderung für die Kirche
Eine bessere pastorale Betreuung trauernder Menschen ist ein elementarer Faktor im Umgang mit den wachsenden spiritualistischen Bewegungen in Europa. Diese Erkenntnis ist eines der Ergebnisse eines europäischen Studienseminares, das im Rahmen des theologischen Studienprogrammes des Lutherischen Weltbundes vom 16. bis 19. Oktober 2003 in Sväty Jur (Slowakei) stattfand. Ziel dieses Programmes mit dem Titel "Spiritualistische Bewegungen als globale Herausforderung für die Kirche" ist es, den lutherischen Kirchen in aller Welt Hilfestellungen angesichts des wachsenden Einflusses spiritualistischer Bewegungen auch innerhalb der Kirchen zu geben. Zu diesem Zweck kamen Delegierte lutherischer Kirchen aus 15 europäischen Ländern, darunter viele Experten für Weltanschauungsfragen und Spiritualismus, zusammen, um ihre Erfahrungen auszutauschen und Möglichkeiten des Umgangs mit den Problemen zu beraten.
Spiritualistische Praktiken sind nicht nur außerhalb der Kirchen verbreitet, sondern ebenso ein innerkirchliches Problem. "Viele Menschen, die mit spiritualistischen Bewegungen verbunden sind, fühlen sich ebenso als Christen. Die Kirchen stehen vor der Aufgabe, das Evangelium neu in eine nach-rationalistische Zeit zu übersetzen", so meine Beschreibung der Herausforderung vor dem Auditorium in Sväty Jur. "Mit dem Phänomen neuer Offenbarungen haben sich postchristliche Glaubenssysteme herausgebildet, deren Ziel die Erneuerung oder Überwindung des kirchlichen Christentums ist. Zum anderen findet sich in der Esoterik beim Phänomen des Channeling die Tendenz, die Religion bzw. das Religiöse zu technisieren. Die spirituelle Evolution wird so zur innerweltlichen Heilshoffnung", erklärte Dr. Matthias Pöhlmann von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin in seiner Analyse spiritistischer und spiritualistischer Bewegungen in Europa. Der Missionswissenschaftler Prof. Theo Sundermeier (Heidelberg) erläuterte die theologischen und pastoralen Herausforderungen des Spiritismus und warb dafür, das Modell der Konvivenz auch auf den Bereich spiritualistischer Bewegungen auszuweiten. Erst in der Begegnung werden die wirklichen Fragen der Menschen erkennbar, auf die auch eine kirchliche Antwort nötig ist. Sundermeier mahnte an, die Vielfalt des biblischen Glaubens nicht zu verarmen: "Der in der Bibel selbstverständliche Kontakt und Austausch mit der himmlischen Welt ist uns verloren gegangen." (Vgl. hierzu auch den ausführlichen Abdruck seines Vortrags in diesem Heft, 43ff.)
Ein Beispiel für den Versuch einer bewussten Inkulturation christlichen Glaubens in ein esoterisches Umfeld stellte Pfr. Ole Skjerbaek Madsen aus Dänemark vor. Ausgehend von der Frage "Welche Art von Kirche könnte eine Heimat für spirituelle Sucher sein?", organisiert er mit den "In the Master's Light Services" (IML) eine kirchliche Arbeit auf Esoterik-Messen u. ä. Dabei vertraut er stark darauf, dass christliche Gebete und Segenshandlungen von sich aus eine Wirkung entfalten, so dass dogmatische Lehrdiskussionen nicht am Anfang einer Begegnung mit spirituell suchenden Menschen stehen müssen.
Mit etlichen Verweisen auf Luther und die Bekenntnisschriften erläuterte der gastgebende Generalbischof der Slowakischen Kirche Augsburgischen Bekenntnisses, Dr. Johannes Filo (Bratislava), die Stellung von Geist und Geistern in der Bibel. Als Abschluss der wissenschaftlichen Analyse sprach Johan L. F. Gerding vom Parapsychologischen Institut der Universität Leiden (NL) über sog. Außergewöhnliche Menschliche Erfahrungen (EHE) als Gegenstand parapsychologischer Forschung. Es wurde deutlich, dass Millionen Menschen außergewöhnliche Erfahrungen haben, aber sich selten wagen, darüber zu sprechen. Dabei ist das einfache Gespräch oft viel hilfreicher als übliche psychotherapeutische oder medikamentöse Interventionen. Außersinnliche Wahrnehmungen und Psychokinese sind inzwischen durch parapsychologische Experimente in ihrer Existenz sehr plausibel geworden. Es gilt, solche Erfahrungen als Teil menschlicher Wirklichkeit zu akzeptieren, auch wenn ihre Genese nicht immer restlos erklärbar ist.
In den nachfolgenden Diskussionen und Gesprächsgruppen wurden vor allem die pastoralen Aufgaben deutlich, die sich aus der genannten Situation ergeben. Es ist unverzichtbar, im persönlichen Gespräch zu ermitteln, was die spiritualistischen Erfahrungen für diejenigen bedeuten, die sie haben. Dann werden die Leerstellen sichtbar, die kirchliche Arbeit und Verkündigung gelassen hat, und die nun von spiritualistischen Inhalten gefüllt wurden. In Lehre und Praxis der Kirche ist darum eine neue Aufmerksamkeit für oft zu wenig bedachte Elemente des Glaubens nötig, wie z.B. Auferstehung, christliche Hoffnung in individueller und allgemeiner Eschatologie, Engel, Geistesgaben etc. Auch gilt es, diese Einsichten mit Symbolen und Handlungen aus der christlichen Tradition erfahrbar werden zu lassen.
Die Erfahrungen aus dem Austausch der Experten sollen in einem europäischen Studiendokument zusammengefasst werden, dass den Kirchen zur Beratung vorgelegt wird. In allen Erdteilen sind ebensolche Seminare geplant, deren Ergebnisse dann 2005 in einem globalen Dokument "Spiritualistische Bewegungen als eine globale Herausforderung für die Kirche - Thesen und Leitlinien" zusammengefasst werden sollen, um den Kirchen als Hilfe und Leitfaden zu dienen.
Harald Lamprecht, Dresden