Heike Würpel

Spiritualität und Sexualität

Ein Kongressrückblick

War es eine Demonstration für neue kirchliche Offenheit – oder handelte es sich um einen handfesten Skandal? Vom 17. bis 18. Mai 2007 fand in den Gemeinderäumen der evangelischen Zwölf-Apostel-Kirche in Berlin-Schöneberg der Kongress „Spiritualität & Sexualität“ statt. Eingeladen hatte hierzu „Calumed e.V.“ mit Sitz im niedersächsischen Bispingen. Der Verein engagiert sich – so die Satzung – für die öffentliche Gesundheitspflege und Gesundheitsfürsorge. Er setzt sich aber auch für die „Förderung der Bildung und Fortbildung z. B. auf dem Gebiet der transpersonalen und humanistischen Psychologie sowie die Förderung des Gedankens des individuellen und sozialen Wachstums und Lernens“ ein. Ursprünglich sollte der Kongress im Tagungszentrum der Katholischen Akademie in Berlin-Mitte stattfinden, weshalb die EZW sich im Vorfeld genötigt sah, die katholischen Verantwortlichen auf die umstrittenen Referenten des geplanten Kongresses hinzuweisen. Es kam zur Absage. Doch Calumed sah sich nach einem anderen kirchlichen Veranstaltungsort um und wurde schnell fündig: Von der Gemeindeleitung der Zwölf-Apostel-Kirche erhielt der Verein die Zusage, den Kongress dort durchführen zu können – trotz des Protests des Berliner landeskirchlichen Beauftragten für Sekten- und Weltanschauungsfragen, Thomas Gandow, und der EZW. Auch die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz drängte die Gemeinde, dem Kongress die Überlassung kirchlicher Räume zu versagen – ohne Erfolg. Der in der Kirchengemeinde ehrenamtlich tätige Pfarrer Peter Weigle, der auch Vorstandsvorsitzender von „Calumed“ ist, begann seine – inzwischen im Internet veröffentlichte – Eröffnungsrede vor rund 240 Kongressteilnehmern mit den Worten: „Sie ahnen gar nicht, wie ich mich freue Sie hier zu sehen. Denn kirchlich-fundamentalistische Kreise haben über die Kirchenleitungen massiven Druck gemacht, diese Veranstaltung zu vereiteln. Ein Dank an die 12-Apostel-Gemeinde, dass sie sich hat in dieser Sache nicht beirren lassen und zu ihrem Wort steht.“ Für besondere Brisanz sorgte zudem die Tatsache, dass der Dekan der Theologischen Fakultät der Universität Basel und Professor für Systematische Theologie, Reinhold Bernhardt, zu den Referenten des umstrittenen Kongresses zählte. Bereits ein Jahr zuvor hatte er beim Calumed-Kongress „Spiritualität & Heilung“ in Berlin mitgewirkt. Vor kurzem ist im spirituellen Szenemagazin „connection-spirit – Das Magazin fürs Wesentliche“ (7-8/2008, 38-42) ein Kongressrückblick der Teilnehmerin und Tantra-Anbieterin Heike Würpel über die umstrittene Veranstaltung erschienen, den wir im Folgenden dokumentieren.


Der Calumed e. V. hatte zum vierten Mal geladen und circa 240 Interessierte, Freunde und Bekannte waren am 17. Mai 2007 in die Berliner 12-Apostel-Kirche geströmt. Der Kongress barg den explosiven Zündstoff bereits im Titel: Spiritualität und Sexualität? Das darf nicht sein – dementsprechend fielen auch die Reaktionen im Vorfeld aus.

Es hagelte Kritik von Seiten des Sektenbeauftragten der Evangelischen Kirche Berlin/Brandenburg und der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. Von Verführung war die Rede und Missbrauch einer kirchlichen Einrichtung für „Doktorspiele auf dem Altar“. Die Empörung und Angst reichte aus, um die Betreiber des „Tagungszentrums Katholische Akademie“ – dem ursprünglich geplanten Veranstaltungsort – zur Absage zu bewegen. Der Ausweichplatz, die Zwölf-Apostel-Kirchengemeinde, war allerdings schnell gefunden. Man kennt sich gegenseitig. Peter Weigle, Vorstandsvorsitzender von Calumed, nimmt hier einen Predigerauftrag wahr. Aber die Zwölf-Apostel-Gemeinde ist auch sonst unvoreingenommener. Vielleicht spielt die Lage zum nahen Berliner Straßenstrich dabei eine Rolle.

Trotzdem, die Mitglieder von Calumed waren bei der Veranstaltung spürbar nervös. Zumindest in der Nähe von Journalisten. Keinen Staub aufwirbeln und zweideutige Schlagzeilen vermeiden, war die Devise. Doch das lässt sich bei diesem Thema in unserem Land wohl nicht vermeiden. Es gab z. B. eine kurze, aber heftige Auseinandersetzung mit Kollegen von der Berliner Zeitung. Sie kamen auf der Suche nach Sensationsbildern und wurden lautstark vor die Tür gewiesen – samt ihrem zwischenzeitlich geknipsten Film. Auch Gruppierungen wie „fuckforforests“, die den Kongress als Podium nutzten, produzierten unbehagliche Mienen auf die Gesichter der Veranstalter. Die Teilnehmer jedoch nahmen die teilweise fast humoristischen Einlagen überwiegend dankbar auf als willkommene Pausenunterhaltung.

Sabine Lichtenfels jedoch, die Person, an der sich der ursprüngliche Protest hauptsächlich entzündet hatte, zeigte sich bei ihrem Vortrag eher seicht und unklar. Ihr Workshop am nächsten Tag fiel aufgrund kurzfristiger Absagen ganz aus. Ob das die Aufregung wert war? Doch der Reihe nach (ja, die gab es auch im vielfach geänderten Tagesablauf).

Prof. Dr. theol. Reinhold Bernhardt „Kann denn Liebe Sünde sein?“

Der promovierte Theologe, Dekan und seit 2001 Professor für Systematische Theologie/Dogmatik an der Universität in Basel war ein überraschender Redner in der Reihe der bekannten Tantriker oder Sexaufklärer. Seine Wortmeldung war im Grunde bereits nach einem einleitenden Satz am Ende angelangt: „Nein, Liebe kann niemals und unter keinen Umständen Sünde sein.“ Als Beweis, Erklärung und Entkräftung dieser Aussage nutzte er seinen Vortrag. Laut Bernhardt gilt Gott = Liebe. Die Sünde im theologischen Sinn bedeutet das Getrenntsein von Gott. Beide Begriffe – Liebe und Sünde – werden in keinem einzigen Bibelvers gleichzeitig genannt oder miteinander verwoben. Ein gutes Zeichen? Es kommt auf die Auslegung an. Im theologischen Sinn wird Liebe untrennbar mit Nächstenliebe verbunden. Demnach ist auch eine Abschottung zu bedürftigen Mitmenschen eine Sünde ebenso wie die Ausnutzung eines Anderen in einer Beziehung. Daraus erklärt sich vielleicht die kirchliche Auffassung, dass Liebe in egozentrischer Form problematisch ist.

Interessant war dann der geschichtliche Rückblick. Alle Religionen vereint die Idee von verschiedenen Wegen zu Gott. Auf der einen Seite der sinnesfeindliche, auf der anderen der sinnliche. Sinnesfeindlichkeit zielt auf die Entleerung, das Freiwerden von Anhaftung, Leidenschaft und Erregung und das Erreichen vollkommener Ruhe. Der sinnliche Weg geht über die Ekstase in die orgastische Selbstübersteigerung, so wie es die Tantriker und die Sufis praktizieren. Auch das Christentum kennt beide Wege. Im Alten Testament und sogar noch bei Luther ist eine gewisse Unbekümmertheit in Sachen Sexualität zu spüren. Beides jedoch bereits in einem klaren Rahmen – der Ehe. Woher kommt dann die Sexualfeindlichkeit der Kirche? Laut Prof. Bernhardt resultiert sie aus der Angst vor der Begierde. An drei Zitaten sollte das deutlicher werden. Paulus: „All diese Lust und Laster halten Menschen ab von Christus“. Platon: „Lust und Begierde schwächen die Seele“. Paulus: „Der Mensch soll sich nicht von Trieben beherrschen lassen.“ Richtig verheerend wirkte sich jedoch Augustinus mit seiner Lehre von der Erbsünde aus. Er lehrte, dass die Abwendung von Gott durch die Fortpflanzung übertragen würde so ähnlich wie eine Infektionskrankheit. Seitdem haftete der Fortpflanzung etwas Unreines, Verderbtes an. Interessanterweise war gerade jener Augustin in seinen jungen Jahren ein sexuell sehr ausschweifender Mensch. Seine eigene Abgrenzung von seinem früheren Leben macht uns noch heute in allen Bereichen schwer zu schaffen.

Leider blieb der Vortrag zu kurz, um brennende Fragen wirklich zu beantworten. Auch ein möglicher Zusammenhang zwischen kirchlichem Machtanspruch und sexueller Unterdrückung wurde nicht beleuchtet, obwohl Prof. Bernhardt mit seinen Veröffentlichungen zum Thema eigentlich der richtige Mann für eine Erklärung gewesen wäre.

Margot Anand

„Der Weg des Skydancing Tantra“

Die Kalifornierin und Begründerin des Skydancing-Tantra sprach auf Englisch mit teilweise deutscher Übersetzung. Sie bezog das Publikum durch eine Meditation direkt in ihren Vortrag ein und hatte auch viel Bild- und Filmmaterial mitgebracht. Leider scheiterte die Darbietung dieses Materials fast an den schlechten Lichtverhältnissen im Saal – das nahm dem Vortrag das Tüpfelchen vom i.

Skydancing Tantra nutzt die orgastische Energie zum Erreichung der Erleuchtung, zum Fühlen/Erleben von Gott. Und Gott, das ist jeder selbst. Der Weg im Skydancing Tantra führt dabei über den Atem, denn „man kann nicht gleichzeitig Atmen und Denken“. Tantra verfeinert die Schwingungen und vertieft die Verbindung mit anderen Menschen. Margot verfolgt nicht die Reihenfolge, die das Christentum normalerweise lehrt und die auch im Vortrag von Prof. Bernhardt durchschimmerte. An erster Stelle steht für sie immer die Heilung der eigenen Wunden. Erst dadurch würden auch andere geheilt. Anders herum funktioniere es nicht. Wie lassen sich die eigenen Wunden überhaupt erkennen? Durch die Angst, verletzt zu werden, durch einen gestressten Geist, durch Eifersucht und Abhängigkeiten in Beziehungen. All das sind Themen, die Skydancing-Tantra angeht und gemeinsam mit den Betroffenen zu lösen sucht. Etwas unklar für „Uneingeweihte“ blieb ihr Ansatz der Chakrenöffnung und des Steigens der Energie in das Kronenschakra. Eine Botschaft des Vortrags von Margot Anand jedoch war glasklar und unmissverständlich: „Ich kann nur wirklich frei sein, wenn ich mich selbst liebe. Und wenn ich mich wirklich selbst liebe, kann mich nichts von außen daran hindern oder gar davon abbringen.“

Sabine Lichtenfels

„Es wird auf Erden keinen Frieden geben solange in der Liebe Krieg ist“

Thema verfehlt – oder nur gestreift. Eigentlich war Sabine Lichtenfels Vortrag eine ungeordnete Hymne auf die Gemeinschaften im Verbund mit Freier Liebe. Nicht mehr und auch nicht weniger. Für Sabine Lichtenfels ist die Gemeinschaft die Lösung aller Probleme. Auch der sexuellen. „Wenn ich Wünsche auf meinen Partner projiziere, ist der andere immer überfordert. Dafür ist die Gemeinschaft da.“ Und die Gemeinschaft ist es auch, die ihrer Ansicht nach die perfekte Basis für das Konzept von Freier Liebe darstellt. „Zu zweit kann man sich manchmal die Wahrheit gar nicht mitteilen, weil man zu verletzt ist.“

„Warum gelten Gemeinschaften heute als gefährlich? Weil sie nicht regierbar sind. Sie sind kleine Keimzellen, die sich gegenseitig stärken und stützen. Sie sind unabhängig von Konsum und Geld.“ Und das kann selbstverständlich Ängste auslösen. Vielleicht auch Ängste von Seiten der Kirche?

Ihr Gemeinschaftsplädoyer zog erwartungsgemäß auch kritische Stimmen nach sich. „Nicht jeder Krieg ist ein Geschlechterkrieg, Gemeinschaften sind autorisierend und ideologisierend. Gemeinschaften stehen gegen die Individualisierung“ – so eine Frau aus dem Publikum. Durchaus berechtigte Einwände, die jedoch unbeantwortet blieben.

Die vielen tiefen Weisheiten, die der Vortrag trotzdem enthielt, blieben leider zusammenhangslos. Dennoch sollen einige hier genannt werden: „Ursache des Krieges ist die Angst. Angst vor Neuem. Aus dieser Angst wird die Verteidigung der eigenen Werte geboren. Es ist quasi eine Selbstverteidigung, und sie endet in Gewalt.“

„Freie Liebe bedeutet, im Vertrauen zu lernen, den eigenen Weg zu gehen.“

„Ein spiritueller Mensch ist jemand, der nicht urteilt, sondern Platz macht für das Wunder des Lebens.“

Podiumsdiskussion mit Frank Fiess und Maggie Tappert

Diese Diskussionsrunde war ein Highlight des Kongresses. Frank Fiess ist Tantralehrer, leitet das Institut für Lebenskunst und Tantra und veranstaltet Workshops mit dem Titel „Du bist der Mann deines Lebens“. Maggie Tappert, in der Schweiz lebende Amerikanerin, lehrt Frauen sich selbst als sexuelles Wesen zu zeigen: im sakralen Raum eines Tempels mit Männern als Tempeldienern.

Was müssen Frauen am meisten lernen?

Maggie: Sie müssen zu ihrer explosiven Kraft zurückfinden. Ihre Scham verlieren, frei lieben. Wir Frauen lernen Sexualität durch Beziehung. Das ist, als würden wir zur Uni gehen ohne die Grundschule gemacht zu haben. Wir brauchen eine M... mit Herz.

Und die Männer?

Frank: Zuerst mal: Den Mann gibt es nicht. Männer sind immer sehr individuell. Wir müssen Lust am eigenen Körper lernen. Lebendigkeit, Liebe erleben auch ohne Berührung. Wegkommen vom Orgas-Muss. Hin zum orgastisch Sein. Wir müssen lernen zu vergeben. Und wir müssen lernen, dass wir nichts von außen brauchen. Keinen Mami-Ersatz, niemanden, der uns „ranlässt“, niemanden, dem wir beweisen müssen, dass wir ihn nicht brauchen.

Maggie, worum geht es bei deiner Arbeit?

Maggie: Ich schaffe einen Platz für Frauen, den Tempel. Hier finden sie Männer als „heilige Huren“ im Tempeldienst vor. Männer, die nur für sie da sind und sich ganz in den Dienst der Frau stellen. Das ist wie ein Besuch in der Kirche, nur dass man auch f... kann. Das entscheidet jede Frau selbst. Das Ganze findet als Ritual statt mit einer Hohepriesterin. Alles geschieht in Stille und in diesem geschützten Rahmen. Oft gibt es Männer, die ganz begeistert sind von dieser Idee und gern als „Heilige Hure“ arbeiten möchten. Aber man braucht ein sehr offenes Herz und absolute Präsenz, denn die Entscheidungen kommen ausschließlich von der Frau. Der Mann ist nur das „ausführende Organ“.

Glaubt ihr, Sexualität kann die Welt heilen?

Frank: Ja. Menschen, die pulsieren, die innerlich frei sind, sind nicht für den Faschismus zu gebrauchen.

Maggie: Die Welt wird verändert, wenn ich mich selbst verändere. Wenn ich mich ganz mit meiner Kraft, meiner Energie verbinde, mache ich der Welt mein größtes Geschenk. Für mich bedeutet das, hier zu Hause Liebe auszutauschen und zu wirken – nicht weit weg in Afrika.

Dieter Jarzombek

„Sufi-Tantra“ oder „Sex mit Gott“

Statt eines theoretischen Vortrags nahm Dieter Jarzombek die Gelegenheit wahr, über seine persönlichen Erfahrungen zu sprechen, seine Zweifel und seinen Weg. Der führte über ein katholisches Jungeninternat und eine intensive Auseinandersetzung mit dem Sufismus bis hin zu den Tourneen mit Annie Sprinkle.

Erzogen im Internat, erlebte er bald eine erotische Annährung der Erzieher bis hin zu Liebesspielen. Probleme hatte er damit nicht. Warum auch. „Wie konnte ein Mann Gottes etwas tun, das nicht dem Willen des Schöpfers entsprach? – Ich genoss die zahlreichen Begegnungen. Ich habe bis heute keine Scham oder ein schlechtes Gewissen. Und ich habe keinerlei Vorurteil gegenüber Sex an heiligen Orten – auch auf dem Altar.“ Bis er Gespräche von Erwachsenen erlebte, in denen durchklang, dass etwas mit diesem Verhalten nicht in Ordnung war. „Das war der Moment, in dem Himmel und Hölle entstanden.“

„Für mich war die Welt Gottes die der Liebe und des Verzeihens und die Welt der Menschen die des Verurteilens und Verdammens.“ Nachdem er ausgerechnet dem Pfarrer gegenüber, der ihn verführt hatte, beichten musste, wandte er sich von der Kirche ab. „Sie kam mit Verdammnis, Ausgrenzung und Liebesentzug. Aber sie half mir nicht in meiner Not. Erst viel später begriff ich, dass Gott keiner Kirche angehört. Gott war nicht die Kirche. Er war zwar auch dort, aber er war kein Christ; genauso wenig wie er einer bestimmten Moschee verpflichtet ist; genauso wenig, wie er Moslem ist.“

Nach Jahren der intensiven Arbeit als Therapeut und Schwulenaktivist begegnete er einem Sufi-Meister. „Ich suche einen Lehrer“, sagte Dieter zu dem alten Mann. Die Antwort kam postwendend: „Interessant, es kommen viele Leute her, die einen Lehrer suchen. Bitte sag mir, wenn du ihn gefunden hast, dann weiß ich, wohin ich sie schicken soll.“ Dieter Jarzombek blieb. Und erfuhr von einer neuen Welt.

„Sufis sind Liebende“. Sie sind auf „dem Pfad“, so wie Christen sich als diejenigen, die „auf dem Weg“ sind, verstehen. Für Sufis ist Sexualität ein Weg, auf dem man dem Geliebten – Gott – nahe kommen kann. Sie erleben und erkennen die Schöpfung als Einheit. Sufismus ist keine Auffassung für passiv Gläubige. Sie umfasst alle Bereiche des Alltags und ist niemals losgelöst von körperlicher Liebe zu verstehen. „Auch im Paradies kommt es zur Vereinigung zweier Seelen. Eine Vereinigung, gegen die der irdische Orgasmus nur ein klitzekleiner Vorgeschmack ist.“ (Zitat eines Sufi-Meisters) Für Dieter Jarzombek gab es aus diesen Erfahrungen nur eine Schlussfolgerung: „Wenn alles von Gott kommt, kann unsere Sexualität nicht des Teufels sein.“

Ph.D. Annie Sprinkle und Ph.D. Elisabeth Stephens: „Liebe als Kunst“

Die Erwartung zog sich durch den ganzen Tag. Wann kommen Annie Sprinkle und Beth Stephens? Dann waren sie da. Trotz Flugverspätung, trotz fehlenden Gepäcks. Bunt, schrill, schräg, unkompliziert – die geborenen Entertainer auf dieser Bühne. Annie Sprinkle – Ex-Porno-Star und Sex-Aufklärerin mit Doktortitel, provokativ und unheimlich liebenswert. Dazu Beth Stephens, Ehefrau von Annie, Kunst-Professorin und Bildhauerin. Der Vortrag der beiden war ein persönlicher Rückblick und ein leidenschaftliches Plädoyer für die Erforschung der Liebe. Liebe in jeder möglichen Art, auch kitschig-rötlich, anrührend, aufrührend, offen und natürlich, was immer uns zur Liebe einfällt, ohne Tabus, ohne Grenzen. Sie selbst machen ihr ganzes Leben zu einem großen Kunstprojekt: die gemeinsame Hochzeit, die Gebärmutterhals-Begutachtung bei Annies Bühnenshow, aber auch Grenzthemen wie Annies Krebserkrankung und die nachfolgende Chemotherapie. Ihre Hochzeit ist ein spirituelles Kunst-Kultur-Event, das sie ursprünglich aus Protest gegen den Krieg in Afghanistan initiierten, nach dem Motto: „Hey, seht her, wir kreieren mehr Liebe statt mehr Hass, Blut und Töten.“ Seitdem feiern sie jedes Jahr Hochzeit – siebenmal insgesamt. Nach der Reihenfolge und der Farbe der Chakren.

Annies Chemotheraphie nahmen die beiden zum Anlass, um ein öffentliches „Liebes-Infusions-Zentrum“ zu eröffnen. Liebesinfusionen statt Chemikalien? Das Rezept könnte sich als Erfolgsrezept erweisen. Dazu dann die Modenschau: „Was trage ich zur Krebs-Operation?“ Fotos des Tumors veröffentlichten sie im Internet. Und ein Sex-Aufklärungs-Zentrum auf den Bürgersteigen, mitten in den quirligen Städten Amerikas sollte allen Interessierten ihre Fragen rund um die Liebe beantworten.

„Speziell seit George W. Bush ist Amerika prüde und sexfeindlich geworden. Wir wollen etwas dagegensetzen: Liebe, Freude und sexuelle Freiheit.“

Für Annie und Beth ist Liebe eine Form von Protest. Ihr Leben ist ein fröhlich-unbekümmertes „über die moralischen Grenzen treten“. Vielleicht ein wenig schräg, kitschig oder jedenfalls gewöhnungsbedürftig, dafür jedoch hundertprozentig engagiert, ehrlich, kreativ, voller Phantasie und, ja: liebenswert. Spätestens bei ihrem abschließenden Lied gegen das Kriegstreiben mit dem Tenor: „What the world needs now, is love, sweet love“, bei dem Annies aus dem engen Kleid befreite Brüste im Chor schunkelten, hatten sie Lacher, Nachdenkliche und Zweifler auf ihrer Seite.

Fazit

Der Kongress hat es geschafft, ein unglaublich breites Spektrum zu beleuchten. Für jeden war etwas dabei: Berührendes, nachdenklich Machendes, Lächerliches, Verrücktes, Beschämendes, Erstaunliches, vielleicht sogar Augen Öffnendes. Man erhielt Anregungen und Impulse. Man war quasi auf einem internen Tantra-Familien-Treffen und war dennoch offen und verständlich für neugierige Neulinge der Szene. Vielen Dank dafür – und bis zum nächsten Kongress ..


Heike Würpel, Königsfeld/Schwarzwald