Anne Richards

Spirituelle Suche in Zeiten von Corona

Eine britische Weltanschauungsbeauftragte berichtet

Mal angenommen: Man weiß überhaupt nichts über den christlichen Glauben oder irgendeine andere Weltreligion. Man hat noch nie einen Gottesdienst besucht, nie in der Bibel gelesen, nie gebetet. Man weiß nicht viel – wenn überhaupt etwas – über Jesus, hat nur ein paar vage Vorstellungen durch Film und Fernsehen. Und obwohl man seinen Weg durchs Leben bewältigt, beschäftigen einen noch immer Fragen nach dem Wert, Sinn und Ziel des eigenen Daseins. Und dann trifft einen im Jahr 2020 plötzlich eine Seuche – aus heiterem Himmel. Was macht man dann? Wohin wendet man sich? Wie ordnet man das alles ein?


Bis März 2020 bekam ich in meiner Funktion als Weltanschauungsbeauftragte der Kirche von England über die sozialen Medien täglich ungefähr drei Anfragen von spirituell Suchenden zu religiösen Fragen, oft im Zusammenhang mit etwas, was sie im Internet gelesen hatten. Aber die Zahl der Anfragen explodierte regelrecht, nachdem hier am 23. März 2020 der erste Lockdown verhängt worden war. Es kamen Tausende von Anfragen, fast alle über Facebook und Twitter. Einige stammten von Einzelpersonen, aber es gab auch Gruppen, die über einen einzelnen Account eine ganze Reihe von Fragen stellten, die ihre Familien interessierten; oder es waren Gruppen junger, Social-Media-affiner Menschen, die für sich selbst oder für andere fragten.


Wirklich interessant war allerdings, wie sich die Zuschriften mit der Zeit thematisch veränderten und welche Entwicklungen sich in der Art der Anfragen zeigte, außerdem die Dringlichkeit der durch die Pandemie ausgelösten spirituellen Suche. Daraus ergeben sich nicht nur interessante Erkenntnisse und Einblicke, sondern auch Fragen zur Reaktion der Kirche. Welche Ressourcen haben wir, um den Fragenden gerecht zu werden und ihnen Halt zu geben? Und wie formulieren wir das Evangelium so, dass es diese Menschen erreicht, die dringend Hoffnung, Halt und eine „gute Nachricht“ brauchen?

„Panikglaube“

Ganz zu Beginn der Pandemie 2020 kamen die Menschen mit Fragen, die von einer Art „Panikglauben“ als Reaktion auf eine existenzielle Krise zeugten. Irrationale Befürchtungen, Angst und Schock schienen tief verwurzelte atavistische Vorstellungen von einem rachsüchtigen, zornigen Gott wachzurufen, der den Menschen die Strafe für ihre Sünden auferlegt. Zum Beispiel:

„Das Virus stiehlt den Menschen ihre Seele und lässt nur eine leere Hülle zurück. Man ist in der Hölle. So wird die Welt für ihre Sünde bestraft.“

So ging es in den ersten, von Panikglauben geprägten Gesprächen um das Ende, um Prüfung, Strafe und Aussonderung. Gefragt wurde zum Beispiel: ob das Weltende gekommen sei; ob Jesus Christus oder irgendeine Art Gott jetzt wiederkomme; ob eine Entrückung bevorstehe, manche von der Erde weggenommen würden, andere getötet; ob es sich um den Sieg Satans, der Mächte des Bösen handle; ob Corona die Strafe Gottes dafür sei, dass wir der Erde Schaden zugefügt haben, die Strafe für unser sündiges Verhalten, die Gier des Kapitalismus oder dafür, dass wir uns von Gott abgewandt haben; ob es sich um einen Probelauf handle, in dem Gott uns prüfe oder ob die Menschen in gefügige Zombies verwandelt werden sollten, während ihre Seele woanders bestraft werde; ob Gott sich mithilfe des Virus aus einer Laune heraus unerwünschte Personen herausgreife.



In der ersten Phase der im „spirituellen Schock“ geführten Gespräche hatte man es mit bruchstückhaften Erinnerungen an Bibelstellen über Plagen und Rache zu tun, die sich mit Szenen aus Horrorfilmen mischten, und mit zwei mächtigen existenziellen Fragen: „Werde ich sterben?“ und „Habe ich das verdient?“ Solche Fragen entstanden aus der von Panik geprägten Überlegung heraus, wie wohl eine Macht beschaffen sein müsse, die ein Virus entfesseln kann, das das Leben, wie wir es gekannt haben, lahmlegt und uns zu Hause gefangen hält. Sicherlich ist entweder Gott oder der Satan diese Macht? Und wenn wir es wirklich mit einer solchen Macht zu tun haben, sind wir hilflos, können nichts gegen Zorn, Hass und das Böse tun. Oder doch? Menschen fingen an zu fragen, ob es wohl in der Kirche eine Macht gebe, die sich dem entgegenstellen könnte. Könnten religiöse Führungspersönlichkeiten etwas ausrichten, könnte der Erzbischof von Canterbury oder der Papst eingreifen oder Gott anflehen? Wäre irgendeine Art Versöhnung möglich? Könnten wir vielleicht ein Opfer bringen? Hat uns hier ein zorniger Gott bestraft oder ein gerechter? Hat sich die Erde selbst dafür gerächt, dass wir sie zerstören?

Vorbeugung und Heilung

Der Austausch über spirituelle Themen trat dann in eine neue Phase ein – auch als Reaktion auf das von Panikglauben bestimmte Narrativ. Nach „Werde ich sterben?“ und „Habe ich das verdient?“ folgte nun die Frage: „Kann ich etwas dagegen tun?“ Es gab unzählige Gespräche über geistlichen Schutz. Wieder spielten in einigen Fällen bruchstückhaft-falsche Erinnerungen an biblische Geschichten eine Rolle, zum Beispiel: „So nahm ich das Messer, schnitt mir damit in den Arm und schmierte das Blut ans Fenster. So würde ich verschont“ [nach 2. Mose 12,7.13].



Manche fingen an, im Internet zu recherchieren und sich über geistliche Schutzmöglichkeiten auszutauschen – um auf der Seite des Guten zu bleiben und das Böse abzuwehren:

  • vorbeugend: Amulette, Kristalle, Gegenstände wie Kreuze, Bibeln und Rosenkränze, schamanische Segnungen etc.,
  • ebenfalls vorbeugend: Glaube, Stärke der Führer, des Gesalbten Gottes,
  • Heilmittel: Miracle Mineral Supplement, kolloidales Silber, Quecksilber, Krötengift, Bleichmittel,
  • weitere Heilmittel: kleine Verletzungen (um größere zu verhindern), Aderlass,
  • Opfer (Was kann ich tun, um mich vor den apokalyptischen Mächten als wertvoll zu erweisen oder sie zu besänftigen?),
  • Donald Trump als Werkzeug Gottes, seine Hinweise auf Desinfektionsmittel, UV-Licht.

Der Mangel an Skepsis, der in diesen Gesprächen zutage trat, war besorgniserregend. Viele Menschen dachten nicht einen Moment vernünftig darüber nach, dass es keinerlei Beweise für die Wirksamkeit einer angebotenen Vorbeugungs- oder Heilungsmethode gab. Nur weil sie aus einer angeblich spirituell mächtigen Quelle stammte, würde sie schon helfen. Man wollte bei einer übernatürlichen Macht Schutz suchen und glaubte, sie werde durch einen Zaubertrunk oder bestimmte Gegenstände zugänglich. Oder man suchte den Schutz in einem starken Glauben, der eine übernatürliche Rüstung für den geistlichen Kampf mit dem dämonischen Virus bereitstellen könnte.



Es war interessant, dass Ratschläge wie Händewaschen und Zu-Hause-Bleiben einigen zwar vernünftig und umsetzbar erschienen, sie aber dennoch nach Mitteln und Wegen suchten, um einen spirituellen Schutzwall gegen die Krankheit zu errichten. Andere wiederum sahen nur in der spirituellen Suche einen Sinn – jeder andere Rat wurde als einseitig und zu wenig durchdacht empfunden. Viele Fragende hatten pseudowissenschaftliche Angebote in Anspruch genommen – ob dabei nun die Wirksamkeit durch eine wissenschaftliche „Autorität“ garantiert wurde, die Leute durch Diagramme und Datenmaterial von einem Mittel überzeugt werden sollten oder das Gedankengut in wissenschaftliche / medizinische Fachsprache verpackt war (v. a. ging es dabei um die Themen Stärkung des Immunsystems, Antikörper, T-Helfer-Zellen, UV-Strahlung oder Nanotechnologie). Dabei wurde auch noch eine Art von (wohlwollender oder bösartiger) Kraft ins Spiel gebracht, die auch wiederum übernatürlich sein konnte.



In dieser Phase war die Bearbeitung der Zuschriften besonders schwierig, weil man aufgrund der Menge der Anfragen versuchen musste zu beurteilen, bei welchen Menschen es am wahrscheinlichsten war, dass sie sich selbst schaden oder etwas Verhängnisvolles tun würden. So war z. B. eine Mutter entschlossen, ihrem Baby unverdünntes Bleichmittel ins Fläschchen zu tun – überzeugt, das reinige und desinfiziere die Lunge. Dies speiste sich aus einer Kombination von Donald Trumps Äußerungen bei einer Pressekonferenz im April 2020 und der Behauptung der Hersteller des Desinfektionsmittels, es wirke gegen Coronaviren.

Verschwörungstheorien

Als die Suche nach Sinn und die nach Schutz zusammenkamen, stiegen viele tief in die nächste Phase ein: Verschwörungstheorien. Diese waren oft verschärfte Varianten des Kontrollgedankens – ob es nun um Staaten ging, die anscheinend den Westen schädigen wollen, um multinationale Konzerne, um Milliardäre oder um esoterische Geheimgesellschaften und Sekten. Ein Beispiel ist der folgende Facebook-Post:

„Wenn man es auf den Punkt bringt, geht es bei diesem Virus um GELD und KONTROLLE, darum, die über 70-Jährigen (die Rentenbezieher) loszuwerden und die IMPFPFLICHT einzuführen. Mir graut, wenn ich an die Zukunft denke.“

Die Anfragenden wollten jetzt über Verschwörungstheorien diskutieren, z. B.: Das Virus sei in einem Labor in Wuhan hergestellt worden, es werde durch die neuen 5G-Mobilfunkmasten verbreitet,1  Bill Gates stecke dahinter oder das Virus existiere gar nicht. Behauptet wurde, es gehe um Kontrolle, die Beschaffung und Nutzung persönlicher Daten. Bei der Impfung würden mittels Nanotechnologie Stoffe in den Körper eingeschleust, durch die man jeden überwachen und kontrollieren könne. Die frühen Impfgegner propagierten die Behauptung, die Willensfreiheit werde manipuliert und zerstört, besonders lautstark. Sie taten sich mit Maskengegnern zusammen, von denen einige sagten, Gott wolle nicht, dass wir Masken tragen, weil dadurch der Austausch über Gottes Wort eingeschränkt oder verhindert werde. Es kam ein Meme auf, das darauf abhob, das Wort mask unterscheide sich nur in einem einzigen Buchstaben von mark (Zeichen). Und eine Maske zu tragen bedeute, das Zeichen des Tieres aus der Johannesoffenbarung zu tragen. Hier gehe es um eine Heilsfrage, und man sollte das Maskentragen ablehnen.



Solche Verschwörungstheorien kamen oft in religiöser Sprache und religiösem Tonfall daher. Die dahinterstehenden Fragen lauteten z. B.

  • Habe ich einen freien Willen?
  • Ist da eine Macht, die meine Freiheit einschränken und mich kontrollieren will?
  • Steckt hinter den Corona-Ratschlägen die Absicht, mich zu versklaven?
  • Sind unsichtbare Mächte am Werk, die mir unter Ausnutzung der Angst vor dem Tod ihren Willen aufzwingen wollen?
  • Werde ich sterben, wenn ich mich ihnen nicht unterwerfe?
  • Wie widerstehe ich bösen Mächten?

Diese Art von Fragen und Äußerungen machte es notwendig, Antworten zu formulieren, mit denen man den falschen und betrügerischen Informationen begegnen konnte. Das war aber schwierig, denn der – notwendige – Widerspruch erweckte den Verdacht, die Kirche sei Teil der ganzen Verschwörung. Nicht von der Hand zu weisen ist die folgende Bemerkung aus einem Zeitungskommentar: „Im Ernst – ein Traum wird wahr für absolut jede ‚hate group‘, jeden Schlangenölanbieter und alles dazwischen.“

Wer ist schuld?

Es war vielleicht unvermeidlich, dass es in der nächsten Phase des Austauschs um die Schuldfrage ging. Als Schuldige machte man vor allem solche aus, die nicht „wie wir“ sind – Menschen in fernen Ländern, Aliens, Freimaurer, die Illuminaten, Okkultisten, Geister. Die Sache wurde zusätzlich durch rechtsextreme Aktivisten verkompliziert, die Propaganda verbreiteten, in der es um die Säuberung von Unerwünschten ging – von Einwanderern, ethnischen Minderheiten und nicht mehr leistungsfähigen Älteren – in einem Prozess der Reinigung und Befreiung im Sinne der eigenen rassistischen Ansichten. Da hieß es dann, das Virus befreie von den Schwachen und Erfolglosen und lasse nur die starken, weißen Bevölkerungsgruppen übrig, um die Erde zu ererben. Solche Gruppen griffen Informationen darüber auf, dass bestimmte ethnische Minderheiten überdurchschnittlich vom Virus betroffen waren, und verdrehten sie zu Argumenten im Sinne ihrer Ideologie der Überlegenheit der Weißen.
Die Schuld wurde auch bei den Wissenschaftlern gesucht (denen man unterstellte, sie müssten wissen, wie man die Pandemie beendet, wollten das aber vielleicht gar nicht), bei Ärzten, Politikern, der WHO und anderen „Autoritäten“, von denen man glaubte, sie hätten die Macht zu bewirken, dass das Virus verschwindet, aber nicht den Willen dazu oder ein zu großes Eigeninteresse (z. B. am Impfstoff zu verdienen) und würden deshalb „normalen“ leidenden Menschen nicht helfen.

Herausforderungen

Für die Kirche, die der Verkündigung des Evangeliums und der Nachfolge Jesu verpflichtet ist, bedeuteten diese ersten Phasen der Beratungsarbeit erhebliche Herausforderungen. Es war unangenehm zu erleben, wie der christliche Glaube durch die Brille Außenstehender betrachtet wurde, die jene schwachen Spuren unseres Glaubens, die mit ihren eigenen Vorstellungen zusammenpassten, aufgriffen und verstärkten. Wie kommt es, dass religiöse Narrative bei Menschen so ankommen und zurückgespiegelt werden, als ob es vor allem um Bestrafung und Rache ginge? Wie haben wir zu einem Narrativ über Gott beigetragen, das besagt, das endgültige Schicksal Ungläubiger sei Leiden ohne Hoffnung? Eine Herausforderung bedeuten auch die Fragen in Bezug auf eine religiöse Macht, die den Willen Gottes steuern und die Strafe abwenden könnte. Haben wir dazu beigetragen, dass so gefragt wird – dadurch, wie wir uns darstellen, wie wir über unseren Glauben sprechen?

Wie betet man?

Mit dem Sommer 2020, nach dieser anfänglichen Phase, in der man versucht hatte, einen Sinn zu erkennen, und in der es einen Mischmasch aus religiösen Vorstellungen von Mächten, von Gut und Böse und moralischem Verhalten gegeben hatte, verwendeten die Menschen viel mehr Zeit darauf, Gedanken in Handlungen umzusetzen und über ihre Erfahrungen nachzudenken. Daraufhin geschahen alle möglichen interessanten Dinge. Vielleicht trug der Lockdown dazu bei: Das übliche Alltagsgeschäft fiel weg, in vielen Haushalten liefen ständig die Nachrichten, man war dauernd im Internet. Das führte zu verstärktem Grübeln und Sich-Sorgen, und man hatte das Bedürfnis, etwas zu tun – und nicht nur passiver Zuschauer zu sein. Das augenfälligste Ergebnis war eine Flut von Bitten um Hilfe beim Beten. Sie kamen auch von Leuten, die in ihrem Leben noch nie gebetet hatten, und sogar von überzeugten Atheisten. Zu diesem Zeitpunkt, im Sommer 2020, war schon eine Menge an Materialien und Vorschlägen für Gebete im Umlauf, aber die Menschen wollten wissen, wie man betet, wie Beten funktioniere und vor allem, ob man bestraft werde, wenn man es falsch macht – als ob man geschult werden müsse oder eine Art Gebetsführerschein brauche.


In meiner Arbeitsstelle, der „Mission Theology Advisory Group“ (MTAG) der Kirche von England, haben wir eine Art Leitfaden speziell für spirituell Suchende ausgearbeitet mit dem Thema „Wie betet man?“ Darin versichern wir, dass es keine bestimmte Art des Betens gibt, die allein richtig ist, und dass es nichts ausmacht, wenn man bestimmte Dinge nicht glaubt. Es kamen Fragen zu allen möglichen Dingen, die für Glaubende selbstverständlich sind: Warum sagt man „Amen“ und was bedeutet das? Muss ich den Kopf beugen und die Augen schließen, damit das Gebet wirkt? Wird mir etwas Schlimmes passieren, wenn ich es falsch mache? Kann ich einem anderen schaden, wenn ich für ihn bete, aber gar nicht wirklich an Gott glaube und nicht zur Kirche gehe? Wird das Gebet verstärkt, wenn ich einen Kristall oder einen bestimmten Text dabei verwende oder einen Altar zu Hause herrichte? Aus einem Zeitungsbericht:

„Die Corona-Pandemie hat einen 50-prozentigen Anstieg der Online-Suche nach dem Begriff ‚Gebet‘ ausgelöst, da die Menschen sich der Religion zuwenden, um mit Gefühlen der Angst und der Hoffnungslosigkeit fertigzuwerden.“

Die Menschen hatten das Gefühl, sie müssten etwas tun – und sei es nur, dass sie sich in irgendeiner Form ans Universum wandten. Ein Kollege, der ehemalige Theologieprofessor John Drane, der im Rahmen einer Ehrenamtsinitiative der schottischen Regierung „spiritual care“ anbot, wurde mit Anfragen überflutet. Viele, die sich an ihn wandten, sagten, sie wären nicht auf ihn zugekommen, wenn er das Angebot „church care“ genannt hätte. Und viele wollten wissen, wie sie beten können, oder baten darum, mit ihnen zu beten. Sie trauten sich aber nicht, sich an ihre Ortsgemeinde oder ihren Pfarrer bzw. ihre Pfarrerin zu wenden, z. T. aus Angst vor einer negativen Reaktion.


Interessant war auch die Resonanz auf die Gebetshilfe. Menschen, die den Leitfaden der MTAG verwendet hatten, kamen wieder auf uns zu und berichteten, sie hätten gebetet und eine Reaktion gespürt – ob es sich nun um das Gefühl handelte, gehört oder getröstet zu werden, eine Aufgabe zu haben, oder um eine bestimmte Antwort. Es ging dabei wohl nicht primär um Gebetserhörung, sondern mehr um das Gefühl, dass etwas Neues, Wichtiges Eingang in ihr Leben gefunden hatte und sie sich nun ermutigt fühlten, einen anderen Weg zu gehen und ihre spirituellen Sehnsüchte in andere Bahnen zu lenken.

Überleben

Der nächste Schwung von Zuschriften – im Herbst 2020 – beinhaltete dann erstmals Berichte über die Erkrankung selbst. Es waren Geschichten über Kampf, Tod, Trauer und Verlust, aber auch vom Überleben, vom Schuldgefühl der Überlebenden und von Traumata. Es gab Menschen, die ihre Genesung als eine Art Sieg betrachteten, manche auch als eine Art spirituelle Erleuchtung. Ein Beispiel:

„Ich biete mich an als einen Engel des Lichts, denn ich war im Himmel und bin zur Erde zurückgekehrt. Jetzt kenne ich die Wahrheit und sie wird euch Christen umhauen.“

Einige fingen an, sich für etwas Besonderes zu halten, weil sie überlebt hatten. Sie seien verschont worden, weil sie noch etwas tun müssten, irgendeine große Aufgabe auf sie warte. Andere sagten, sie seien wichtig, hätten besondere Gaben. Einige fragten sich, ob Gott sie auserwählt habe, um zu überleben. Nicht alle waren so zurückhaltend – manche rissen sich darum, eine Offenbarung, eine Botschaft weiterzugeben oder ein Bekenntnis abzulegen. Wiederum andere fragten allerdings, ob Gott wirklich so wahllos vorgehe – warum hatten sie selbst überlebt, andere aber nicht? Es gab Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht hatten, die sich schuldig fühlten, weil sie überlebt hatten, und die fragten, wo Gott in all dem sei.

Spirituelle Erfahrungen

Auch aus der Perspektive des medizinischen Personals gab es Berichte über ungewöhnliche spirituelle Erfahrungen. Ein Beispiel:

„Ich hatte den Totenschein schon ausgefüllt, und als ich noch so dasaß, sah ich eine Person im Zimmer. Ich wollte sie gerade fragen, warum sie hereingekommen sei, aber da war sie schon wieder verschwunden. Dann spürte ich, wie sich eine Hand auf meine legte, und hörte eine Stimme, die ‚danke‘ sagte. Ich dachte, der Patient sei wieder lebendig geworden! Später habe ich mich gefragt, ob das ein Geist war. Kann das sein?“

Die außergewöhnlichen Bedingungen bei der Pflege der Corona-Patienten (in aufwändiger Schutzkleidung), die Angst vor Ansteckung, die relativ lange Zeit, die man mit Sterbenden und Toten verbrachte, zu merken, wie schlimm es war, wenn Angehörige das Gefühl hatten, geliebte Menschen im Stich zu lassen, und die Aufgabe, Vermittler bei letzten Gesprächen zu sein – all das rief sehr intensive Erfahrungen hervor. Es gab Berichte über Engel, auch über den Todesengel, über das Gefühl, dass jemand da war, über tröstende Stimmen, Gerüche und Musik, die zu tiefgründigen existenziellen Fragen anregten – über den Sinn und das Ende des Lebens und ein Leben danach. Aber zugleich verursachten die Erlebnisse großen emotionalen Stress, es kam zu Reaktionen wie Wut, Trauer oder Gott anschreien. Dazu kamen Sorgen um Unerledigtes und das Loslassenmüssen. Krankenhausseelsorger und -seelsorgerinnen werden noch sehr lange mit diesen Dingen zu tun haben. Diejenigen allerdings, die sich über die sozialen Medien gemeldet haben, wenden sich wohl eher nicht an Geistliche oder haben sich, wenn sie doch mit einem ihnen bekannten Pfarrer oder einer Pfarrerin gesprochen haben, diesen nur teilweise geöffnet und die eher bizarren Erfahrungen für sich behalten.

Paranormale Erfahrungen

Familien, denen es verwehrt gewesen war, an der Seite ihrer sterbenden Angehörigen zu sein, berichteten vermehrt über paranormale Erfahrungen oder haben diese sogar bewusst gesucht, um herauszufinden, ob die geliebten Menschen sicher auf der anderen Seite angekommen waren. Ein Beispiel

„Bitte helfen Sie mir. Ich hatte einen Traum, in dem mein Vater im Sterben lag. Aber ich habe angerufen und es ging ihm gut. Aber jetzt höre ich Geräusche, ein Klopfen und ein Knacken. Ich glaube, dass etwas passieren wird. Ich glaube, dass er sterben könnte.“

Menschen, die zu Hause waren und nicht viel Abwechslung hatten, nahmen Geräusche und Dinge, die sie aus dem Augenwinkel sahen, eher wahr als sonst. Manche stellten Fragen in Bezug auf seltsame Stimmen oder auf Gesichter, die sie im Spiegel gesehen haben wollten. Manche fragten sich, ob sie wohl verrückt geworden seien oder übernatürliche Mächte durchzubrechen versuchten. In der Presse wurde berichtet, viele Menschen träumten intensiv und lebhaft, und die Träume hätten oft einen spirituellen Anteil. In den Anfragen an unsere Arbeitsstelle ging es manchmal darum herauszufinden, ob jemand eine Botschaft erhalten haben könnte, die er weiterverfolgen sollte. Woran wendet man sich, wenn man etwas über merkwürdige Erfahrungen herausfinden möchte? Viele haben zunächst im Internet recherchiert, ohne ein zufriedenstellendes Ergebnis. Aber dann fingen sie an, sich in Online-Foren umzusehen, und suchten nach einer Antwort aus christlicher Sicht.

Man kann davon ausgehen, dass noch sehr viele Geschichten herumschwirren, die mit den Erfahrungen rund um Krankheit, Tod und Lockdown zu tun haben. Wo schaffen wir Gelegenheiten, sie zu erzählen, und wo bieten wir Hilfe bei der Einordnung der Erfahrungen an?

Digitale Gottesdienste

In der nächsten Phase meldeten sich Menschen, die auf kirchliche Online-Angebote gestoßen waren. Viele von ihnen hatten nach Online-Gottesdiensten gesucht oder sie zufällig gefunden. Entweder waren das Video-Mitschnitte lokaler Gemeinden oder gestreamte Gottesdienste aus bekannten Kirchen. Diese Menschen nahmen in der Rolle des Zuschauers daran teil. Sie wollten den Gottesdienst nicht mitfeiern, sondern nur zusehen. Viele fanden großen Gefallen daran, denn sie bekamen dadurch eine Verbindung zu etwas Bedeutungsvollem, für das sie aber im realen Leben nicht offen wären – aus welchen Gründen auch immer. Aber viele dieser suchenden Menschen hatten Fragen zu dem, was sich da abspielte – digitale Gottesdienste richten sich in der Regel hauptsächlich an die eigene Gemeinde und sind weniger auf die Bedürfnisse der spirituell Suchenden zugeschnitten. Wir haben kaum Angebote für absolute Anfänger. Es wurde gefragt: „Was bedeuten diese Worte?“ „Warum wird dieses oder jenes getan oder gesagt?“ „Was hat es mit der Kleidung des Pfarrers oder der Pfarrerin auf sich?“ „Wozu dienen die verwendeten Gegenstände?“ „Was ist das für ein Buch?“ Einige fragten – wie auch wir es oft tun: „Wo ist Gott in all dem?“ Die Frage ist, wie wir es schaffen, zur Seite zu treten, um Menschen die Chance zu geben, Gott zu sehen, ihn anzubeten, sei es durch die Kunst, die Schönheit des Heiligen, durch eine bestimmte Art der Predigt, der Sprache, der Musik, des Schweigens oder durch die Heilige Schrift, sodass Gott die Herzen der Suchenden anrühren kann.

Kirche in Präsenz

Dies alles zeigte, dass nicht nur regelmäßige Kirchgänger, sondern auch Suchende es sehr bedauert haben, dass Kirche nicht in Präsenz stattfinden konnte. Uns wurde von der Erleichterung berichtet, die man empfunden habe, als sich die Kirchentüren wieder öffneten – nicht von regelmäßigen Gottesdienstbesuchern und auch nicht von denjenigen, die einmal im Jahr hingehen, sondern von Menschen, denen es einfach wichtig ist, dass jemand anderes eine Kerze anzündet oder ein Gebet spricht. So etwas bedeutet ihnen mehr, als wir uns bewusst machen. Spirituell Suchende vermissen die von anderen gesungenen Kirchenlieder und den Klang der Glocken. Die Beobachtung ist interessant, dass es Menschen, die der Kirche selbst nicht angehören, wirklich wichtig ist, dass andere in ihrer Nähe in die Kirche gehen und Gott anbeten.

Was lernen wir daraus?

Eine wichtige Frage war, ob Corona und die Erfahrungen beim Lockdown uns den Zugang zu Menschen ermöglichen könnten, die sich sonst niemals an die Kirche gewandt hätten. Würden diese Menschen weiterhin durch die sozialen Medien, in denen sie relativ anonym bleiben können, in Kontakt bleiben – oder einfach wieder abtauchen? Mit der Zeit – als viele geimpft waren und die Coronaregeln gelockert wurden – hat die Zahl der Anfragen in der Tat abgenommen. Im Moment gibt es in England keine Coronaregeln und -beschränkungen mehr, nur noch Empfehlungen, wie man sich bei einem positiven Testergebnis verhalten sollte. Die Regierung ist zu der Strategie „Mit dem Virus leben“ übergegangen. Gottesdienste finden wieder in Präsenz statt, wobei viele Gemeinden weiterhin auch die Möglichkeit der digitalen Teilnahme anbieten.

Können wir aus all den Zuschriften etwas lernen, oder werden die suchenden Menschen wieder verstummen, sobald sie ihrem normalen Alltaggeschäft nachgehen? Was können wir jetzt – dem Auftrag Gottes gemäß – tun, damit die Flamme nicht wieder erlischt, damit Menschen befähigt werden, ihre panischen Ängste hinter sich zu lassen, neue Hoffnung zu finden und zu erkennen, dass Gottes Reich schon mitten unter uns ist und sie daran teilhaben können?

Beobachtungen

Menschen brauchen Wahrheit. Zeiten der Angst und Verwirrung machen sie anfällig für Falschinformationen, Lügen, Verschwörungstheorien und Betrug. Aber letztlich bleiben sie gegenüber irgendjemandem offen, vielleicht gegenüber einer Gruppe oder Organisation, wo man die Wahrheit anbietet, wo man bereit ist zuzuhören, ohne gleich zu urteilen, und sich auf einen echten und einfühlsamen Dialog über diese Wahrheit einzulassen. Die meisten Menschen, sogar diejenigen, die schnell bereit sind, ihre Skepsis fahren zu lassen und die verrücktesten Dinge zu glauben, haben sich im tiefsten Innern einen Funken gesunden Menschenverstands bewahrt. Im Evangelium von Jesus Christus erscheint ihnen ein Sinn zu liegen, auch wenn sie nicht gewillt sind, sich darauf einzulassen. Sie wollen die Hoffnung, die den Herzen der Christen eingeschrieben ist, als Perspektive auch für sich und von dieser Hoffnungsflamme getröstet werden.



Menschen verstehen, was Nächstenliebe ist, besonders wenn sie sie empfangen. Obwohl Spannungen mit den Nachbarn sowie Belastungen und ernsthafte Probleme in vielen Familien im Lockdown zugenommen haben, sind die Menschen empfänglich für durch den Glauben motivierte Liebe, Zuwendung und Fürsorge. Viele Zuschriften sind eindringliche Bitten, wahrgenommen und nicht vergessen zu werden, mit den eigenen Sorgen, auch den banalsten, ernst genommen und nicht abgewimmelt zu werden.



Menschen haben Geschichten miteinander zu teilen. Aber die Geschichten sind nicht so verpackt, wie wir es gewöhnt sind und als angenehmen Austausch empfinden. Manche Menschen beschreiben auf seltsame, uns fremde Art und Weise, wie Gott in ihrem Leben vorkommt, und wir müssen sie ernst nehmen, dürfen keinesfalls darüber lachen, und wir dürfen ihre spirituellen Erlebnisse auch nicht um- oder gar neu schreiben oder als unwichtig abtun.



Menschen kommen zu uns, wenn sie woanders enttäuscht wurden – ob sie nun von pseudowissenschaftlichen Angeboten oder angeblichen Experten getäuscht und betrogen wurden oder es einfach leid sind, dass sie keine Antworten bekommen oder dass die Regierung chaotisch agiert und keine klare Vorstellung hat, wie es weitergehen soll. In der Missionstheologie sprechen wir in normalen Zeiten von „aufgeschobener Entscheidung“, wenn Menschen so lange mit dem von ihnen eingeschlagenen spirituellen Weg zufrieden sind, bis etwas passiert und ihr Lebensgebäude einstürzt. Die Pandemie hat hier wie ein Katalysator gewirkt. Menschen kehren zu uns zurück, um zu schauen, was wir anzubieten haben.



Menschen kommen zu uns, zur Kirche. Sie suchen Rat, Ermutigung, Solidarität oder wollen herausfinden, was geboten wird. Vielen Menschen ist es wichtig, dass es christliche Gottesdienste gibt. Viele haben die Annehmlichkeit digitaler Gottesdienste und anderer christlicher Online-Angebote genutzt. Einigen von ihnen reicht das allerdings aus. Es braucht mehr, um zu erreichen, dass sie über die Schwelle der Kirchentür treten – wenn es wirklich das ist, was wir wollen.

Anne Richards, 13.07.2022

Anmerkungen

Der Beitrag wurde von Ulrike Liebau aus dem Englischen übersetzt.

2 In England gab es in diesem Zusammenhang sogar Brandanschläge auf Mobilfunkmasten, vgl. z. B. www.bbc.com/news/uk-england-derbyshire-52790399 (Anm. der Red.).