Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche
Doris Wagner: Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche, Verlag Herder, Freiburg i. Br. 2019, 208 Seiten, 20,00 Euro.
Eingerahmt mit einem Vorwort von Klaus Mertes, der als erster öffentlichkeitswirksam die Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg bekannt machte, und einem Nachwort des in Bonn lehrenden Moraltheologen Jochen Sautermeister, deckt Doris Wagner (verheiratete Reisinger) Strukturen spirituellen Missbrauchs innerhalb der katholischen Kirche auf. Sie, die selbst als junge Ordensfrau spirituell und körperlich missbraucht wurde, geht der Frage nach, welche Hintergründe die vielfältigen Formen des Missbrauchs haben, wie sie identifiziert und unschädlich gemacht werden können. Ihre These: Die katholische Kirche kann sowohl ethisch als auch theologisch glaubwürdig sein, wenn sie dafür eintritt, spirituelle Autonomie zu fordern und zu fördern. Für Klaus Mertes bildet dieses Konzept nicht nur einen wichtigen Baustein, um eine theologische Auseinandersetzung über missbrauchsanfällige Theologumena zu führen, sondern zeigt darüber hinaus, wie leicht die Rede von Gott sich instrumentalisieren lässt. Vor diesem Hintergrund schärft auch Jochen Sautermeister ein, dass das christliche Leben in Fülle als Zielbestimmung christlicher Anthropologie gelingendes Menschsein und erfüllte Identität bedeutet. Gelingendes Christsein heißt gelingendes und authentisches Menschsein; diese Norm gilt als neuralgischer Punkt, an dem sich gegenwärtige Theologie und Spiritualität zu messen hat.
An der je eigenen Person vorbei kann Spiritualität zu einer schädlichen, ja sogar toxischen Mischung werden, die die Implosion des gesamten seelischen Lebens eines Menschen zur Folge haben kann. Doris Wagner vertritt, um solche Implosionen in den Blick zu bekommen, einen weiten Begriff von Spiritualität: Spiritualität ist für Wagner Sinnstiftung, es geht um Bedürfnisse und Fähigkeiten, die es einem Menschen ermöglichen, Erfahrungen des Lebens einen Sinn zuzusprechen. Als Fähigkeit wird Spiritualität zu einer Ressource, die zu verändern und neu anzupassen der Mensch lernen muss. Dabei gibt es für Wagner so viele Spiritualitäten, wie es Menschen gibt. Der spirituell autonome Mensch kann die spirituellen Ressourcen frei wählen und über sie verfügen, was ihn schließlich spirituell handlungsfähig macht. Diese Autonomie begründet sich einmal aus dem ethischen Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen und aus der theologischen Maxime, dass Glaube als freie Beziehung das Ganze der eigenen Person inkludiert. Im Suchprozess nach Gott „spielt meine Persönlichkeit eine wichtige Rolle. Ohne sie oder an ihr vorbei werde ich Gott nicht finden“ (61). Überall dort, wo gegen dieses fundamentale Freiheitsverhältnis als notwendige Voraussetzung für die gelingende Liebesbeziehung zwischen Gott und Mensch verstoßen wird, besteht die Gefahr einer missbräuchlichen oder gewalttätigen Beziehung.
Anhand von anonymisierten Fallgeschichten macht die Autorin nachvollziehbar sichtbar, wie es Menschen in katholischen Einrichtungen ergangen ist, die entweder spirituell vernachlässigt, manipuliert oder missbraucht wurden. Wer zum Beispiel jahrelang undifferenziert beigebracht bekommt, dass das Liebesgebot ausnahmslos allen Menschen gelte, der wird in einen inneren Konflikt geraten, wenn er sich von einem Menschen abwenden möchte, der ihm in irgendeiner Form schadet. (Das richtig verstandene Liebesgebot unterscheidet zwischen dem Verhalten und der Person; missbräuchliches Verhalten ist mithilfe des Liebesgebots niemals zu rechtfertigen.) Die religiöse Gewaltausübung ist immer dann total, wenn vollkommene Kontrolle über einen Menschen erreicht wird. Der missbrauchte Mensch wird kontrolliert, isoliert, überwacht und in seinem Tun vollkommen fremdbestimmt.
Solche Formen spirituell gerechtfertigter Gewaltbeziehungen können nach Doris Wagner nur durch radikale Dekonstruktion der angewandten Spiritualität erreicht werden; mithilfe eines zurückhaltenden und zugewandten Auftretens können alternative Spiritualitäten erschlossen, gesunde und tragfähige Beziehungen geknüpft werden. Schutz vor spirituellem Missbrauch sind: ein radikales Infragestellen von Konzepten absoluter Wahrheit, das Nicht-Hineinregieren der kirchlichen Amtsträger in das Seelenleben der Gläubigen, Good Governance auf allen Ebenen der kirchlichen Leitung und das radikale Anerkennen der Pluralität katholischer Spiritualitäten.
Doris Wagner zeigt eindringlich auf, wie gefährlich bestimmte theologische Konzepte die freie Entfaltungsmöglichkeit eines Menschen einschränken können und wie sehr sie dazu geeignet sind, Machtmissbrauch zu fördern. Hier gilt es, unbedingt weiterzudenken und über toxische Theologien zu sprechen. Dass dafür allerdings das Konzept einer absoluten Wahrheit (auch kirchlicherseits) aufgegeben werden muss, wie Doris Wagner es fordert, könnte durchaus kritisiert werden. Denn es stellt sich die Frage, ob die christliche Behauptung eines objektiven Sinns (Erschließung Gottes durch Jesus Christus als Liebe) nicht einhergehen kann mit einer maximalen Offenheit für alle Spiritualitätskonzepte, die in der Lage sind, den Menschen in seiner Personalität radikal ernst zu nehmen und ihm vor diesem Hintergrund das Evangelium von der Freiheit durch Liebe behutsam und sensibel anzubieten. „In allen Bereichen muss die Erziehung zum christlichen Glauben untrennbar mit der Erziehung zur Freiheit verbunden sein“ (Proposer la foi dans la sociéte actuelle, 1996, 24).
Johannes Lorenz, Frankfurt a. M.