Stichwort: Koranexegese, reformorientiert
Im Kontext einer in der Moderne zunehmenden Funktionalisierung, Regulierung und Verzweckung von Religion erweist sich die Auslegung heiliger Schriften als eine zentrale Form des reflektierten Ringens um das, was Menschen als das spezifische, über sozialethische Nützlichkeiten und psychologische Erbaulichkeiten hinausgehende Versprechen, als das „Mehr“ der Religion erachten. Dieses „Mehr“ sieht sich in der Moderne zugleich zu Anpassungsleistungen herausgefordert, die es hermeneutisch zu reflektieren und kritisch einzuordnen gilt. Die zeitgenössische Koranexegese, die es hier in einem ersten Aufschlag (weitere Stichworte zur Koranexegese in der Tradition, der Schia und zu neueren Ansätzen folgen) in ihren Grundzügen darzustellen gilt, steht dabei, mehr noch als die christliche Bibelexegese, vor besonderen Herausforderungen und damit zugleich in einem stetigen Wandlungsprozess. Zur Reflexion der Potenziale und Grenzen reformorientierter Koranexegese seien im Folgenden einschlägige Ansätze des 20. und 21. Jahrhunderts vorgestellt.
Reform – Der „Kern“ des Koran und universale „Übereinstimmungen“
Im Gegenüber zu einer im christlichen Bereich mittlerweile geläufigen kritischen, das heißt differenzierenden Bibellektüre zeigt sich die muslimische Rezeption des Koran bis heute vornehmlich durch einen liturgischen Zugang bestimmt. Im hohen Kantilenen-Ton vorgetragen (nicht vorgelesen) befördert die „Rezitation“ (qurʾān) des Koran eine mehr feierlich-devotionale als reflektiv-rationale Wahrnehmung des göttlichen Wortes: Dieses „erzählt“ nicht nur von der Begegnung Gottes mit der Menschheit, sondern ist Gottes Begegnung mit der Menschheit selbst. In der Rezitation des Koran, der sich selbstreferenziell als „direkte Herabsendung“ (tanzīl) und zugleich als ent- und unterscheidendes „Kriterium“ (furqān, Q 3,4; par. 25,1) aller Offenbarungswahrheit präsentiert, steigt die Šekhinā („Präsenz“) Gottes in die Herzen der Gläubigen herab (Q 48,4).
Dieses klassische Verständnis des Koran als unvergleichliches und unnachahmliches Gotteswort ist im 19. Jahrhundert nicht allein durch die religionsgeschichtliche Forschung und deren Rede von der Epigonalität des als „Plagiat der Bibel“ gelesenen Koran tiefgreifend herausgefordert worden. Es ist der ebenso tiefgreifende hegemoniale Einfluss des (nichtmuslimischen) Westens auf die islamische Welt, der von muslimischer Seite aus neuer Antworten bedurfte. Dabei galt es, im Gegenüber zu dem auch durch den sogenannten „Orientalismus“ (Said 1978) beförderten Bild einer seit dem 10. Jahrhundert andauernden Rückschrittlichkeit der islamischen Zivilisation, den Erweis der Kompatibilität der koranischen Weltanschauung mit den Errungenschaften der Moderne zu erbringen. Die Reaktion muslimischer Gelehrter bestand im Wesentlichen darin, die Denktradition des Islam und mit ihr die koranische Verkündigung auf ihren eigentlichen „Kern“bzw. ihre grundlegende „Intention“(maqṣad) zurückzuführen, um so sowohl den Islam als auch den Koran von allem rechtlich-normativen und kulturellen Beiwerk zu befreien. Durch die Rückwendung auf den nach seinem wahren Geist erfassten Koran und auf die echte Tradition der Sunna sollte die blinde Anlehnung an die traditionelle, in kasuistischer Nachahmung (taqlīd) befangenen Interpretation der islamischen Jurisprudenz (fiqh) überwunden und dadurch der Islam neu belebt werden.
Diese bereits von Ǧamāl ad-Dīn al-Afghānī (1838 – 1897) herausgestellte Notwendigkeit der Rückkehr zu den Quellen (ad fontes) veranlasst den zentralen Vertreter der muslimischen Reform, den Großmufti der Kairoer Al-Azhar-Universität Muḥammad ʿAbdūh (1845 – 1905), dazu, die eigene reformerische Relektüre des Koran explizit mit der Reformation als einer „Gruppierung“ (ṭāʾifa), die auf „die Reform der Religion und die Rückkehr zu ihrer ursprünglichen Einfachheit“ (ʿAbdūh 2001, 238) zielte, in Beziehung zu setzen. Die Bezugnahme auf die Reformation spiegelt die komplexen Verflechtungen einer sich Ende des 19. Jahrhunderts abzeichnenden globalen Religionsgeschichte wider: Religiöse Formationen wie das Christentum, der Islam oder die indischen Traditionen entdecken sich nun als „Religionen“. Und sie sehen sich zugleich – insbesondere in Reaktion auf ihre Infragestellung durch die Naturwissenschaften – dazu veranlasst, die Universalität und Zukunftsfähigkeit ihres eigenen Welt- und Menschenbildes völlig neu zu begründen.
In Anknüpfung an den indischen Reformer Sayyid Aḥmad Khān (1817 – 1898), der bereits in den 1880er Jahren die volle Übereinstimmung des Islam mit der Natur – „Islam ist Natur und Natur ist Islam“ (Khan 1884/1978, 317) – und des Koran mit Gottes „Werk“ (der Natur) erklärt hatte, fordert ʿAbdūh in den 1890er Jahren einen entschieden praktischen Zugang zur ursprünglichen, wesentlich am Menschen orientierten Botschaft des Koran. Dabei stellt er, nochmals deutlicher als Khān, die Rationalität nicht nur des Islam als Religion, sondern der koranischen Botschaft selbst heraus. In seinem Korankommentar „tafsīr al-manār“ erklärt ʿAbdūh den Koran – an der klassischen Lehre von dessen Unnachahmlichkeit (iʿǧāz) hält er fest – in einer ganz praktischen Weise: Entscheidend ist das didaktische Ziel einer Passage, nicht der Wortlaut. Im Vordergrund der Verkündigung stehe das Ziel des „öffentlichen Interesses“ bzw. des „allgemeinen Nutzens“ (maṣlaḥa). Stilbildend wird dabei der (zur Autorisierung dieser Repräsentation des Islam notwendige) legitimatorische Rückbezug auf den mittelalterlichen Rechtsgelehrten aš-Šāṭibī (gest. 1388). Dieser hat in seinem epochemachenden rechtstheoretischen Werk „al-muwāfaqāt“ („Die Übereinstimmungen“) die mit der „originalen“ Intention des koranischen Diskurses kongruierenden „Intentionen des Rechts“ (maqāṣid aš-šarīʿa) zur höchsten Instanz der islamischen Normen erhoben. Beschränkte sich der Koran in der mekkanischen Periode primär auf die Darlegung von „Universalien“ (kulliyāt), besteht die Funktion der in der medinensischen Periode offenbarten Rechtsbestimmungen (aḥkām) allein darin, die aus den mekkanischen Suren abgeleiteten allgemeinen, rational einsehbaren „Notwendigkeiten“ (ḍarūrīyāt) in kontextuelle Normen zu übersetzen.
Kontext – Situative Normen und übergeschichtliche Prinzipien
Im selben Moment, in dem sich ʿAbdūh anschickt, den universalen Kern der Religion des Islam zu entdecken, macht die neu entstehende historisch-philologische (Religions-)Wissenschaft mit der bereits in der Reformation implizit angelegten und im Zeitalter der Aufklärung radikalisierten Kritik an den „Heiligen Schriften“ Ernst: Von kirchlichen Vorgaben losgelöst und darin die moderne Bibelexegese präfigurierend, fragt die religionsgeschichtliche Schule nach der ursprünglichen Mitteilungs- und Wirkabsicht der neutestamentlichen Autoren und macht dabei, weil jede kulturelle Produktion ihren Kontext und ihre Vorgeschichte hat, das Verständnis ihres zeitgeschichtlichen Kontextes zur unabdingbaren Voraussetzung. Mitte des 20. Jahrhunderts etabliert sich dann die historisch-kritische Methode: Sie operationalisiert den prinzipiellen methodischen Zweifel gegenüber aller geschichtlichen Überlieferung (Kritik), schließt zur Annäherung an den Kontext zumindest heuristisch alle übernatürlichen Faktoren aus (Analogie) und vergegenwärtigt die Einbettung der Heiligen Schrift in den von Ursache und Wirkung bestimmten Kontext der allgemeinen politischen, sozialen und geistigen Geschichte der (Spät-)Antike (Korrelation).
In konstruktiv-kritischer Anknüpfung an die der historischen Wissenschaft verpflichtete westliche Bibelexegese beginnen in den 1960er Jahren die insbesondere im europäischen und nordamerikanischen Raum agierenden muslimischen Exegeten damit, die Verse des Koran in ihrem geschichtlichen Kontext wahrzunehmen und hinter deren historisch-situativen Normen die übergeschichtlichen Prinzipien zu eruieren. In Anknüpfung an Aš-Šātibīs intentionalistische Rechtstheorie und an eine primär wertorientierte Kulturtheorie etabliert der pakistanische Gelehrte Fazlur Rahman (gest. 1982) in den 1960er und 1970er Jahren den über Jahrzehnte hinweg stilbildenden state of the art moderner Koranauslegung (Rahman 1966, 1982): Ausgehend von einer grundlegenden Unterscheidung zwischen dem rechtlich relevanten „fundamental Islamischen“ und dem rechtlich irrelevanten „rein Historischen“ (purely historical) sucht er mit seiner hermeneutischen „Doppelbewegung“ (double movement, Rahman 1982, 250f) in einem ersten, „historisch-kritischen“ Schritt ethische Prinzipien aus dem Text zu abstrahieren und diese in einem zweiten, „systematisch-theologischen“ Schritt in die Gegenwart zu übertragen. De facto ist das double movement ein interpretatorischer Dreischritt, der zunächst a) die der historischen Situation entsprechende Bedeutung eines Begriffs eruiert, b) diese dann generalisiert und schließlich c) an den gegenwärtigen sozio-historischen Kontext anzupassen sucht. Dabei steht das im zweiten und dritten Schritt bewerkstelligte Auffinden universaler ethischer Prinzipien und deren Rückübersetzung in die Gegenwart in der Gefahr, moderne Annahmen anachronistisch in den Koran hineinzuprojizieren und damit die Exegese zur Eisegese („Hineinlesen“) werden zu lassen.
Diese ethisierend-intentionalistische Hermeneutik Rahmans ist von muslimischen Gelehrten, unterstützt auch durch dessen ausgiebige Reise- und Vortragstätigkeit, dankbar rezipiert und weiterentwickelt worden. So fordert der im australischen Melbourne tätige und weltweit rezipierte Islamgelehrte Abdullah Saeed (geb. 1960) in seinem contextualist approach ebenso wie Rahman die Anpassung der Rechtsprechung an die zeitlichen und kontextuellen Umstände der Moderne, spricht zugleich aber von „fundamentalen Prinzipien“, die in ihrem Kern keine Neuinterpretation erfahren (dürfen): „Wenn die Umstände es erfordern, können praktische Richtlinien auch anders umgesetzt werden, solange dabei die Grundlagen des Islam gewahrt bleiben“ (Saeed 2006, 90f).
Kommunikation – Die dialogische parole eines dynamischen Diskurses
Im Zuge der sogenannten „linguistischen Wende“ (linguistic turn) und der damit einhergehenden zunehmenden Ablösung der historischen Wissenschaft als Leitdisziplin wurde die ehemals gleichsam einen Alleinvertretungsanspruch in der Exegese beanspruchende historisch-kritische Methode um sprach-, literatur- und sozialwissenschaftliche Ansätze erweitert. Zudem führte ein wachsendes exegetisches Problembewusstsein im Gegenüber zum ehemals dominanten Paradigma der historischen Rückfrage zu einer zunehmenden Rezeption literaturtheoretischer Modelle. Diese weisen nunmehr dem Leser selbst eine zentrale Rolle für die Konstitution der Bedeutung eines Textes zu: „Texte als solche schweigen; sie werden gesellschaftlich relevant durch ihr Aussprechen in Form von Rezitation, Lesen, Verweis und Auslegung“ (Lambeck 1990, 23).
Im Bestreben, über Rahmans auktorialen Zugriff auf die Semantik des Koran hinauszugehen, suchen muslimische Exegeten seit den 1990er Jahren das Dilemma „Philologie gegen Erbauung“ auf einem anderen Weg zu lösen: Sie interpretieren – als ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer kritischen Exegese – den Koran als literarischen Text(naṣṣadabī). Als der wohl bekannteste Vertreter der linguistischen Exegese gilt der ägyptische Literaturwissenschaftler Naṣr Ḥāmid Abū Zayd (1943 – 2010). Ausgehend von Toshihiko Izutsus wegweisender Studie zur „Offenbarung als ein linguistisches Konzept“ („Revelation as a linguistic Concept in Islam“, 1962) systematisiert Abū Zayd das in der muslimischen Hermeneutik der 1970er und 1980er Jahre gewachsene Bewusstsein für die performative Dynamik der koranischen Verkündigung in einem genuin literatur- und kommunikationswissenschaftlichen Zugang, der nun einen von Ewigkeit her vorhandenen göttlichen Urtext explizit ablehnt. Auf einem in der muslimischen Hermeneutik zuvor selten erreichten Reflexionsniveau setzt sich Abū Zayd nicht nur mit der Kontextualität und Diversität der parole („Rede“) einer jeden lebendigen Sprache (langue) auseinander, sondern auch mit der explizit dialogischen Relation des interpretierenden Selbst zum interpretierten Text. So resultiert die „Polyphonie“ des Koran aus der Aneignung früherer Diskurse, die in eine dynamische Struktur kontextueller Dialogizität inkorporiert werden und so den Koran zu einem wahrhaft „dialogischen Phänomen“ (Abū Zayd 2004a, 11) werden lassen, kurz: zum
„Ergebnis von Dialog, Diskussion, Erweiterung, Annahme und Ablehnung … Eine humanistische Hermeneutik des Koran muss das lebendige Phänomen [der Offenbarung] ernstnehmen und damit aufhören, den Koran auf einen Text zu reduzieren.“
Das in Abū Zayds Arbeiten häufig begegnende Schlagwort einer „humanistischen Hermeneutik“ lässt sich als deutliches Indiz dafür lesen, dass sich die Programmatik seines Ansatzes nicht allein auf eine literaturwissenschaftliche Perspektive beschränkt. Sie sieht sich im selben Moment zutiefst systematisch-theologischen, insbesondere ʿAbdūhs evolutionistische Geschichtstheorie aufnehmenden Prämissen verpflichtet. Die sich in einem evolutionären Prozess abzeichnende Subjektwerdung des Menschen begründet Abū Zayd, ganz ähnlich wie ʿAbdūh, koranexegetisch mit der Adam zugesprochenen Kenntnis aller Namen. Er liest diese allerdings, darin zugleich über ʿAbdūh hinausgehend, nicht mehr nur als Symbol menschlicher Vernunft, sondern als Erweis einer den Menschen „von jeglicher Form der religiösen oder nichtreligiösen Bevormundung befreien[den] … Mündigkeit“ (Abū Zayd 2004b, 66).
Rezeption – Interaktion und humanistische Konstruktionen
Die in der modernen Schrifthermeneutik erhebliche Delegitimation der bei Rahman und Saeed noch positivistisch vorausgesetzten Korrespondenz von linguistischem Zeichen und real gedachtem Inhalt als unmittelbare Quelle für die Setzung von Bedeutung führte insbesondere im amerikanischen und europäischen Bereich zu einer verstärkten Adaption rezeptionshermeneutischer Ansätze. Khaled Abou El Fadl (UCLA School of Law, Kalifornien) zufolge wird die Bedeutung des religiösen Textes „nicht einfach durch die wörtliche Bedeutung seiner Worte festgelegt, sondern hängt auch von der moralischen Konstruktion ab, dem ihm seine Leser beifügen“ (El Fadl 2002, 15). Ebrahim Moosa (University of Notre Dame, Indiana) plädiert dafür, zur Vermeidung eines jeglichen Textfundamentalismus „die kritische Reaktion der Leser – als Teil eines ‚Prozesses der Offenbarung‘“ – ernst zu nehmen. Die interaktive Auseinandersetzung mit dem Text lasse die „Zielperson[en] der Offenbarung“ entdecken, dass sie selbst es sind, welche „die Normen im Gespräch mit dem Offenbarungstext ‚machen‘“ (Moosa 2003, 125). Dem in Münster lehrenden Islamgelehrten Mouhanad Khorchide zufolge vermittelt der Koran „keine objektiven Einsichten, die unabhängig vom Leser / Hörer existieren“, sondern entwickelt seine Botschaft „in ständiger Interaktionmit dem Leser“ (Khorchide 2019, 102):
„Verstanden als Angebot, sich seinem Inneren zuzuwenden, sich selbst zu läutern und sich einer spirituellen Erfahrung zu öffnen, [vermittelt der Koran] den Menschen keine Gesetze und hat daher keine Machtansprüche, sondern … eine Grundlage für die Ableitung ethischer Prinzipien“ (Khorchide 2015, 17).
Weil das Historische aufgrund des Orts- und Zeitbezugs ohnehin nicht von zeitübergreifender Relevanz sein kann, kann es ohne Verlust für die „ethische Substanz“ der Verkündigung gestrichen – und mit ihm auch alles als problematisch Erachtete (koranische Strafbestimmungen, Regelungen der Kriegsführung usw.) einer höheren Botschaft (Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe usw.) als dem eigentlichen „Kern“ der koranischen Verkündigung unterstellt werden.
Intention – Der „Fingerzeig“ emanzipatorischer Sprechakte
In dem sich insbesondere in „humanistischen“ Lesarten widerspiegelnden Bestreben, die ursprüngliche „humanistische Intention“ des Koran auf neue Lebenskontexte zu übertragen, sieht Ömer Özsoy (Goethe-Universität, Frankfurt) den Grund dafür, dass sich die Gegenwart als die „wohl chaotischste Epoche“ der Koranexegese darstellt (Özsoy 2021). Die von Muslimen schmerzlich empfundene „Unstimmigkeit zwischen der Welt des Koran und der aktuellen Realität“ führt in der Verhältnisbestimmung von Offenbarung und Geschichte zu höchst unterschiedlichen Reaktionen: Die „Integristen“ plädieren, ausgehend von der Übergeschichtlichkeit des koranischen Wortlauts, für eine buchstäbliche Anwendung koranischer Bestimmungen. Die „Modernisten“ hingegen erklären eben dieselben Bestimmungen als autoritativen Bezugspunkt in weltlichen Angelegenheiten für irrelevant. Der Reformislam wiederum möchte den Koran in der Moderne zum Sprechen bringen bzw. ihn „den aktuellen Bedürfnissen entsprechend“ interpretieren, geht dabei aber oft eklektisch vor und projiziert in den alten Korantext „neue …, ihm substantiell fremde Sinnzuschreibungen“ hinein. Das Ergebnis sind „neue Korane, die in jedem Rezeptionsaugenblick neu hergestellt werden“ (ebd.).
Özsoy selbst deutet den von Muhammad verkündeten Koran als situativ-geschichtlichen und dialogischen „Sprechakt“, der – anstatt normative Vorgaben zu machen – „wie ein Fingerzeig in eine bestimmte Richtung zeigt“, sodass es „falsch [wäre], auf den Finger zu starren“ (Özsoy 2016, 61). Insofern in Özsoys Zugang zum Koran dessen Adressatenorientierung, dessen vielstimmige Rede und die damit einhergehende Transformation biblischer Sprachformen durchaus einen eigenständigen Wert annehmen, treten hier die sprachlich-literarische Analyse und die historisch-rekonstruktive Forschung, zumindest im Ansatz, in ein produktives Verhältnis. Beschränkt wird das damit verbundene kritische Potenzial bei Özsoy allerdings durch dessen hermeneutischen Fokus auf die kommunikativ-intentionale Funktion des Koran: Özsoy imaginiert hinter dessen historisch-kontingenter Form eine „eigentliche, vorhistorische Offenbarung“ (Özsoy 2021 zu Q 2,143f), an die es in regelmäßigen Abständen zu erinnern gilt.
Kritischer Ausblick – Kompatibilität und Kontingenz
Der den hier vorgestellten reformorientierten Zugängen zugrunde liegende Gedanke einer vom Mythos zum Ethos der „inneren“ Religion fortschreitenden Entwicklung ist ein Zeugnis dafür, in welchem Maße die im 19. Jahrhundert einsetzende Verschiebung in der Semantik des Religionsbegriffs – hin zu einem spirituell-moralischen, von einschlägig politischen Konnotationen unabhängigen Bereich – mittlerweile zu einem Gemeingut muslimischer Reformdenker geworden ist. Ihr Bestreben, ein Gegengewicht zu jahrhundertealten orientalistischen Essentialisierungen des Islam (als das Nicht-Europäische oder Nicht-Westliche) zu schaffen und dessen Kompatibilität mit der säkularen Moderne aufzuzeigen, führt zu einer kaum mehr überschaubaren Fülle menschenrechtskompatibler, feministischer und sozialethisch-dialogischer Lesarten des Koran. Diese suchen in einer tendenziell modernistischen Zielsetzung und explizit liberalen Theologisierung „die universelle, unwiderstehliche Metaphysik der modernen Bedeutung“ (Ghosh 2003, 237) zu repräsentieren. Zugleich laufen sie aber Gefahr, in ihrer Anverwandlung des „Werte“-Diskurses – als besonders prominent firmieren darunter Egalitarismus, Pluralismus und Geschlechtergerechtigkeit – die dem Orientalismus vorgeworfene Essentialisierung des Islam zu replizieren.
Stärker poststrukturalistisch orientierte Exegeten wie z. B. Muhammad Arkoun (1934 – 2010) haben dies feinsinnig erkannt und kritisch auf die „Disproportionalität zwischen der anfänglichen Kontingenz“ des koranischen Diskurses und „der unerschöpflichen Dynamik des mythisch-historischen Bewusstseins“ hingewiesen (Arkoun 2000, 91). Erst wenn die muslimische Koranexegese die Gegenüberstellung von Mythos vs. Ethos überwindet, lässt sich das im Koran transportierte und bewahrte „symbolische Kapital … in die kognitive Aktivität der Vernunft integrieren“ und „über den Geist der Aufklärung hinausgehen“ (Arkoun 1999, 245). Ansätze wie diesen weiter auszuarbeiten, bleibt ein Desiderat der reformorientierten Koranexegese, deren Problem (aus der Sicht traditioneller Muslime) vor allem darin liegt, dass sie von Anbeginn an unauflöslich mit den Bibelwissenschaften verbunden und durch deren historisierende, die Kontingenz der in den „Heiligen Schriften“ enthaltenen Rede von und zu Gott aufdeckende Dynamik kontaminiert ist. Im Horizont dieser Dynamik erweist sich auch der Koran selbst einer fortwährenden, die Kontingenz der eigenen Verkündigung aufdeckenden Kritik ausgesetzt. Wie muslimische Exegetinnen und Exegeten mit dieser an ihre eigene „Heilige Schrift“ gerichteten Kritik umgehen, ist nicht mehr nur eine Frage der Exegese, sondern auch des soziopolitischen, sich kontinuierlich wandelnden und auch von nichtmuslimischen Lesarten des Koran mitbestimmten gesellschaftlichen Kontexts.
Rüdiger Braun, 13.07.2022
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