Stimmen aus dem Jenseits / Voices from Beyond
Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Stimmen aus dem Jenseits / Voices from Beyond. Ein interdisziplinäres Projekt / An Interdisciplinary Project (Religion und Politik Bd. 14), Ergon-Verlag, Würzburg 2017, 318 Seiten, 58,00 Euro (mit DVD)
Autorinnen und Autoren verschiedener Fachrichtungen – u. a. Ethnologie (Helene Basu), Geschichte (Klaus Große Kracht), Literaturwissenschaft (Christian Sieg, Martina Wagner-Egelhaaf), Religionswissenschaft (Annette Wilke), Soziologie (Silke Müller), Theologie (Reinhard Hoeps) – haben Beiträge geliefert zum Phänomen der „körperlosen, der ‚akusmatischen‘ Stimme“. „Akusmatische Stimme“ ist ein Begriff, der 1982 im Französischen für Stimmen geprägt wurde, die als ortlos und körperlos erscheinen, aber gleichwohl hörbar sind. Jeder Beitrag wird von Vertretern anderer Disziplinen kommentiert. Das Buch will eine „interdisziplinäre Debatte“ eröffnen. Die Autoren gehören zum Exzellenzcluster „Religion und Politik“ an der Universität Münster.
Der Band ist in neun Abschnitte mit Untergruppen gegliedert, vom Thema „Verbalinspiration“ bis zu „Voices of Possession“. Das Spektrum reicht von der Darstellung des den Evangelisten Matthäus inspirierenden Engels auf einem Gemälde von Caravaggio über die Berufung des Augustin und das Hörspiel „Zikaden“ von Ingeborg Bachmann bis zur „Göttin Stimme“ aus dem Tantrismus.
Die unterschiedlichen (deutsch- und englischsprachigen) Beiträge, die hier nur exemplarisch besprochen werden können, umkreisen das Thema des Bandes mehr, als dass es sich um eine Abfolge handeln würde, der Aufbau hat eine Diskussionsstruktur. Das Buch enthält eine DVD, sie bietet Audio- und Video-Quellen: die Stimme des Gurus, das Hörspiel von Bachmann, Rituale im Tempel. So wird die Stimme als selbständig und unabhängig vom gesprochenen Wort verdeutlicht.
Die wortlose Stimme wird besonders eindrücklich dargestellt in dem Hörspiel von Ingeborg Bachmann „Zikaden“. Der Zikadenmythos aus Platons Dialog Phaidros liegt zugrunde, wird jedoch umgeformt. Der Gesang der Zikaden ist musikalisch gestaltet von Hans Werner Henze. Die Reisenden oder Schiffbrüchigen, die auf einer Insel Urlaub machen oder gefangen sind, werden zu Zikaden, wenn sie in ihrer Sehnsucht nach der Vergangenheit gefangen bleiben. Christian Sieg, der Kommentator, weist auf den medientheoretischen Diskurs mit der Frage hin, inwiefern das Radio Transzendenzerfahrung vermitteln könne; die Radiostimmen erscheinen als Gegenstück zur Kommunikation mit den körperlosen Stimmen von Geistern und Verstorbenen. Ferner betont Sieg, dass das Radio im Dritten Reich als „Mittel der Massensuggestion“ genutzt wurde und somit das Volk der Autorität der „akusmatischen“ Stimme unterworfen war.
Wie und wem wird die akusmatische Stimme zugeordnet – kommt sie von außen oder von innen? Bei Augustins Berufung kommt sie aus dem Nachbarhaus, eindeutig wird der Ruf „nimm und lies“ erst durch seine Zuordnung und das Verständnis oder Verstehen des Augustin sowie durch das (Vor-)verständnis späterer Interpreten.
Ein Pamphlet über den angeblichen Traum eines Quäkers von 1665 hat eindeutig polemischen Charakter. Simon Rapple ordnet ihn historisch ein und beschreibt die Gründe für die Verfolgung der Quäker und ihre Konsequenzen. Hier zeigt sich der Konflikt zwischen der Bewertung von Auditionen als Stimme des „inneren Lichts“, das vom Licht Gottes stammt, oder als „Stimme Satans“.
Über die Berufungsaudition eines sächsischen Volksschullehrers (Bekehrung zum Mormonentum), wird ein Zeitungsartikel aus der „Gartenlaube“ von 1873 analysiert. Er schwankt zwischen einer gewissen Bewunderung und der sprachlichen Konstruktion von Fremdheit. Geht es um die „Stimme von außen“, distanziert sich der Schreiber M. Lindemann stilistisch.
In der Stimme eines hinduistischen Gurus der Chinmaya-Mission (Advaita Vedanta) ist die Stimme der Gottheit präsent. Das macht seine Anziehungskraft aus. Botschaft und Klang fallen zusammen. Geschildert werden Zusammenkünfte und Anhängerschaft eines modernen Gurus. Doch fußt sein Singen auf alten Traditionen. Die „Göttin Stimme“ stammt aus dem späten Rigveda.
In einem Heilungsritual in einem Sufi-Tempel in Gujarat (Indien) stellen die Stimmen besessener Frauen das Selbst als „dialogische Größe“ dar. Viele Stimmen, quälende Stimmen, äußern sich. Sind es Geistwesen oder innere Stimmen? In dem Dialog wird zugleich die Vergangenheit ans Licht geholt, worauf die Stellungnahme von Chistian Sieg hinweist. Der innere Dialog findet statt sowohl zwischen Wesen, innerlich oder nicht, als auch zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Vergangenheit wird gegenwärtig.
Weltanschauungsbeauftragte haben es vielfach mit „Stimmen aus dem Jenseits“ zu tun. Die Stimme getrennt von der Botschaft zu betrachten, ist eine Herausforderung für Theologen und insbesondere für Weltanschauungsbeauftragte, für die die Stimme in der Regel hinter Wort und Botschaft verschwindet. Die Stimme als unabhängig vom Wort zu hören, mehr auf den Klang als auf die Botschaft zu lauschen, ja den Klang selber als Botschaft zu verstehen, ist für Leser und Leserinnen überraschend. Die Stimme als „Göttin“ lässt eine Ahnung von der Wirkungsmacht des Mantra entstehen, aber auch von der Bedeutung eines Gurus für seine Anhängerschaft. Liest man den Artikel über den sächsischen Lehrer, so drängt sich die selbstkritische Frage auf, wie wir mit Berichten von „jenseitigen Stimmen“ umgehen. Gelten sie als Täuschung, werden sie sogar als pathologisch eingestuft oder hält man sie für möglich?
In dem Beitrag von Helene Basu über die Heilungsrituale in Gujarat wird die Frage gestellt, ob das „Selbst“ wirklich eine so feste Größe ist, wie wir in der westlichen Welt annehmen. Die Erfahrung von sogenannten „Spaltpersönlichkeiten“ würde dagegensprechen. Die Stimme als demagogische Macht wird herausgestellt in dem Beitrag über Radiostimmen. Im Übrigen werden die Stimmen nicht bewertet.
Das Buch bedeutet eine Herausforderung und bietet eine Anregung zum Umdenken, einen Anreiz zur Erweiterung des Horizonts sowie zum Kennenlernen anderer Erlebensweisen. Wie wäre es, wenn man unter dem Aspekt der „akusmatischen Stimme“ ein Oratorium von J. S. Bach oder eine Motette von Hugo Distler betrachten würde?
Gabriele Lademann-Priemer, Hamburg