Streit um Vegetarismus - wirklich ökologisch gut und körperlich gesund?
„Korrektes“ Essen ist derzeit ein vielerorts umkämpftes Thema. Nicht „Hauptsache, es schmeckt“; sondern „mit richtigem Essen die Welt und das Selbst verbessern“ ist die Devise. Dabei liegen Veganismus bzw. Vegetarismus besonders im Trend. Selbst viele Nicht-Vegetarier sind heute davon überzeugt, dass Vegetarismus die Umwelt schützt und dem Menschen zu einem besseren, längeren, gesünderen Leben verhelfen kann, was immer wichtiger wird, weil in einer säkularen Welt das Diesseits und das eigene Tun die einzige Möglichkeit darstellen, etwas aus dem Leben zu machen. Jeder ist seines Glückes und seines Leibes Schmied und Schöpfer der eigenen Gestalt.
Zweifel an einem Grundpfeiler vegetarischer und veganer Weltanschauungen weckt nun die Auswertung zweier Langzeitstudien der Universität Oxford (Oxford Vegetarian Study) mit insgesamt 60000 Teilnehmern, die seit 1980 (erste Studie) bzw. 1996 (zweite Studie) beobachtet wurden. Die Teilnehmer aßen teils häufig Fleisch, teils vegetarisch oder vegan, teils fleischarm, teils pescetarisch (Fisch wird gegessen, aber kein Fleisch). Entgegen den Erwartungen ließen sich auch nach Berücksichtigung anderer Gesundheitsfaktoren (Gewicht, Geschlecht, Rauchen) keine Unterschiede bei der Sterblichkeit feststellen, d. h. im Untersuchungszeitraum starben aus allen Gruppen etwa gleich viele Menschen, nur unterschieden sich die vorherrschenden Todesursachen.
Obendrein zieht nun auch noch eine im Dezember 2015 veröffentlichte Studie der Carnegie Mellon Universität (Pittsburgh) eine weitere Grundmotivation des vegan-vegetarischen Lebens in Zweifel. Nach den kontraintuitiven Ergebnissen der Studie soll die Produktion der entsprechenden Nahrungsmittel bei Ressourcenverbrauch und Treibhausgasproduktion schlechter abschneiden als herkömmliche Nahrung. Demnach stünde auch die weithin als selbstverständlich angenommene ökologische Überlegenheit des Vegetarismus infrage.
Der Oxford-Studie widersprechen andere Forschungsergebnisse, z. B. eine ältere amerikanische Studie unter 70000 Siebenten-Tags-Adventisten (diese sind oft Vegetarier), die die Gesundheitsvorteile des Vegetarismus zu belegen schien. Möglicherweise kamen bei den amerikanischen Adventisten noch andere unbekannte Faktoren hinzu, die in den britischen Studien keine Rolle spielten.
In der Online-Diskussion, die sich nach einem kurzen Bericht über die Oxford-Studie im Berliner Tagesspiegel am 17.1.2016 ergab, prallten schnell die unterschiedlichen Weltsichten aufeinander. Der Streit illustrierte den weltanschaulichen Charakter des Themenfeldes mit gegenseitigen Vorwürfen der veganen Ersatzreligion bzw. der fleischessenden umweltzerstörerischen Gleichgültigkeit. Einige Diskussionsteilnehmer wiesen auf das eigentliche Grundproblem hin: Die explosive Vermehrung der Weltbevölkerung, die dem ganzen Thema überhaupt erst solch eine Gegenwartsrelevanz verleiht.
Eine mögliche Deutung der Oxforder Studie, die sich bei genauer Betrachtung der unterschiedlichen Todesursachen ergibt, ähnelt dem Bonmot, mit dem sich Sportler manchmal gegenseitig ermuntern: Vegetarier leben nicht länger, aber sie sterben gesünder.
Kai Funkschmidt