Streitfall islamische Theologie in Deutschland
Mouhanad Khorchides Buch „Islam ist Barmherzigkeit“ und die Folgen
Vertreter islamischer Organisationen in Deutschland haben Mouhanad Khorchide, Professor für Islamische Religionspädagogik und Leiter des Zentrums für Islamische Theologie in Münster, scharf kritisiert und unter anderem öffentlich aufgefordert, Reue (arab. tauba) für seine Thesen zu zeigen „und sich wie ein Muslim zu verhalten“. Das musste und sollte wohl auch so verstanden werden, dass Khorchide sich bisher in seiner Funktion als Universitätslehrer für angehende islamische Theologinnen und Theologen nicht als Muslim verhalten habe. Was steht hinter diesem schwerwiegenden Vorwurf und wie ist er einzuordnen? Dazu der Reihe nach:
„Islam ist Barmherzigkeit“
Im Herbst 2012 erschien Khorchides Buch „Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion“ im Herder-Verlag. Es enthält ein leidenschaftliches Plädoyer für ein Islamverständnis, das die „Botschaft der Barmherzigkeit, die von einem absolut barmherzigen Gott ausgeht“, in den Mittelpunkt stellt (27; Seitenangaben beziehen sich auch im Folgenden auf dieses Buch). Die Beziehung zwischen Gott und Mensch soll nicht auf Angst und Gehorsam gründen, sondern wie die Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Kind auf Liebe und Respekt.
Der Autor wurde als Sohn palästinensischer Flüchtlinge in Beirut geboren, wuchs in Saudi-Arabien auf und studierte in Österreich Soziologie sowie in Beirut islamische Theologie (am Al Imam Al Ouzai College for Islamic Studies). Seine Dissertation zur Situation des islamischen Religionsunterrichts in Österreich (Der islamische Religionsunterricht zwischen Integration und Parallelgesellschaft, 20091) hatte schon für Aufregung gesorgt und ihn den Job in der Islamlehrerausbildung an der Wiener Islamischen Religionspädagogischen Akademie gekostet (IRPA, seit 2007 „Privater Studiengang für das Lehramt für Islamische Religion an Pflichtschulen“). 2010 wurde er nach Münster berufen, wo er einem der vier vom Bund geförderten islamisch-theologischen Zentren vorsteht.
Die neue Theologie in Khorchides Buch
Das neue Buch setzt in der Tat neue Impulse. Es ist ein reformorientierter, fast schon revolutionärer Ansatz, der vieles in Frage stellt, was vielen Muslimen bislang als unumstößlich erschien. Khorchide erklärt in der Einleitung, wie er persönlich dazu kam, das Bild eines Macht demonstrierenden, Angst einflößenden und Gehorsam forderndenGottes zu hinterfragen und schließlich abzulehnen, um demgegenüber eine islamische Theologie der Barmherzigkeit zu formulieren. Das dogmatisch enge und ausgrenzende Glaubensverständnis, das ihm in Saudi-Arabien begegnet war, schien ihm das Wesen des Korans und Gottes selbst zu verfehlen. Nicht an der Frage der Pflichterfüllung von Regeln, nicht an einer äußerlich-formalen Zugehörigkeit „Muslim ja oder nein“ könne sich eine wahre Gottesbeziehung entscheiden, sondern am lebendigen Gegenüber zu Gott, an menschlichen Werten, an Handlungen und Haltungen, an der Liebe zwischen Gott und Mensch.
Dies bedeutet, dass es einen „Islam“ bzw. ein „Muslimsein“ gibt, das unabhängig von den religiösen Formen und Pflichten der konkreten Religion Islam Wirklichkeit ist, nämlich als „Annahme von Gottes Liebe und Barmherzigkeit und deren Verwirklichung im Handeln, sowohl gegenüber den Mitmenschen als auch gegenüber Gottes Schöpfung“ (87).2 Und dies ganz in Übereinstimmung mit dem Koran, der Noah, Abraham, ja die Jünger Jesu und andere als „Muslime“ bezeichnen kann, natürlich ohne dass sie dem Islam im dogmatischen Verständnis angehören konnten. Doch Khorchide zieht die Linien weiter aus, und das wird für Missverständnisse sorgen und die Kritiker auf den Plan rufen. Denn Muslim ist nicht nur „jeder, der Ja zu Gottes Liebe und Barmherzigkeit sagt“, wie die Überschrift des Kapitels heißt (85). Vielmehr „ist jeder, der sich zu Liebe und Barmherzigkeit bekennt und dies durch sein Handeln bezeugt, ein Muslim, auch wenn er nicht an Gott glaubt, denn Gott geht es nicht um die Überschriften ‚gläubig’ oder ‚nichtgläubig’“ (88).3 Kriterium für Glaube bzw. Unglaube (kufr) eines Menschen ist nicht die Zugehörigkeit zu einer Religion, sondern die Annahme oder Ablehnung der Einladung Gottes zu Liebe und Barmherzigkeit (90). Khorchide wird sich rechtfertigen, dass er auf die Vorstellung der angeborenen fitra rekurriere, der gemäß jeder Mensch die natürliche Anlage, gleichsam das Potenzial zur Ausrichtung seines Lebens auf Gott hin habe (Sure 30,30; 7,172). Diese könne auch dann zur Geltung kommen, wenn ein Mensch ein verzerrtes Bild von Gott habe und nichts vom Islam (als Glaubensbekenntnis) wisse.
So weit mag die Argumentation für traditionell denkende Muslime schon gewagt, aber noch nachvollziehbar sein. Doch klar ist auch: Khorchide bleibt nicht in den Bahnen der traditionellen Theologien. Er rezipiert moderne literaturwissenschaftliche und hermeneutische Ansätze der Koraninterpretation in den Spuren Nasr Hamid Abu Zaids oder Mohammed Arkouns und ist ganz offenkundig vor allem auch mit Christen intensiv im Gespräch. Anders ist schwer zu erklären, dass und wie Khorchide von der „Selbstmitteilung Gottes“ im Koran oder auch vom Gottesdienst als „Dienst am Menschen“ sprechen kann.4 Gott offenbart demnach sich selbst durch seine Barmherzigkeit – die nicht nur ein (Tat-)Attribut, sondern eine, ja die zentrale Wesenseigenschaft Gottes darstellt (Sure 6,12.54) –, um den Menschen zu seiner Gemeinschaft einzuladen. Von da aus kritisiert Khorchide islamische Theologien, die der bedingungslos „absoluten Barmherzigkeit“ Gottes nicht angemessen Rechnung tragen, welcher auch Gesetz und Strafe im Sinne eines pädagogischen Konzepts untergeordnet sind (Sure 7,156). Nun geht aus dem Koran nach allem, wie er bisher mehrheitlich verstanden wird, die Selbstmitteilung Gottes gerade nicht hervor.5 In Khorchides Theologie hat sie eine wichtige Funktion, um von einem instruktionstheoretischen Offenbarungsbegriff wegzukommen, der letztlich immer auf die Verfasstheit des Islam als Religion zielt. Erfahrungsbezogen und mit existenzialistischen Anleihen fokussiert Khorchide sein Anliegen in einem Begriff, den er für seinen ganzen Entwurf in Anspruch nimmt: humanistische Koranhermeneutik (167-171). Damit zielt er auf den Menschen, der eben nicht (nur) Offenbarungsempfänger ist, sondern Gottes Liebe aufnehmend in seinem Handeln und Leben geradezu selbst Gott bzw. die göttliche Liebe und Barmherzigkeit als Ziel der Schöpfung offenbart. Überall, wo Liebe und Barmherzigkeit auch zwischenmenschlich geübt werden, ist Gott gegenwärtig, offenbart sich Gott. Konsequent ist der Islam als verfasste Religion nur ein „Weg zur Gottesgemeinschaft“, neben dem es „noch viele andere gibt“ (88). Er selbst erklärt den Ansatz (s)einer humanistischen Koranhermeneutik so: „Eine Koranhermeneutik, die diesen Gedanken Rechnung tragen will, sieht im Menschen ein Subjekt und kein Objekt der koranischen Offenbarung. Im Koran geht es um den Menschen, nicht um Gott ... Gott und Mensch kooperieren Seite an Seite, um Liebe und Barmherzigkeit als gelebte Wirklichkeit zu gestalten“ (169f). Der Mensch als Subjekt der Offenbarung, der Mensch als Medium der Offenbarung etwa auch in der Vergebungsbereitschaft bis hin zur Feindesliebe (113)! Fast möchte man sagen: Gott wird Mensch. Die produktive Auseinandersetzung Khorchides mit christlicher Theologie ist an vielen Stellen zu spüren.
Demgegenüber nehmen sich die anderen Themen des Buches wie Nebenschauplätze aus. Himmel und Hölle etwa sind für den Autor Bilder, die übergeordnete Prinzipien und Aussagen transportieren. Die Scharia steht für ihn alsjuristischesSystem im Widerspruch zum Islam selbst, denn sie ist ein „menschliches Konstrukt“.6 Allerdings hat das dazu notwendige Verfahren, die mekkanischen Verse des Korans als (universalen und ahistorischen) Kern der Botschaft von der kontextbedingten Umsetzung der Botschaft im Gesellschaftsmodell in Medina abzuheben (119-129), seinerzeit Mahmud Muhammad Taha 1985 im Sudan das Leben gekostet. Die Intention indessen ist richtig und wichtig: Wie kann methodisch stringent verhindert werden, dass politische und praktische Entscheidungen des 7. Jahrhunderts heute eins zu eins als Gottes Gebote zur Geltung gebracht werden? Khorchide ist sich der Brisanz durchaus bewusst, wenn er „die Angst vor einer historischen Kontextualisierung des Koran“ offensiv thematisiert (145-150).
Einspruch
Nach den bisherigen Ausführungen kann es nicht verwundern, dass von muslimischer Seite Einspruch erhoben wurde. Im Januar 2013 meldete sich auf „islam.de“ Mohammed Khallouk zu Wort, wissenschaftlicher Berater des Zentralrats der Muslime in Deutschland und Beiratsmitglied des Münsteraner Zentrums.7 Er vermutet bzw. unterstellt Khorchide die Präsentation eines Islambildes, das vor allem bei der „mehrheitlich nichtmuslimischen deutschen Gesellschaft“ auf Akzeptanz stoßen soll, und wirft dem Autor Relativismus und Anbiederung an die Erwartungen der nichtmuslimischen Öffentlichkeit vor. Nach Khallouk ist die Unterscheidung eines allgemeinen „Islam“ (der Humanität) vom „Islam im spezifischen Sinne“ nicht tragfähig. Die „Hinwendung zu Gott“ sei islamisch untrennbar mit dem spezifischen Weg, d. h. den spezifisch islamischen Grundsätzen und Ritualen verbunden.
Inhaltlich in die gleiche Richtung, aber deutlich weiter geht ein Vorstoß dreier prominenter Islamvertreter, der merkwürdigerweise über die national-konservative türkische Tageszeitung Türkiye bekannt wurde – worüber auf Deutsch zunächst nur die Islamische Zeitung berichtete – und offensiv gegen Khorchide Stellung bezieht.8 Martin Koch brachte die „kuriose Situation“ in der Deutschen Welle auf den Punkt: „In einer türkischen Zeitung erscheint ein Artikel, in dem drei hochrangige Funktionäre islamischer Organisationen aus Hamburg einem nicht Türkisch sprechenden palästinensisch-stämmigen Österreicher vorwerfen, die Grundzüge des Islams verraten zu haben.“9 Es handelt sich um Zekeriya Altuğ, den Vorsitzenden des DITIB-Regionalverbandes Nord, Mustafa Yoldaş und Ramazan Uçar. Der Allgemeinarzt Yoldaş ist ein führender Vertreter der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş in Hamburg (Merkez/Centrum-Moschee) und seit 1999 einer der Vorsitzenden der Schura Hamburg, ab 2009 war er Vorsitzender der 1998 gegründeten „Internationalen Humanitären Hilfsorganisation“ (IHH), die wegen Unterstützung extremistischer Organisationen 2010 verboten wurde. Der Theologe Uçar ist Imam und Vorsitzender des Bündnisses der Islamischen Gemeinden in Norddeutschland (BIG). Alle drei wurden dahingehend zitiert, dass sie sich um die Religionslehrerausbildung in Münster sorgten, wo es um die Ausbildung junger Muslime und indirekt um die Erziehung muslimischer Kinder gehe. In diesem Rahmen müsse auf die tradierte Vorstellung von Gott geachtet werden, Khorchides Thesen seien problematisch und nicht haltbar. Thesen, wonach Menschen Muslime sein könnten, die nicht an Gott glaubten, aber einen guten Charakter hätten, schadeten dem Islam und führten dazu, die Religion falsch zu verstehen. Die spirituelle Dimension sei ohne die konkrete Religionspraxis nicht zu haben.
In konstruktiver und differenzierter Form formulierte Zekeriya Altuğ in einem offenen Brief seine Kritik für DITIB-Nord. Er wehrte sich damit nicht zuletzt gegen den möglicherweise entstehenden Eindruck, die Vorstellung eines barmherzigen und liebevollen Gottes stünde im Widerspruch zum Gottesverständnis islamischer Verbände in Deutschland.10 Altuğ bekräftigt die natürliche Anlage des Menschen zur Gottzugewandtheit als schöpfungsbedingte Möglichkeit. Durch Liebe und Barmherzigkeit allein werde er aber nicht zum Muslim. Die anthropologische Möglichkeit zum Muslimsein werde erst unter bestimmten rituellen Voraussetzungen verwirklicht. „Unserem Verständnis nach ist diese Hinwendung zu Gott aus freier Entscheidung heraus im islamisch-religionspraktischen Sinn eine intensivere Ergebenheit. Sie ist Grundvoraussetzung, um Muslim zu sein. Sie kann nicht ersetzt werden durch eine bloße innere Haltung zur Liebe und Barmherzigkeit. Barmherzigkeit ist ein wesentliches Attribut Gottes, aber es ist nicht das einzige.“ Der Islam dürfe nicht auf eine letztlich unverbindliche und beliebige Liebesbotschaft reduziert werden. „Als Muslime müssen wir vielmehr immer wieder und auch deutlich herausstellen, dass die Liebe Gottes eben nicht bedingungslos ist ... Allenfalls der Schöpfungsakt Adams mag als Ausdruck einer bedingungslosen Liebe verstanden werden. Spätestens mit unserer irdischen Präsenz ist an unsere Existenz auch die Verpflichtung zur Verantwortung für die Schöpfung und für unsere Mitmenschen gebunden. Die Suche nach Gott kann nur über die Wahrung dieser Verantwortung gelingen.“ Altuğ ergänzt: „Die Liebe Gottes ist nicht bedingungslos. Sie ist aber grenzenlos.“ Damit verweist er auf die Unvorhersehbarkeit und Unergründlichkeit des göttlichen Urteils, sodass Menschen sich eines letzten Urteils über Menschen enthalten sollten. Eben deshalb seien sie aber auch an die Rechtleitung durch die Verkündigung der Offenbarung gewiesen.
Aufforderung zur Reue
Anders und drastischer klang es bei Ramazan Uçar, der in der Kritik am weitesten ging, sekundiert von Mustafa Yoldaş. „Seine [Khorchides; F.E.] Unkenntnis über die islamischen Glaubensgrundsätze lassen die Diskussion entfachen, wo er promoviert hat und wie er zum Professor wurde. Schließlich zeigt dies nur das Gesinnungschaos in Münster“, wird Uçar zitiert. Weiter hieß es, der Professor sei eingeladen, „die Reue (tauba) abzulegen und sich wie ein Muslim zu verhalten“. Man sei als Muslim verpflichtet, die tauba zu fordern, insofern es um die Grundsätze des Glaubens gehe, bekräftigte Uçar im „Forum am Freitag“ des ZDF.11 Damit ist nun in einem bisher einmaligen Vorgang hierzulande eine Dimension berührt, die ganz andere Assoziationen auslöst. „Reue“ oder „Buße“ ist ein in der islamischen Tradition geprägter Begriff, der vielfach beschrieben und in bestimmten Formen vollzogen wird. Die Reue hat eine persönliche, von Fall zu Fall jedoch auch eine gemeinschaftsbezogene, „öffentliche“ Funktion. Letzteres ist vor allem im Kontext des Abfalls vom Glauben der Fall. Eine der verbreiteten Überlieferungen zum Thema ist bei Imam Yahya ibn Sharaf an-Nawawī (13. Jahrhundert) nachzulesen, der in seinem Kapitel über die „Reuige Umkehr“ die Bedingungen so beschreibt: „1. dass man von der Sünde ablässt, 2. dass man bereut, sie begangen zu haben, 3. dass man fest dazu entschlossen ist, diese Sünde niemals wieder zu begehen. Bei Nichterfüllung einer dieser drei Voraussetzungen ist die reuige Umkehr ungültig.“12 Die schariarechtlichen Bestimmungen im Zusammenhang des Abfalls vom Glauben haben im islamischen Recht ihren eigenen Ort. Im Kompendium des Azhar-Gelehrten al-Djaziri (1882 – 1941), dem rechtsschulenübergreifenden Standardwerk zum islamischen Recht, ist die „Aufforderung des Abtrünnigen zur Buße“ (istitabat al-murtadd) ein Unterkapitel der detaillierten Ausführungen zur Apostasiefrage.13 Es herrscht keine Einigkeit der Gelehrten in Bezug auf alle Einzelheiten, doch verlangen die vier sunnitischen Rechtsschulen und die Mehrheit der Gelehrten die gültige Feststellung des Tatbestandes und befürworten eine dreitägige Frist zur Reue und Umkehr zum islamischen Bekenntnis. Einigkeit besteht darin – auch wenn dies heute in verschiedenen Stellungnahmen von muslimischer Seite relativiert oder auch begründet abgelehnt wird –, dass dem Glaubensabtrünnigen beim Beharren auf dem Abfall (irtidad) die Todesstrafe droht.14 Zum Verfahren der tauba ist bei al-Djaziri unter anderem zu lesen: „Er muss sich von allen Religionen außer der Religion des Islam lossagen, indem er sagt: ‚Ich habe bereut und bin zur Religion des Islam zurückgekehrt, ich bin frei von jeder Religion außer der Religion des Islam.’“15 Der Bereuende hat ferner das islamische Glaubensbekenntnis zu sagen und alles zu bekräftigen, was der Diener und Gesandte Gottes, Muhammad, von Gott gebracht hat. So weit die Tradition.
Man beeilte sich im aktuellen Streit zu betonen, es habe sich in diesem Fall nicht um die Aufforderung zur Reue eines Abtrünnigen gehandelt (Forum am Freitag, ZDF). Doch allein die Tatsache dieses klärenden Hinweises zeigt, dass die Intervention in diesem Kontext verstanden werden kann und offenbar auch so verstanden wurde. Die öffentliche Aufforderung zur Reue käme unter dieser Voraussetzung einer Warnung gleich. Die Brisanz des Vorgangs liegt auf der Hand.
„Wir brauchen Kontroversen!“
Mouhanad Khorchide hat mehrfach öffentlich zu den Vorwürfen Stellung genommen und Unterstellungen aufs schärfste zurückgewiesen, unter anderem in einer Klarstellung auf der Internetseite seines Instituts in Münster.16 Er bekennt sich eindeutig und persönlich zu den sechs Glaubensgrundsätzen und den fünf Säulen als unveränderlichen Grundlagen des Islam. Er vertrete kein Islambild ohne Frömmigkeit. Er räumt ein, dass die eine oder andere Formulierung in seinem Buch missverständlich sein konnte und präzisiert einige theologische Aussagen, etwa zur fitra. Dem Theologen ist es wichtig, zur Reflexion der eigenen Position anzuregen, Raum für Kontroversen und Debatten zu schaffen und auch zu nutzen. Er bietet Diskussionsbereitschaft an, fordert aber auch dazu auf, „nicht via Medien Unterstellungen zu verbreiten“. Diesbezüglich vermutet er nicht zuletzt politische Gründe. Manche wollten offenbar „den Standort Münster zu Fall bringen“.
Die Zukunft der islamischen Theologie?
Welchen Beitrag eine „Theologie der Barmherzigkeit“ für die Entwicklung der islamischen Theologie in Deutschland (und darüber hinaus) leisten kann, ist derzeit völlig offen. Die Impulse Nasr Hamid Abu Zaids und anderer werden bis heute weitestgehend in akademischen Kreisen diskutiert. Auch die sogenannte Ankaraner Schule (etwa Ömer Özsoy in Frankfurt) hat sich bislang nicht mit profilierten Äußerungen an die breite muslimische Öffentlichkeit gewandt. So kommt Mouhanad Khorchide das Verdienst zu, erstmals einen so pointierten und damit diskutierbaren Entwurf einer neuen, reformerischen Theologie vorgelegt zu haben, der sich sowohl an Muslime als auch an Nichtmuslime wendet.
Die Hoffnung, die sich damit verbinden kann, knüpft an die Bewegung in einer neuen, akademisch gebildeten und zur kritischen Reflexion der eigenen Glaubenstraditionen bereiten Generation an, die allenthalben an den Orten der islamischtheologischen Ausbildung in Deutschland zu beobachten ist. Nichts ist mehr zu wünschen als eine konstruktive Aufnahme der Thesen Khorchides unter jungen Muslimen.
Überblickt man die islamtheologischen Entwicklungen in der Breite, ergeben sich freilich auch Rückfragen, die die Anschlussfähigkeit der Reformtheologie an die traditionelle Theologie und damit an die tatsächlichen Glaubensvorstellungen und -vollzüge vor Ort betreffen. Wie steht es mit der Selbstmitteilung Gottes im Verhältnis zur islamischen Tradition? Wie kann islamisch begründet der Mensch als Subjekt der Offenbarung gedacht werden? Es scheint ein Defizit in Khorchides Darstellung zu sein, dass er viel zu sehr thetisch vorgeht, anstatt eingehend und wohlbegründet aus der Tradition heraus zu argumentieren. Aus (christlich-)theologischer Sicht fehlt zudem eine tiefer gehende Reflexion gerade des zentralen Verhältnisses von Barmherzigkeit und Liebe. Vor dem Hintergrund, dass sich aus dem Koran die Bedeutung der Barmherzigkeit Gottes ableiten lässt, die Liebe Gottes aber aus bestimmten Gründen unterbestimmt bleibt und bleiben muss, ist hier besondere Sorgfalt gefordert. Den Kontrahenten Khorchides im aktuellen Streit ist insoweit eine Sensibilität zu attestieren, die sich aus den traditionellen Formen ihrer Theologie speist.
Skepsis zumindest im Blick auf eine zeitnahe Durchsetzung reformerischer Tendenzen erwächst nicht nur aus derartigen Erwägungen, sondern ebenso aus dem aktuellen Streit. Er birgt auch deshalb viel Zündstoff, weil Khorchides Vorgänger im Amt an der Universität Münster, Sven Kalisch, seinen Posten wegen des Vorwurfs modernistischer und unislamischer Lehren räumen musste. Er hatte die Historizität Muhammads in Zweifel gezogen. So spielen selbstverständlich politische Fragen bis hin zu Konkurrenzgefühlen zwischen Universitätsinstituten und Islamverbänden eine Rolle. Innermuslimische Spannungen hinsichtlich der Ausrichtung des Islam und der „Deutungshoheit“ in Glaubensfragen sind indes kein Makel, ganz sicher auch kein Grund, sich von außen zu ereifern – sie gehören schlicht zur Normalität. Es wäre eine vielversprechende Perspektive und käme allen Beteiligten zugute, wenn der Anstoß – im doppelten Sinne – der frischen Theologie aus Münster zu einer intensiven und zukunftsorientierten Debatte über die Entwicklung der islamischen Theologie im Kontext der religiös-weltanschaulichen Pluralität unserer Gesellschaft führte. Nicht nur in Münster.
Friedmann Eißler
Anmerkungen
1 Mouhanad Khorchide, Der islamische Religionsunterricht zwischen Integration und Parallelgesellschaft. Einstellungen der islamischen ReligionslehrerInnen an öffentlichen Schulen, Wiesbaden 2009.
2 Mit Hans Küng gesprochen handelt es sich um den „islam, sozusagen klein geschrieben“ (H. Küng, Der Islam. Geschichte, Gegenwart, Zukunft, München 2004, 114).
3 Der Text fährt fort: „Gott sucht nach Menschen, durch die er seine Intention, Liebe und Barmherzigkeit, verwirklichen kann; Menschen, die bereit sind, seine Angebote anzunehmen und zu verwirklichen. Und umgekehrt ist jeder, der meint, an Gott zu glauben, jedoch Liebe und Barmherzigkeit nicht durch sein Handeln bezeugt, kein Muslim. So sagte der Prophet Muhammad: ...“ (88)
4 Ein eigenes (kurzes) Kapitel ist überschrieben: „5. Gott hat sich im Islam selbst mitgeteilt“ (109-113). Kapitel 6: „Gottesdienst ist Dienst am Menschen“ (114f).
5 Khorchide räumt ausdrücklich ein, dass „der Islam nicht von Offenbarung im Sinne der Selbstmitteilung Gottes spricht“ (109).
6 Kapitel 7 lautet „Scharia als juristisches System steht im Widerspruch zum Islam selbst“; 7.4 ist überschrieben: „Scharia ist ein menschliches Konstrukt“.
7 Wider die Beliebigkeit im Islam, 22.1.2013, www.islam.de/21745.php (alle Internetseiten zuletzt abgelesen am 8.3.2013).
8 Aufruf in Richtung Münster, Islamische Zeitung vom 23.2.2013, www.islamische-zeitung.de/?id=16503 .
9 Ein Professor und der Streit ums Paradies, 27.2.2013, www.dw.de/ein-professor-und-der-streit-ums-paradies/a-16632758 .
10 Offener Brief an Prof. Dr. Mouhanad Khorchide als Erwiderung auf seine Klarstellung, ohne Datum (1.3.2013), www.ditib-nord.de/content/offener-brief-prof-dr-mouhanad-khorchide-als-erwiderung-auf-seine-klarstellung .
11 Glaube – Dogma – Selberdenken, Mouhanad Khorchide spricht mit den Hamburger Muslimen Mustafa Yoldaş und Ramazan Uçar, Forum am Freitag vom 8.3.2013, www.zdf.de/Forum-am-Freitag/Muslime-ohne-Islam-26930552.html .
12 Die Gärten der Tugendhaften, aus dem Arab. von F. Bubenheim, Bd. 1, Köln 2009, 35-54, hier: 35. Er fährt fort: „Steht die Sünde im Zusammenhang mit dem Recht eines anderen Menschen, so kommt zu den drei genannten Bedingungen noch eine vierte hinzu, nämlich, dass man sich von der Verpflichtung gegenüber der betroffenen Person freimacht.“
13 Abd ar-Rahman al-Djaziri, Kitab al-fiqh ala l-madhahib al-arba’a (5 Bde.), Bd. 5, Beirut 1999, 372-386, hier: 373f.
14 Ebd., 372.
15 Ebd., 385 (Übersetzung F.E.).
16 Klarstellung zu aktuellen Vorwürfen aus Hamburg, www.uni-muenster.de/ZIT/Personen/Professoren/personen_khorchide_mouhanad.html#klarstellung .