Studiengang zum Alevitentum in Weingarten
An der Pädagogischen Hochschule in Weingarten (Baden-Württemberg) wurde im Mai 2014 der Erweiterungsstudiengang Alevitische Religionslehre/Religionspädagogik eröffnet. Es ist die erste religionswissenschaftlich fundierte und pädagogisch-didaktische Ausbildung in diesem Fach an einer Hochschule oder Universität in Deutschland. Nach Auskunft alevitischer Verbände handelt es sich überhaupt um die erste wissenschaftliche Stelle für alevitische Glaubenslehre weltweit. Neben einiger Prominenz ließ es sich auch die zuständige Landesministerin Theresia Bauer (Grüne) nicht nehmen, den Aleviten zu dieser historischen und gesellschaftspolitischen Errungenschaft zu gratulieren.
Von den geschätzt 600000 Aleviten in Deutschland lebt etwa jeder Sechste in Baden-Württemberg. Hier sind die Aleviten seit 2006 als eigene Religionsgemeinschaft anerkannt. Seitdem wird alevitischer Religionsunterricht (ARU) angeboten, der inzwischen an 30 Grundschulen auf dem Stundenplan steht. Nordrhein-Westfalen und Bayern folgten 2008, heute gibt es den bekenntnisorientierten ARU an knapp hundert Schulen in acht Bundesländern. Der Unterricht wird auf Deutsch gehalten und ist wie evangelischer oder katholischer Religionsunterricht versetzungsrelevant.
An der Lehrerqualifikation hapert es bislang. Seit 2011 machte die PH Weingarten ein vorläufiges Angebot zur Vorbereitung angehender ARU-Lehrkräfte – in der Regel bereits im Schuldienst tätige Lehrerinnen und Lehrer alevitischen Glaubens. Mit dem Wintersemester 2013/14 ging nun der offizielle Studiengang an den Start. Leiter ist Privatdozent Hüseyin Ağuiçenoğlu, der einer alevitischen geistlichen Familie entstammt und 2010 in der Schweiz habilitierte. Der Islam- und Sprachwissenschaftler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Centrums für Religionswissenschaftliche Studien in Bochum und forscht an der Universität Heidelberg.
Das aus Anatolien stammende Alevitentum hat eine „synkretische Tradition, die eine Synthese gnostischer, neuplatonischer, islamischer, christlicher, zarathustrischer und fernöstlicher Einflüsse darstellt“, erläuterte Ağuiçenoğlu. Dem neuen Studiengangleiter war es wichtig, in seiner Rede auf die stark mystische und ethische Ausrichtung des Alevitentums hinzuweisen, ebenso auf die Tradition der Gleichheit von Mann und Frau in der religiösen Praxis. Wie das komplexe Verhältnis von Religion und Migration zeige, eigne sich Religion zwar als Instrument zur Schaffung einer alternativen „virtuellen Heimat“ mit der Gefahr der Selbstisolierung und Ghettobildung. Die Freiheit, auf die Herkunftstradition zurückzugreifen, könne aber auch das Selbstbewusstsein der Zuwanderer fördern „und damit die Identifikation mit der Aufnahmegesellschaft, die ja diese Freiheit überhaupt erst geboten hat“. Die Entwicklung bei den Aleviten in Deutschland gelte als exemplarisch für diesen zweiten Weg. Die alevitischen Organisationen in Deutschland lehnten jede Form von Parallelgesellschaft und kultureller Abschottung ab und bekennten sich ausdrücklich zur pluralistischen Gesellschaft. „Denn erst der säkulare Rechtsstaat, der keine religiöse Grundlage hat und dessen politischer Herrschaftsanspruch sich letztlich in der Legitimität selbst gesetzter Verfahren begründet, garantiert die Freiheit der Menschen in Fragen des Bekenntnisses und der religiösen Praxis, was sich im Begriff der Religionsfreiheit manifestiert“, so Ağuiçenoğlu. Auf dieser Grundlage sei auch die Freiheit des Werbens für die eigene Religion wie auch die des Religionswechsels ohne Wenn und Aber zu bejahen, selbst das „aus freier Entscheidung erfolgte Aufgehen in der Mehrheitskultur“ sei zu respektieren.
Für die Wahrnehmung dieser Freiheiten bedarf es der Aufklärung und der Reflexion über die eigene Identität. Dem soll die Etablierung eines flächendeckenden alevitischen Religionsunterrichts dienen. Der jetzt eingerichtete Studiengang mit seinen begrenzten Kapazitäten wird den Bedarf an Lehrerausbildung nicht decken können. Doch ist mit der Institutionalisierung der alevitenbezogenen Forschung und Lehre ein bedeutender Schritt auf dieses Ziel hin getan. „Das ist eine der wichtigsten Errungenschaften der Aleviten überhaupt, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit“, betont Yilmaz Kahraman, der Bildungsbeauftragte des Dachverbandes Alevitische Gemeinde Deutschland (AABF). Viele Aleviten sehen den Startschuss in Weingarten auch als Signal an die Türkei. Dort gibt es weder einen Religionsunterricht noch eine Religionslehrerausbildung für Aleviten, obwohl sie zwischen 15 und 25 Prozent der Bevölkerung stellen.
Friedmann Eißler