Moshe Sharon (Hg.)

Studies in Modern Religions, Religious Movements and the Bābī-Bahā’ī Faiths

Moshe Sharon (Hg.), Studies in Modern Religions, Religious Movements and the Bābī-Bahā’ī Faiths, Numen Book Series. Studies in the History of Religions 104, Brill Verlag, Leiden 2004, X + 329 Seiten, 99,00 Euro.


Der Titel des Buches mag – ähnlich wie es dem Rezensenten ergangen ist – Erwartungen hinsichtlich „neuer Religionen“ und der Baha’i-Religion in der Gegenwart wecken. Tatsächlich liefert der fundierte Band aber reichhaltiges Material über die Entstehung und frühe Entwicklung einiger Religionen im 19. Jahrhundert. Hervorgegangen sind die insgesamt 12 Beiträge in diesem Buch aus einer internationalen Konferenz an der Hebräischen Universität Jerusalem im Dezember 2000 zur Thematik „moderner religiöser Bewegungen“ in Judentum, Christentum, Islam und in der Baha’i-Religion. In der Veröffentlichung dominiert thematisch die Baha’i-Religion, auf die sechs Aufsätze ausschließlich und zwei weitere ausführlich Bezug nehmen. Dieses Ungleichgewicht ist darauf zurückzuführen, dass nicht alle Teilnehmer an der Konferenz ihre Beiträge für den Band zur Verfügung gestellt haben (vgl. IX). Im Folgenden sollen jene Aspekte des Bandes hervorgehoben werden, die für die Leser des Materialdienstes von größerem Interesse sein dürften.

M. Sharon diskutiert das gemeinsame Erbe der neuen Religionen und Bewegungen des 19. Jahrhunderts (3-37), womit zugleich eine allgemeine Einleitung in die Thematik des ganzes Buches gegeben wird. Dabei betont er, dass das weitgehend zeitgleiche Entstehen einiger Bewegungen in Europa, dem Vorderen Orient und Nordamerika (Baha’i, Mormonen, Ahmadiya-Islam, chassidische Bewegung) eher zufällig geschehen ist. Diese Bewegungen haben alle monotheistische, im weitesten Sinn biblische Wurzeln. Das Verhältnis zu ihrem Ursprung gestaltet sich unterschiedlich – von völliger Loslösung über Randstellung hin zu vollkommenem Integriert-Bleiben. Als interessantes Phänomen in der Entstehung dieser Bewegungen beobachtet er eine Beziehung zur Buchstabenmystik, v.a. in der chassidischen Bewegung und beim Bab in der Vor- sowie in der Frühgeschichte der Baha’i-Religion, während innerhalb der christlichen neuen Richtungen dieser Mystik-Strang kaum entfaltet wurde. Auf Aspekte von Mystik und Gematrie gehen noch drei weitere Beiträge zum Judentum ein, nämlich M. Idel (41-75) , Y. Garb (77-96) und M. Buzaglo (127-139): letzterer diskutiert die Verwendung, aber auch den Missbrauch der Gematrie in der jüdischen Mystik, wie dies etwa zur Begründung der Ermordung des israelischen Premierministers Y. Rabin geschehen ist, indem der Name des Mörders gematrisch gedeutet wurde (vgl. 128).

Eine breitere Themenstellung klingt im Artikel von M. Momen „Millennialist Dreams and Apocalyptic Nightmares“ (97-116) an, worin er den Wandlungs- und Wachstumsprozess von kleineren Bewegungen untersucht und nach der Rolle des Millenniarismus in solchen Prozessen fragt. Momen unterscheidet zwischen „katastrophischem“ und „progressivem“ Millenniarismus, letzterer befähigt neue religiöse Bewegungen bzw. Religionen, extreme Naherwartungen zu überwinden und sich besser in die umgebende Gesellschaft als konstruktive Gestaltungs- und Veränderungskraft zu integrieren. An Hand der Baha’i-Religion betont Momen, dass bereits unter Baha’u’llah eine Entwicklung vom katastrophischen Typ (den die Anhänger des Bab stärker vertreten haben) zum progressiven Typ eingesetzt hat; unter Shoghi Effendi und der von ihm durchgeführten Systematisierung und administrativen Strukturierung der Baha’i-Religion sind schließlich die millenniaristischen Aspekte der Baha’i-Religion weitgehend in den Hintergrund gerückt. M. Momens Klassifizierung des „katastrophischen“ bzw. „progressiven“ Millenniarismus ist ein Modell, das durchaus auch für die Beschreibung anderer „neuer“ religiöser Bewegungen Sinn macht. Die Baha’i-Religion steht auch im Mittelpunkt von Ch. Bucks Artikel „The Eschatology of Globalization“ (143-178). Buck skizziert in seinen Ausführungen nicht nur die drei „Zielgruppen“, an die Baha’u’llah seine Verkündigung bevorzugt richtet (an [islamische] Mystiker, [rangniedrige] Religionsgelehrte, Politiker), sondern hebt v.a. hervor (159ff), dass die Sendschreiben an verschiedene Herrscher als zentraler Beitrag Baha’u’llahs zur Globalisierung und „Ethisierung“ der Welt betrachtet werden können. Diese Linie, die bereits in der Frühgeschichte der Baha’i-Religion deutlich wird, setzt sich später in den Aktivitäten der internationalen Baha’i-Gremien (in Hinblick auf globales Ethos, Frieden ...) als deren Beitrag zur Globalisierung fort.

Fünf weitere Beiträge widmen sich Einzelfragen aus der Baha’i-Geschichte des 19. Jahrhunderts. Interessante neue Aspekte werfen dabei die Ausführungen von S. Zabihi-Moghaddam (179-225) auf die Ereignisse der Jahre 1848 und 1849 mit der Verfolgung der Babi-Gemeinde. Ferner sind die Überlegungen von J. Cole (227-251) zur endgültigen Trennung zwischen den Baha’i und den Azali im Jahr 1867 aufschlussreich; ab diesem Jahr hat sich für die weitere Religionsgeschichte nicht nur die Baha’i-Religion etabliert, sondern es setzte innerhalb der Baha’i-Theologie auch eine rückwirkende Reduktion der Rolle von Subh-i Azal für diese Religion zwischen 1850 und ca. 1865 ein. Beide Beiträge sind nachdrücklich jenen Lesern zu empfehlen, die sich im Detail mit der Baha’i-Religion befassen.

Insgesamt ist dieser Konferenzband, dessen Benutzung ein umfangreicher Index erleichtert (319-329), qualitativ hochstehend, so dass er jenen Lesern des Materialdienstes empfohlen werden kann, deren Arbeitsbereich in der Geschichte und Entwicklung von religiösen Bewegungen im 19. Jahrhundert liegt. Leser, deren Arbeit mehr mit Fragen des alltäglichen Umgangs mit solchen Religionen heute befasst ist, sollten jedoch keine unmittelbaren Bezugnahmen auf praktische Fragen des Umgangs mit ihnen erwarten.


Manfred Hutter, Bonn