Ian McEwan

The Children Act

Ian McEwan, The Children Act, Vintage Books, London 2014, 224 Seiten, 8,70 Euro.


In seinem neuesten Roman begibt sich der britische Erfolgsautor in das Milieu der juristischen Auseinandersetzung mit Neuen Religiösen Bewegungen. Die bunte Welt des Familienrechts hält viele Facetten bereit: „The family division teemed with strange differences, special pleading, intimate half-truths, exotic accusations“.

Der wortspielerische Titel („Die Sache mit den Kindern“, „Kinder handeln“ und „Das Kinderschutzgesetz“) deutet die vielfach verwobenen Ebenen der Romanhandlung an. Fiona Maye ist eine renommierte Richterin in der Family Division des höchsten britischen Gerichts. Harmonisch ergänzen sich in ihrem Leben beruflicher Erfolg, kollegiale Anerkennung und ein erfülltes Privatleben. Mit Ihrem Mann lebt sie das abwechslungsreiche Leben, das London den Wohlhabenden der britischen Upper Class bieten kann. Gleichzeitig befindet sie sich in einer Dauerkrise, weil zwar ständig Neffen und Nichten zu Besuch sind, sie selbst es aber vor lauter Karriere verpasst hat, Kinder zu bekommen. Dieser Konflikt wird immer wieder mit dem religiösen Grundthema des Romans verwoben. Bei ihrer feierlichen Beförderung zum Karrierehöhepunkt weiß sie plötzlich: „… the game was up, she belonged to the law as some women had once been brides of Christ.“ Als auch noch eine Ehekrise hinzukommt, nehmen alle vor ihr verhandelten Familienrechtsfälle plötzlich eine zusätzliche persönliche Färbung an.

Zentrum der Handlung sind mehrere Rechtsfälle, die um Facetten des Themas „Kindeswohl und Religion“ kreisen. Ein römisch-katholisches Paar bekommt siamesische Zwillinge, die keine gemeinsame Überlebenschance haben. Einer OP zur Trennung, die den einen sofort töten, den andern aber überleben ließe, verweigern die Eltern aus religiösen Gründen die Zustimmung. Es wäre ein Verstoß gegen das fünfte Gebot. Hingegen wäre die Alternative, der dann unvermeidliche Tod beider Kinder eine unbegreifliche, leidvolle, aber dennoch von Gott auferlegte und im Glauben zu ertragende Erfahrung. Nun sucht das Krankenhaus eine gerichtliche Genehmigung für eine OP. In einem Sorgerechtsstreit im ultraorthodoxen jüdischen Milieu ist die Mutter aus der arrangierten Ehe ausgebrochen, hat ein Studium nachgeholt, zu arbeiten und zu rauchen begonnen und schickt nun die beiden Töchter auf eine jüdische Gemeinschaftsschule, wogegen der Vater klagt. Die Kinder sollen in die warme, geborgene Gemeinschaft zurückkehren, wo Bildung als unwichtig betrachtet und auf ein Minimum beschränkt wird. Der spannendste und zentrale Fall ist jedoch der eines fast 18-jährigen hochbegabten Zeugen Jehovas, der eine dringend nötige Bluttransfusion verweigert und hierbei von seinen Eltern, ebenfalls Zeugen, unterstützt wird. Das Krankenhaus ruft das Gericht an, um gegen den Willen aller Beteiligten Blut übertragen zu können.

Die immer wiederkehrende Frage ist, wie die Vorgaben des Kinderschutzgesetzes konkret umzusetzen sind. Was ist das Kindeswohl? Wie sind „welfare“, „happiness“ und „well-being“ auf das „richtige Leben“ zu beziehen? Wie sind gegenwärtiges Glück und Vielfalt künftiger Lebensoptionen zu gewichten? Welchen Wert haben religiöse Motivationen in einer säkularen Gesellschaft? Ist physisches Leben das höchste Gut? Der Charme des Romans besteht darin, dass er angesichts realer und realistischer Rechtsfälle zum Nachdenken über die ethischen Abwägungen anregt und eine verständliche Einführung in die juristischen Aspekte der Probleme und den Ablauf derartiger Verfahren bietet. Tatsächlich lesen sich die langen juristischen Passagen lebendiger als die Wendungen von Fionas höchstrichterlicher Biografie.

Obwohl Ian McEwan bekanntermaßen gegenüber jeglicher Religion kritisch eingestellt ist, vermeidet er die Versuchung, religiöse Extremgruppen abwertend zu beschreiben. In vielen „Sekten“-Romanen tauchen Neue Religiöse Bewegungen als schablonenhafte Bösewichte oder Dummköpfe auf, die allenfalls Abscheu oder Mitleid erregen, aber keine ernst zu nehmenden Gesichtspunkte und ehrlich gemeinten Überzeugungen vorbringen. Anders hier: Fundamentalisten jeder Couleur werden nicht als verbohrte, hörige und gesprächsunfähige Fanatiker, sondern oft als intelligent, liebevoll, warmherzig, redegewandt und reflektiert geschildert, die ernst zu nehmende ethische Dilemmata aufwerfen und ihre Position vertreten können. Die Eltern des jungen Zeugen Jehovas zeichnet McEwan als Menschen, die ihr völlig aus dem Ruder laufendes Dasein durch die rigorose Lebensgestaltung in der Wachtturm-Gesellschaft wieder in den Griff bekommen und dadurch ein zweites, diesmal dauerhaftes liebevolles Eheglück gefunden haben. Eine solche Darstellung der lebensintegrierenden Funktion enger Religionsgemeinschaften findet sich in der Literatur selten. Das Ehepaar und ihr Sohn können ihre Sicht der Dinge selbstbewusst für das Gericht artikulieren, als man ihre Hierarchiehörigkeit infrage stellt. „You probably have no idea what it is to submit to a higher authority. You have to understand that we do so out of our own free will.“ Man glaubt es ihnen.

Während die o. g. Fälle teilweise fiktiv waren, sind einige skandalöse Fehlurteile der jüngeren britischen Rechtsgeschichte in die Handlung eingestreut, die auf realen Vorbildern beruhen: Mütter, die nach jahrelanger unschuldiger Haft vom Vorwurf des Kindsmordes freigesprochen wurden, Männer, die aufgrund erfundener Vergewaltigungsvorwürfe unschuldig im Gefängnis waren (die Täterinnen blieben straffrei), mehrere Familien, die aus heiterem Himmel des satanistisch-rituellen Kindesmissbrauchs angeklagt wurden und ihre Kinder entzogen bekamen, ein maghrebinischer Vater, dem es trotz wiederholter Hilferufe der Mutter an die Justiz gelang, seine Kinder der englischen Ehefrau und Jurisdiktion durch Entführung zu entziehen. So entsteht beim Leser ein Bewusstsein für die Fragilität des Versuchs, ethische und existenzielle Fragen auf juristischem Wege zu klären. Es bleibt letztlich das Gefühl, dass Gesetze niemals Glück schaffen, sondern bestenfalls Unrecht einhegen, schlimmstenfalls aber viel zusätzliches Unglück verursachen können. Gelingendes Leben kommt auf anderem, gar nicht komplizierten oder tiefsinnigem Wege: „Kindness, the Family Division daily proved, was the essential human ingredient.“

http://ukhumanrightsblog.com/2012/10/11/in-the-name-of-god-ultra-orthodox-jewish-education-not-in-childrens-best-interest-rules-court-of-appeal (Sorgerechtsstreit im charedischen Judentum)

http://caribbean.scielo.org/pdf/wimj/v55n2/a12v55n2.pdf (siamesische Zwillinge)


Kai Funkschmidt