Tudor Parfitt

The Lost Tribes of Israel. The History of a Myth

Tudor Parfitt, The Lost Tribes of Israel. The History of a Myth, Phoenix House, London 22004, 310 Seiten, 8,99 Pfund.


Das englischsprachige Buch liegt seit 2004 bereits in zweiter Auflage vor. Das darin behandelte – weithin unterschätzte – Thema bleibt für die Erforschung der modernen Religionsgeschichte von aktueller Bedeutung.

Die Frage nach dem Verbleib der zehn Stämme des von den Assyrern zerstörten israelitischen Nordreiches wirkt auf den ersten Blick antiquarisch und randständig. Die Studie des englischen Judaisten Tudor Parfitt vermittelt dem Leser jedoch einen Vorstellungshorizont, der im protestantisch-angelsächsischen Kulturkreis und in jüdisch-orthodoxen Milieus nachhaltige Wirkung entfaltete.

Im einleitenden Kapitel stellt der Verfasser die Entwicklungsgeschichte der „Britisch-Israel-Theorie“ vom Ausgangspunkt der alttestamentlichen Propheten über die Apokryphen und Targum Pseudo-Jonathan bis ins Mittelalter hinein vor. Parfitt bezeichnet diese Theorie als Mythos. In den folgenden elf Kapiteln legt er unter der Prämisse chronologischer wie geographischer Aspekte die breite Wirkungsgeschichte dieses Mythos dar, die mit der Entdeckung Amerikas einsetzte und zwischen 1880 und 1930 ihren Höhepunkt erreichte. Zu Beginn steht der Versuch, die neu entdeckte Welt in das bestehende mittelalterlich-biblische Weltbild einzubinden, woran die Identifizierung der indigenen Bevölkerung mit den verschollenen jüdischen Stämmen entscheidenden Anteil hatte.

Prägend wirkten dabei Ideen, die besonders im Gefolge des englischen Puritanismus aufkamen. Endzeitliche Erwartungen wurden dort mit der Sammlung der zehn Stämme verbunden. Der Vorstellungskomplex amalgamierte sich mit mittelalterlichen Genealogien über den Ursprung von Briten und Iren. Aus diesem Konglomerat entstand im 19. Jahrhundert die „Britisch-Israel-Bewegung“, die die Briten und US-Amerikaner als Nachkommen der zehn Stämme interpretierte. Der Mythos übernahm hier die Funktion, die Angelsachsen als Herrenvolk und den Imperialismus als Teil der göttlichen Vorhersehung zu glorifizieren. In britischen Kolonien adaptierten indes christianisierte Völker, die oft zugleich im Dienst der Kolonialmacht standen, den Mythos in Bezug auf sich selbst. Auf diese Weise wurde die heilige Geschichte der Kolonialmacht aufgenommen und die Würde der Ahnen gewahrt. In Nordindien entwickelten sich daraus in jüngster Vergangenheit Konversionen zum Judentum und eine regulierte Auswanderung nach Israel.

Darüber hinaus erwies der Mythos für die Mormonen eine religionsbildende Kraft, nimmt doch hier die Sammlung der zehn Stämme den Rang eines Glaubensartikels ein. In Japan wiederum erzeugte er eine Mischreligion aus Schintoismus und Judaismus, bei der sich die Berufung auf den jüdischen Ursprung Nippons mit der Idee einer nationalen Wiedergeburt verbindet. Das Postulat einer jüdischen Abstammung im islamischen Raum behandelt Parfitt rein deskriptiv. Für Erstaunen sorgen bei der Lektüre die zahlreichen Belege aus Afghanistan, wobei der mit den Taliban sympathisierende Stamm der Paschtunen ausdrücklich hervorgehoben wird.

In der jüdischen Diaspora ist bis in die Moderne ein enger Zusammenhang zwischen Verfolgungssituationen und der Suche nach den zehn Stämmen zu beobachten. Mit der Gründung des Staates Israel und insbesondere nach dem Sechstagekrieg mit der Einnahme Jerusalems hat sich die Britisch-Israel-Theorie mit fundamentalistisch-messianischen Naherwartungen verbunden. 1975 wurde die Organisation Amishav zum Zweck der Auffindung und Rückführung der zehn Stämme etabliert, die zugleich mit der Siedlerbewegung in Verbindung steht. In traditionellen Zusammenhängen ist indes die Deutung der äthiopischen Falaschas als Nachkommen des Stammes Dan und ihre Evakuierung durch die israelische Armee zu verorten.

Parfitts Studie gibt dem Leser einen fundierten und unterhaltsamen Überblick über Entwicklung, Verbreitung und Funktion des Mythos der verlorenen zehn Stämme. Der Autor weist ihn als Aspekt in der Religionsgeschichte der Moderne auf, in dem eschatologische Hoffnungen und religiös-politische Ideen ihren Ausdruck finden. Zugleich weist der Autor darauf hin, dass dieser Mythos in der Zeit des Kolonialismus ein Mittel war, fremde Völker in europäische Vorstellungen zu integrieren. Leitend war dabei nicht das Verstehen, sondern die Projektion.


Robert Giesecke, Schöningen