The Mergence of Spaces. Experiences of Reality in Digital Role-Playing Games
Elke Hemminger, The Mergence of Spaces. Experiences of Reality in Digital Role-Playing Games, edition sigma, Berlin 2009, 170 Seiten, 36,90 Euro.
Dass Aufklärung in Mythos umschlagen kann, weiß man seit der „Dialektik der Aufklärung” von Horkheimer und Adorno. Leider ist diese Erkenntnis nicht vorhanden, wenn es um virtuelle Welten und Computerspiele geht. Allzu wohlfeil fallen hier Schlagworte wie „Sucht”, „Vereinsamung” und – natürlich – auch „Gewaltbereitschaft”. Ereignet sich dann noch ein Amoklauf, ist der Mythos vom schädlichen Einfluss digitaler Spielwelten sehr schnell zur Hand. Doch hier gilt – wie auf dem Gebiet neuer Medien generell (siehe Facebook!) –, dass oft diejenigen, die am wenigsten Ahnung haben, oft besonders entschieden auftreten. Elke Hemminger gehört nicht zu diesen voreiligen Mahnern und Warnern, denn sie weiß sehr genau, wovon sie spricht. Und wohl gerade deshalb kommt ihre kleine Studie über die Szene der digitalen Fantasy-Rollenspiele ausgesprochen nüchtern und unaufgeregt daher. Vorgelegt wurde eine sozialwissenschaftliche Untersuchung, zu der auch Interviews mit den jungen Nutzern digitaler Fantasy-Rollenspiele gehören. Elke Hemminger kommt zu Ergebnissen, die landläufigen Vorurteilen doch deutlich widersprechen. Das Problempotenzial wird zwar durchaus nicht ausgeblendet, sondern angesprochen, dabei aber auf ein wohltuend undramatisches Maß reduziert. Für die Nutzer solcher Spiele sind sie ein Hobby, keine in welcher Art auch immer geartete Therapie. Für die Gefahren haben die Fantasy-Rollenspieler trotzdem durchaus ein Sensorium. Die Unterstellung eines Suchtverhaltens und der Vereinsamung verhindert offenbar nicht, dass viele Nutzer ihr Verhalten durchaus selbstkritisch reflektieren können. Allerdings ärgern sie die Vorurteile, und wer Elke Hemmingers Innenaufnahme dieser Szenen liest, versteht auch warum. Denn die Autorin zeigt auf sehr überzeugende Weise, dass das Fantasy-Genre jungen Menschen die Möglichkeit bietet, jenseits der Begrenzungen und oft auch der Zwänge des Alltags „ein kohärentes System von Sinn und moralischen Werten” zu erleben, das ihnen hilft, ihr Gespür für Sinn und Moral im wirklichen Leben weiterzuentwickeln (141). Damit können digitale Fantasy-Rollenspiele sogar stark zur Identitätsfindung beitragen. Sie sind „eine sichere und sinnvolle Simulation gesellschaftlicher Anforderungen” (141), also im Gegensatz zu so manchem geäußerten Verdacht durchaus an soziale Systeme diesseits der Digitalität anschlussfähig.
Wer Elke Hemmingers Studie liest, der begreift, dass Realität und Virtualität auf dem Gebiet der Fantasy-Rollenspiele ein Verhältnis haben, das jenem zwischen Moderne und Postmoderne entspricht, zumal das Fantasy-Genre von der Ästhetik der Postmoderne nicht zu trennen ist: So wie die Postmoderne auf eine spielerisch-distanzierte Weise durchaus immer noch Teil der Moderne ist, sind die virtuellen Welten der Fantasy-Rollenspiele ein spielerisch-distanzierter Teil der Realität, indem sie deren Systemregulative – etwa auf dem Gebiet der Moral – thematisieren. Virtualität wird so gleichsam zu einer Art Testlabor der und für die Realität. Die Autorin schließt mit dem Appell, dass es Zeit werde, die Bedeutung der Online-Räume für ihre Nutzer anzuerkennen und zu akzeptieren, dass viele Leute den Online-Raum in ihre Alltagsrealität einbeziehen (143). Dem ist zuzustimmen, und in diesem Sinne ist der Untersuchung eine möglichst weite Verbreitung zu wünschen, wobei es gut wäre, wenn sie auch auf Deutsch vorliegen würde. Sie ist nämlich ein wichtiger „Entwarnungsbeitrag” in einer so oft von Alarmismus wie auch von Unkenntnis geprägten Debatte.
Christian Ruch, Chur/Schweiz