Theo-Sophia. Christlich-abendländische Theosophie - Eine vergessene Unterströmung
Gerhard Wehr, Theo-Sophia. Christlich-abendländische Theosophie – Eine vergessene Unterströmung, Die Graue Edition, Kusterdingen 2007, 332 Seiten, 24,00 Euro.
Bei der sogenannten Theosophie muss man seit der Gründung der „Theosophischen Gesellschaft“ im Jahre 1875 mit ihren deutlichen Anleihen aus asiatischen Traditionen unterscheiden zwischen einer christlich-abendländischen und der okkult-morgenländischen Richtung. Der Streit zwischen diesen beiden Richtungen hat sich in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts ein Stück weit innerhalb der 1902 gegründeten Theosophischen Gesellschaft in Deutschland abgespielt, nämlich unter der Leitung ihres damaligen Generalsekretärs Rudolf Steiner, und schließlich entscheidend zur Abspaltung der Anthroposophie beigetragen. Allerdings kann man Steiner selbst nur bedingt zu jener christlich-abendländischen Theosophie, auf die er sich gern rückbezogen hat, zählen, insofern er doch bereits stark durch die okkult-asiatische Richtung geprägt war – etwa hinsichtlich der selbstverständlichen Voraussetzung des Reinkarnations- und Karmagedankens.
Gerhard Wehr steht selber dem Denken Steiners nahe, und das erklärt, warum er diesen differenzierungslos zur christlich-abendländischen Tradition zählt. Undifferenziert bleibt das dicke Kapitel über Steiner nicht zuletzt wegen der verweigerten Aufnahme neuester wissenschaftlicher Forschungen über dessen geistige Entwicklung und Ausrichtung (Helmut Zander, Werner Thiede). Mit Recht weist Wehr die Auffassung zurück, Steiners Anthroposophie sei eine „bloße Fortsetzung der anglo-indischen Theosophie“; eine derart platte, simplifizierende Auffassung begegnet allerdings kaum. Umgekehrt halte ich die hier vorliegende Deutung Steiners von der christlich-abendländischen Theosophie her für entschieden zu einseitig. Man bedenke nur, dass etwa Jakob Böhme und Emanuel Swedenborg, ja überhaupt fast die ganze christlich-theosophische Linie vor Steiner, über die Wehr informiert, den Seelenwanderungsgedanken ablehnt! Und diese grundlegende weltanschauliche Differenz ist alles andere als eine Kleinigkeit.
Wehrs „Annäherung“ an sein Thema über die Gebiete der Alchemie und der Kabbala geht in Ordnung, und die „Entfaltung“, die sich über wichtige und weniger wichtige Personen und Stränge der abendländischen Theosophie bis hin zur russischen Sophiologie erstreckt, zeugt von dem ausgewiesenen Kenner der Materie, der in etlichen anderen Büchern diese Gebiete schon behandelt hat. Doch Rudolf Steiner undifferenziert unter diese Entfaltung der „vergessenen Unterströmung“ zu rechnen, obwohl inzwischen genügend wissenschaftliche Forschung auf diesem Gebiet vorliegt, die ein genaueres Bild ermöglicht, geht mitnichten in Ordnung.
In einem Exkurs nimmt Wehr schließlich das Thema eines anderen seiner Bücher auf, indem er über „Wesen und Legitimation christlicher Esoterik“ schreibt. Hier weist er darauf hin, dass es im Christentum von Anfang an „esoterische“ Ausgestaltungen gab – was zutrifft, wenn man seine Definition übernimmt: „Von christlicher Esoterik kann überall dort gesprochen werden, wo die Fülle der christlichen Botschaft zumindest auf den ersten Blick dem Verständnis vieler entzogen, als eine inspirierende, die Erkenntnis des einzelnen vertiefende, schließlich das Leben in seiner Totalität verwandelnde Kraft erfahren wird.“ Dass uns Heutigen in diesem Sinn eigentlich eine „kirchliche Esoterik“ fehlt, habe ich kürzlich in meinem Büchlein „Theologie und Esoterik“ (2007; vgl. MD 11/2007, 436f) deutlich gemacht. Dort habe ich aber auch gezeigt, was in dieser Hinsicht den Unterschied zur landläufigen Esoterik ausmachen müsste – und warum daher etwa die Modelle des Gnostizismus aus christlich-theologischer Perspektive sehr wohl (und anders als bei Wehr ausgeführt) der Kritik bedürfen.
Wehrs Buch macht mit Recht auf die Strömung abendländischer Theosophie neu aufmerksam. Dieser spirituelle Impuls hat etwas Sympathisches, bedarf aber doch in mancher Hinsicht der historischen und theologischen Korrektur. Die Lektüre ist insofern nur bedingt empfehlenswert.
Werner Thiede, Regensburg