Theodizee: Gottes Rechtfertigung durch sich selbst
Reflexionen zu einer religiösen und weltanschaulichen Grundfrage
Die Theodizeefrage benennt ein Problem, das alle Menschen kennen, die den Gottesgedanken auch nur halbwegs ernst nehmen: Es geht um die grundlegende Frage nach dem Verhältnis Gottes als dem Inbegriff des Guten einerseits und der Unvollkommenheit des Weltganzen wie der je eigenen Existenz andererseits.1 Nicht nur das Hiob-Buch im Alten Testament, sondern auch schon Siddhartha Gautama2 und andere haben sich mit dem Theodizeeproblem herumgeschlagen. Ob und wie es gelöst wird, hat entscheidende Konsequenzen für das Gottes- und Weltverständnis. Gautama etwa gründete den Buddhismus mit seiner atheistischen Note auf die These der Unlösbarkeit des Theodizeeproblems. Monistische Systeme leben davon, Leid samt allem Bösen irgendwie in ihren Gottesbegriff mit zu integrieren.3 Und die christliche Religion – steht sie im Grunde ähnlich wie der Buddha vor einem unlösbaren Rätsel, wie oft gemutmaßt wird? Solch eine Annahme entspräche nicht der neutestamentlichen Botschaft vom nahegekommenen Gottesreich, sondern ließe die Fragenden in einem heteronomen Gottesverhältnis verharren.
Ist christliche Religion vielleicht auf den monistischen Weg angewiesen, wie manche Religionsphilosophen, Theosophen, Theologen und Sekten meinen? Oder tut sich im Zeichen ihres trinitarischen Gottesglaubens ein eigener Weg auf, das theologisch, philosophisch und weltanschaulich so zentrale Problem der Theodizee zu lösen?
Ich plädiere für Letzteres.4 Als einmal im Fernsehen ein Beitrag über Hexenverbrennungen im Mittelalter lief, hatte mein damals siebenjähriger Sohn Johannes am Rande mitgehört. Mit Blick auf das Märchen „Hänsel und Gretel“ fragte er seine Mutter erstaunt: „Was, es gab damals ganz echte Hexen?“ Meine Frau antwortete: „Nein, man meinte nur, es seien Hexen gewesen. Es waren aber normale Menschen.“ Johannes: „Und die hat man verbrannt? Der arme liebe Gott! Da hat er die Menschen so schön gemacht, und dann wurden sie verbrannt ...“ Das können offenbar schon Grundschüler verstehen: Gott selber hat Grund, an seiner Schöpfung zu leiden! Dass er es bereitwillig tut, dafür steht das christliche Symbol des Kreuzes. Es bringt den dreieinigen Gott und das Leid auf einen Nenner. Zugleich ist es auch Symbol der Erlösung, der Befreiung vom Leid. Die christliche Erlösungsreligion macht Hoffnung darauf, dass Gott alles Leid einst überwinden und damit die Sehnsucht der Menschen nach Erlösung herrlich erfüllen wird.
Diese Hoffnung lässt die Welt noch einmal ganz anders anschauen. Denn nur wenn die Welt auch anders sein kann, als sie ist, hat die Rede vom „Reich Gottes“5 Sinn. Das Neue Testament spricht vom universalen Gottesreich als der vollendeten Schöpfung, der ewigen Zukunft, die der Schöpfer dem All gewähren wird. Mit diesem Horizont kosmischer Erlösung erst wird die christliche Botschaft von Gott als Liebe möglich. Die Welt als Gottes Schöpfung kann letzten Endes auch anders sein, als sie ist – nämlich eine Wirklichkeit ohne Leid, ohne Schmerz und Tränen. Christus als der Mensch gewordene Sinn des Alls6 ist mit seiner Auferstehung auch die Ansage der Auferstehung aller Toten7, der göttlichen Zukunft aller Kreatur.
Ist aber Christus dieser letzte Sinn des Kosmos, dann und gerade dann drängt sich die Frage auf, warum die Welt nicht immer schon so ist, wie sie im Geist seiner Liebe sein könnte. Es ist das die alte Frage, die überall dort auftaucht, wo von einem Sinn gebenden Schöpfergott die Rede ist: Warum hat er die Schöpfung nicht gleich vollkommen gemacht? Wie soll er es verantworten können, dass sie so voller Leid ist? Seit der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz 1697 den Begriff der „Theodizee“, der Rechtfertigung Gottes angesichts einer leidvollen Welt, geprägt hat, spricht man vom „Theodizeeproblem“. Bleibt es ohne echte Lösung, dann drängt sich – zwar nicht zwingend, aber doch tendenziell – die weltanschauliche Antwort des Atheismus auf. Dem früh verstorbenen Mediziner und Literaten Georg Büchner zufolge ist das Theodizeeproblem oder einfacher: die menschliche Erfahrung des Bösen und des Leidens „der Fels des Atheismus“8. Zu denken wäre hier nicht nur an allerlei schreckliche Naturkatastrophen, sondern ebenso an Katastrophen moralischer Art: Mit den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, mit den Vernichtungslagern in Deutschland und andernorts, mit den beiden Atombombenabwürfen in Japan und mit den Terroranschlägen des 21. Jahrhunderts9 werfen sie unüberhörbar die Frage nach Gott auf, der all dies und noch viel mehr an menschlichen Untaten zugelassen haben soll. Ja, stellt sich die Gottesfrage angesichts so vieler Übel und Leiden überhaupt noch? Hat sie sich nicht für die aufgeklärte Vernunft von selbst erledigt?
Gerade der „Gott der Liebe“ provoziert die Theodizeefrage
Wer den Schluss zieht, die Gottesfrage habe sich erledigt, darf freilich nicht verkennen, dass er sie insgeheim doch gestellt und eben weltanschaulich negativ beantwortet hat. Es wird dann wohl nicht unbedingt die Frage nach dem Gott gewesen sein, den das Christentum verehrt – obwohl der Gott des christlichen Glaubens zweifellos mehr als jeder andere die Theodizeefrage provoziert! Denn hier wird er ausdrücklich als Gott der Liebe aufgefasst: „Gott ist Liebe“, heißt es sogar wörtlich zweimal nacheinander im 1. Johannesbrief des Neuen Testaments (4,8 und 16). Dies ist im Bereich der Religionen eine durchaus ungewöhnliche Bestimmung. Möglich geworden ist sie erst durch die Botschaft vom Kommen, Sterben und Auferstehen Jesu Christi. Die im christlichen Kulturkreis gängige Rede vom „lieben Gott“ ist zwar längst eine abgestumpfte, die an Leuchtkraft verloren hat. Aber selbstverständlich ist sie nach wie vor nicht. Gerade in ihrem Umfeld gewinnt die Theodizeefrage ein besonderes Recht, ja besondere Schärfe. Beschreibt doch diesen lieben Gott das christliche Credo als den „allmächtigen Vater“!
Im Alten Testament stellt sich deshalb das Theodizeeproblem noch nicht derart scharf. Dort ist ja Gott noch nicht der liebende Vater der Menschen, wie ihn das Christentum verkündet. Vielmehr kann beispielsweise der Prophet Amos fragen: „Ist etwa ein Unglück in der Stadt, das Jahwe nicht tut?“ (3,6). In den Klageliedern wird angesichts großen Leides formuliert: „Wer darf denn sagen, dass solches geschieht ohne des Herrn Befehl und dass nicht Böses und Gutes kommt aus dem Munde des Allerhöchsten?“ (3,37f). Allerdings sind das eher vorsichtige Behauptungen – in Fragegestalt! Gott ist hier jedenfalls noch keineswegs als „Liebe“ definiert. Und doch ist das Alte Testament gewissermaßen schon auf dem Weg zum Neuen. Man spürt das etwa, wenn in den eben zitierten Klageliedern von Gott gesagt wird: „Denn nicht von Herzen plagt und betrübt er die Menschen“ (3,33).
Jesus sagt in der Bergpredigt relativ ähnlich: Der Vater im Himmel „lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“ (Matth 5,45). Aber Gut und Böse ist hier nun auf der Seite der Menschen beisammen, nicht auf der Seite Gottes. Demgemäß fragt Jesus kritisch zurück, als ihm in Galiläa nach dem Einsturz eines Turmes mit der Folge etlicher Toter die Theodizeefrage gestellt wird: „Meint ihr, dass diese Galiläer mehr gesündigt haben als alle anderen Galiläer, weil sie das erlitten haben?“ (Luk 13,2).
Ist Gott womöglich distanziert gegenüber Glück und Unglück? Sollte er selber jenseits von Gut und Böse stehen? Das gerade kann Jesus, der Gottes Liebe wie kein anderer bezeugt hat, nicht gemeint haben. Man denke etwa an seine Aussage, es falle kein Spatz auf die Erde „ohne euren Vater“ (Matth 10,29). So lautet jene Aussage Jesu wörtlich – und nicht etwa: „ohne dass Gott es weiß“ oder gar: „ohne dass Gott es will“, wie manche Übersetzungen formulieren zu müssen meinen. Nein, Jesus zufolge ist Gott – wirklich der „liebe Gott“! – selber dabei, also selber nicht nur kognitiv, sondern auch affektiv, ja seinsmäßig betroffen, wenn auch nur einem seiner kleinsten Geschöpfe ein Leid geschieht.
Jesus steht mit seinem Gang an den Kreuzesgalgen ganzheitlich für dieses Mitleiden Gottes. Das Kreuz ist durch ihn zum Symbol des mitleidenden Gottes geworden. Aber wie verhält es sich zur Rede von Gott, dem Allmächtigen, dem Herrscher über die von ihm geschaffene Welt? Der Neutestamentler Günter Klein hat in einem Aufsatz „Über das Weltregiment Gottes“ exegetisch aufgezeigt, dass „die Urchristenheit das Weltregiment ihres Gottes“ lediglich als partikular und vorläufig erfahrbares, freilich die Zukunft der vollendeten Schöpfung vorwegnehmendes Geschehen verstanden hat.10 In diesem Sinn hat sie auch die „Herrschaft Christi“, des auferstandenen Gottessohnes, als „reines Wortgeschehen“ inmitten einer gegenüber Gott nach wie vor rebellischen Welt aufgefasst. Die neutestamentliche Sichtweise besagt also: „Weltgeschichte hatte sich immer schon verselbständigt zu terroristischer Übermacht ... Nirgendwo wird die ... Geschichte transparent für ein herrscherliches Weltwalten Gottes.“ Gott greift zwar durchaus „machtvoll in die Geschichte ein, indem er zum Gotteslob gefügte Gemeinde stiftet als den Bereich seines Friedens auf dieser Erde. Außerhalb dieses Machtbereichs ... wirkt eine friedlose Menschheit fortwährend an der Katastrophenträchtigkeit der Weltgeschichte.“11 Kurz: Das von Jesus angesagte Gottesreich ist in universaler Ausdehnung Gegenstand gläubiger Zukunftshoffnung, wie das nicht zuletzt aus der Vaterunser-Bitte „Dein Reich komme“ hervorgeht. Gottes Herrschaft ist im Neuen Testament keineswegs als irdisch gegebenes Faktum vorausgesetzt.
Es ist also nichts mit der Erwartung, Gott walte allenthalben in allen Dingen. Im Gegenteil, an mehreren Stellen wird der Teufel als „Herrscher dieser Welt“ bezeichnet (z. B. Joh 12,31; 14,30; 16,11; ferner Eph 2,2; 6,12; 1. Kor 2,6). Gewiss ist Gott „der Herr des Himmels und der Erde“ (Apg 17,24), aber „gar heimlich führt er sein’ Gewalt“, wie es Martin Luther in dem Lied „Nun freut euch, lieben Christen g’mein“ formuliert hat. Bekanntlich hat Luther dezidiert vom „verborgenen Gott“ gesprochen – und ihn in teilweise problematischer Weise neben den in Jesus Christus offenbarten Gott gestellt.
Gott und Leid zusammendenken
Kann und soll denn solche Rede vom „verborgenen Gott“ unter seinem Wirken im Geheimen kritische Nachfrage ruhigstellen? Das Problem drängt sich doch auf, wie man sich näherhin den Grund dafür denken soll, dass Gott sich gegenwärtig weithin als ohnmächtig erweist, um erst in der Zukunft der Schöpfungsvollendung seine Allmacht zu zeigen. In der Bibel wird darüber nirgends „spekulativ“ oder „dogmatisch“ Auskunft erteilt. Wohl gibt es Andeutungen, wohl mancherlei paradox klingende Auskünfte, aber weder philosophische noch theologische Abhandlungen dazu. Das entspräche auch kaum dem literarischen Genus der Heiligen Schrift.
Sollte von daher gleichermaßen in unseren Zeiten das Theodizeeproblem mit frommem oder unfrommem Gestus ins Abseits verwiesen werden? Ist vernünftige Nachfrage schlechthin unratsam, unangebracht, unbescheiden? Bleibt uns theologisch bis heute nichts anderes, als mit Hiob am Ende – nach allerlei Klagen und Anklagen gegenüber Gott – demütig zu bekennen: „Ich erkenne, dass du alles vermagst, und nichts, das du dir vorgenommen, ist dir zu schwer ... Darum hab ich unweise geredet, was mir zu hoch ist und ich nicht verstehe“ (42,2-3)? Nein! Solch fromme Bescheidenheit bleibt im Horizont alttestamentlichen Gottesglaubens stecken. Die Herausforderung, aber auch die Chance auf echte, tiefe Antwort ist neutestamentlich ungleich größer. Gerade im Zusammenhang mit Ausführungen über Jesu Kreuzestod spricht der Apostel Paulus von „Weisheit bei den Vollkommenen“ (1. Kor 2,6). Zwar sei die göttliche Weisheit der nichtgläubigen Welt „im Geheimnis verborgen“ (2,7); den Gläubigen jedoch habe Gott Offenbarung geschenkt „durch seinen Geist; denn der Geist erforscht alle Dinge, auch die Tiefen der Gottheit“ (2,10).12 Und spricht nicht der Kolosserbrief vom „Reichtum des vollen Verständnisses, zu erkennen das Geheimnis Gottes“ (2,2)?
Christlicher Glaube kommt her von der Erkenntnis: In Jesus Christus hat Gott sein Herz offengelegt, sich selber in seinem Wesen offenbart. Sein Geist erleuchtet die Herzen der Glaubenden, macht sie seiner Liebe gewiss und zündet bleibende Hoffnung in ihnen an. Wer in diesem Kontext noch sagt, wie Gott und Leid zusammen zu denken seien, entziehe sich aller theologischen Erklärung, der erweist sich gerade nicht als Theologe des Kreuzes. Denn das Kreuz steht keineswegs für ein demütiges Ja zum Nichtwissen in dieser schwerwiegenden Frage, vielmehr im Licht der Auferstehung Jesu dafür, dass nun gewusst und bewusst werden darf: Gott und Leid sind auf einen Nenner zu bringen! Hier ist nicht Schulterzucken, sondern Antwort, nicht Schweigen, sondern ansprechendes Wort. Hier herrscht kein Denk- und Frageverbot – im Gegenteil! Hier weht der Geist, der darauf aus ist, alles zu durchdringen, also auch Herz und Verstand des Menschen. Dass das im Neuen Testament noch nicht in strengen, schulmäßigen Reflexionen geschieht, bedeutet keineswegs deren Verbot. Vielmehr ist solches Reflektieren gerade dort geboten, wo es zu jenem Lebensumfeld gehört, in das die Kunde von Jesus Christus ihrerseits zu gegebener Zeit vordringen möchte.
Dieser Prozess hat sich kirchen- und dogmengeschichtlich konkret und unvermeidlich abgespielt, als das Evangelium tiefer in die Welt der griechisch und römisch beherrschten Kultur hineingetragen wurde. Deshalb hat sich auch die Gestalt der trinitarischen Gotteslehre, die im Neuen Testament nur angedeutet, aber der Sache nach im Keim voll vorhanden ist, erst ab dem 2. Jahrhundert substanziell entfaltet. Es lag allerdings ebenso am Geist der griechischen Philosophie, dass das christliche Gottesbild hinsichtlich der Theodizeefrage in einer bedenklichen Richtung eingefärbt wurde. Abgekürzt gesagt: Gott wurde statischer, in seiner „Absolutheit“ unbeweglicher gedacht, als es die biblischen Schriften durchweg nahelegen. Das metaphysische Axiom der angeblichen „Unveränderlichkeit“ Gottes hat insofern auf viele Jahrhunderte hin theologische Wege versperrt, die Frage nach dem Zusammenhang von Gott und Leiden in einer angemessenen Weise einer Antwort näherzuführen.
Man wird sogar davon ausgehen müssen, dass der entsprechend zwielichtig gebliebene Gottesglaube als solcher mit schuld daran war, dass spätestens dann, als im Gefolge der Konfessionskriege die kirchlichen Lehren an allgemeiner Überzeugungskraft und damit an Einfluss verloren hatten, dem Aufklärungszeitalter Tür und Tor geöffnet wurden. Ein blass gewordener, nicht wirklich mit seiner Herrschaft „nahe gekommener“, sondern immer noch fern gebliebener Gott konnte nun philosophisch und weltanschaulich mit leichter Hand zur Seite geschoben werden. Der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz erklärte in seinem berühmten Essay „Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels“ (1710), die vorfindliche Welt mit ihren natürlichen und moralischen Übeln sei die beste aller möglichen Welten – die beste, die Gott überhaupt habe schaffen können. Die Welt wird von ihm also erklärt als notwendig so gewordene. Sie, die Welt, wird gerechtfertigt als der Ausschluss aller anderen Möglichkeiten von Welt. Das aber kann angesichts des unsäglichen Leidens in der Welt eigentlich keine überzeugende und ernsthaft tröstende Rechtfertigung Gottes sein. Leibniz hat einen typischen Fehler der „Neu-Zeit“ gemacht: Er hat seine Epoche selbst unausgesprochen als die eschatologisch „neue Zeit“ unendlichen Fortschritts angesehen13, statt im Sinne des Neuen Testaments mit der Vollendung der Schöpfung durch Gott selbst zu rechnen – und deshalb auf die beste aller möglichen Welten noch zu warten! Der Gott, der die jetzige, leidvolle Welt als „beste“ gesetzt haben soll, kann im Grunde nur als ein ihr relativ distanziert gegenüberstehender Schöpfer gedacht und empfunden werden. Leibniz’ Theodizee lässt den Leser insofern am Ende ratlos oder gar spöttisch zurück.
Als knapp vier Jahrzehnte nach seinem Tod das See- und Erdbeben von Lissabon die abendländische Zivilisation erschütterte, reichte diese Katastrophe hin, den Vernunftglauben an Gott den Schöpfer nachhaltig zu erschüttern, den man sich im Gefolge aufgeklärter Kritik zunächst noch hatte erhalten wollen. Gegenüber aller „natürlichen Theologie“, die Gott und Welt in einer grundsätzlichen Harmonie zusammendachte, wirkte die Naturkatastrophe von 1755 wie ein Weckruf zu atheistischer Nüchternheit.
Die Vernunftkritik Immanuel Kants (1724-1804) schob denn auch – auf dem Höhepunkt der Aufklärung angekommen – die Frage nach Gott weiter ins Abseits. Das konnte gelingen, weil auch hier, nachgerade in Sachen „Theodizee“, alles zu verhandeln war „vor dem Gerichtshofe der Vernunft“14. Dabei sieht Kant diese Richterin zumindest in theoretischer Hinsicht als nicht zuständig an, was er in aller Strenge durchhält. Die Gottesfrage nämlich übersteige die Zuständigkeit der Vernunft. Man habe es hier letztlich „mit einer Glaubenssache zu tun“.15 Gleichwohl bleibt die Vernunft und nicht etwa der Glaube in Kants Perspektive das, was den Menschen letztlich ausmacht. Und sie ist seiner Überzeugung nach in der Lage, „diesen Prozess für immer zu endigen“16. Tatsächlich sucht der Königsberger Philosoph alle kirchliche Gotteslehre als „spekulativ“, nämlich die Grenzen der Vernunft überschreitend und damit unkontrolliert vorgehend, abzufertigen. Die Theodizeefrage sieht er deshalb als theoretisch unlösbar an.
Darin sind ihm Generationen von Theologen bis zum heutigen Tage gefolgt. Sie haben sich damit aber einer „aufgeklärten“ Religionsphilosophie verschrieben, die argumentativ im Endergebnis nicht über Hiob hinausführt und insofern auf alttestamentlicher Ebene verbleibt. Gegenüber der neutestamentlichen Botschaft und den geistigen Weiten, die sie eröffnet, kommt das beinahe einem Verrat gleich. Gott und das Leid – sollten damit notwendig unbegreifliche Gegensätze benannt sein, zu deren Auflösung „kein Sterblicher gelangen kann“17? Das Kreuz als Symbol der christlichen Religion versteht sich demgegenüber als Offenbarung Gottes eben an uns Sterbliche. Also müsste im Christus-Glauben doch auch die Antwort auf die Theodizeefrage zu finden sein. Wo Christus als die göttliche Weisheit in Person geglaubt wird, dort kann eigentlich diese Frage unmöglich mit irgendwelchen Vertröstungen abgespeist werden. Insofern ist es theologisch als eine tragische Entwicklung zu bezeichnen, dass die moderne Theologie ganz überwiegend bekennen zu müssen meint, ratlos zu sein in Sachen Theodizee. Höchst merkwürdig ist es, wie einig sich die christliche Schultheologie heutzutage durch fast alle Schulen und Konfessionen darin zu sein scheint, dass es auf die bekannte Frage, warum der allmächtige Gott trotz seiner Liebe unsagbar viel Leid und Ungerechtigkeit zulasse, bis zur universalen Offenbarung Gottes am Ende dieser Welt keine Antwort geben könne.18 Sollte es nicht seit dem Erscheinen des Logos, des Gotteswortes in Person auf Erden, theologisch obsolet geworden sein, den Anschein zu erwecken, als hätte man Botschafter des Schweigens Gottes zu sein?
Seit Christus gekommen ist, lässt sich ins Mysterium der Gottesgerechtigkeit Einblick nehmen. Bestimmt doch den „geistlichen Menschen“ gemäß 1. Kor 2,15 der göttliche Geist, der ihn befähigt, in die göttlichen Geheimnisse einzudringen! Gerade die Rechtfertigung des Menschen durch Gott eröffnet spiegelbildlich die Möglichkeit, Gottes Rechtfertigung vor der Anklage oder Klage des leidenden Menschen sinnvoll zu denken.19
Das Theodizeeproblem mag rein rational in der Tat nicht anzugehen sein, wie Immanuel Kant gezeigt hat.20 Aus der Perspektive des christlichen Glaubens jedoch tut sich sehr wohl eine die Vernunft in Anspruch nehmende Antwort auf: Gott rechtfertigt sich nicht vor der menschlichen Vernunft, sondern er gibt ihr zu erkennen, wie er sich selbst rechtfertigt – und nimmt sie dadurch für sich ein (im Sinne von 2. Kor 10,5).
Das „metaphysische Übel“
Der christliche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz hat bereits vor über 300 Jahren eine begriffliche Unterscheidung entwickelt, die ihn eigentlich hätte einer gültigeren Antwort näherbringen müssen, als er sie selbst gegeben hat. Er geht von drei unterscheidbaren Kategorien des Übels – lateinisch: malum – aus: von dem malum metaphysicum, dem malum naturale und dem malum morale.21 Die Differenz zwischen moralischem, nämlich von Menschen zu verantwortendem Übel einerseits und natürlichem Übel, etwa Naturkatastrophen und dergleichen andererseits ist unmittelbar einleuchtend (und wird doch bis heute in so manchen Beiträgen zur Theodizeefrage nicht angemessen berücksichtigt). Gerade dort, wo physische, naturbedingte Übel Leid verursachen und dem Menschen als moralischem Versager daran keine unmittelbare Schuld zugeschrieben werden kann, stellt sich nämlich die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes noch verschärft. Christliche Theologie hat im Anschluss an Paulus oft dazu tendiert, das moralische Versagen Adams und Evas als Ursache der nichtparadiesischen Zustände dieser Welt auszugeben. Diese Erklärungsmöglichkeit entfällt, seit die naturwissenschaftliche Evolutionstheorie die Annahme eines Urpaares der Menschheit hat obsolet werden lassen. Und seither ist die Theologie in Sachen Theodizee – wie gesagt – weithin ratlos geworden. Dabei hat sie ganz vergessen, dass laut Leibniz auch noch drittens, ja zu allererst, ans malum metaphysicum zu denken und hier der entscheidende Lösungsansatz zu finden ist: „Denn man muß beachten, daß es schon vor der Sünde eine ursprüngliche Unvollkommenheit im Geschöpf gibt, weil das Geschöpf seinem Wesen nach beschränkt ist ...“
Das „metaphysische“ Übel besteht laut Leibniz im Faktum unserer Geschöpflichkeit als solcher. Begründet sich das Kreatur-Sein doch in der Unterschiedenheit von Gott als dem schlechthin Vollkommenen! Leibniz hat hier Recht: Die Welt als das von Gott außerhalb seiner selbst als echt Anderes Gesetzte kann als solches Andere wesenhaft nicht göttlich-vollkommen sein. Es sei denn, man wollte es entsprechend der Weltanschauung des deutschen Idealismus als dialektische Selbstäußerung Gottes interpretieren, der sich selbst als Anderes setzt. Doch das entspräche dann nicht mehr ernsthaft dem christlich-theologischen Satz von der „Schöpfung aus nichts“, sondern eher einer Art „Schöpfung aus Gott“, einer creatio ex deo. Christliche Theologie hat allen Anlass, in dieser Frage Leibniz zuzustimmen und bei der göttlichen creatio ex nihilo zu bleiben. Sonst ist überhaupt alles am Ende bloß ein göttliches Spiel. Und dagegen spricht der Ernst und Schmerz des Kreuzes.
Der Gedanke des malum metaphysicum bietet nun zwar eine umgreifende Erklärung für die Übel der Welt, aber noch keine Erlösungsperspektive. Und die sollte nicht nur um des leidenden Menschen willen zu suchen sein, sondern um Gottes selbst willen! Indem Leibniz den Ausblick auf die Vollendung aller Dinge abblendete, entging ihm die Möglichkeit, ja Notwendigkeit, die Versöhnung Gottes mit dem Anderen, die ausstehende Integration des Kreatürlichen in die Gottesherrschaft in den Blick zu bekommen. Der Gedanke des „metaphysischen Übels“ muss stringent weitergedacht werden in Richtung der „metaphysischen“ Befreiung vom Übel, wie sie ja die christliche Tradition von alters her erhofft.
Gottes Allmacht schließt den Weg der Selbsterniedrigung ein
Im Blick auf den Begriff der Allmacht Gottes ergibt sich damit zunächst die eine Frage: Warum hat Gott überhaupt Anderes geschaffen, das dann folgerichtig auf den Weg des Leidens gestellt sein muss? Die Antwort hierauf erschließt sich von dem christlichen Gedanken her, dass Gott in sich Liebe sei. Gott liebt nämlich sich selbst, indem er Anderes liebt; er verwirklicht sich wesenhaft selbst durch Selbsttranszendenz. Indem er sich von sich selbst unterscheidet, kommt er schlussendlich auf die Unterscheidung von sich selbst und real Anderem. Es ist also die Liebe, die Anderes als Schöpfung setzt – und zwar im Sinne des „metaphysischen Übels“ zunächst notwendig als definitiv nichtgöttliche Wirklichkeit mit den Folgen struktureller Unvollkommenheit!
Um solche Unvollkommenheit zu erklären, ist es also abwegig, wie einst der Gnostiker Marcion dem Gott der Liebe vorsorglich sein Schöpfertum abzusprechen. Es ist vielmehr die Allmacht der Liebe Gottes, der in der Lage ist, einer von ihm verschiedenen Wirklichkeit ihr Dasein zu gönnen und sich gleichwohl seines entfremdeten Geschöpfes anzunehmen, ja es zu seinem Kind zu machen. Dass Gott das kann, ist seine Allmacht, die letztlich identisch ist mit Liebe und insofern auch alles Leiden in dieser Welt verantwortet. Es wäre freilich nicht die Allmacht der Liebe Gottes, wenn sie den Entfremdungsstatus der Welt nicht schon während deren Gesamtlaufzeit wenigstens ansatzweise durchbrechen wollte und könnte!
Genau hier nimmt die christliche Botschaft ihren Ausgangspunkt: Sie bekennt Gott als Liebe, indem sie ihn nicht nur als den Allmächtigen benennt, sondern zugleich als den, der sich aus Liebe mit der von ihm zunächst entfremdeten Welt konkret verbindet. Sie bekennt den Schöpfergott als den, der sich bereits während des Leidensstadiums der Schöpfung ein für allemal heilsam mit ihr identifiziert. Eben dies ist im Kommen, Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu Christi geschehen. Und es ist von Ewigkeit her in dem allmächtigen Gott so vorgesehen gewesen. Das Kreuz von Golgatha ist im Herzen Gottes des Vaters immer schon verankert. Dies haben Jürgen Moltmann22 und schon vor über einem Jahrhundert einige anglikanische Theologen23 deutlich herausgearbeitet. Dabei gehören Kreuz und Auferstehung selbstverständlich zusammen. Auch Jesu Auferstehung in Jerusalem ist von Ewigkeit her geplant gewesen – wie überhaupt die Vollendung der Schöpfung, sodass am Ende – mit dem Apostel Paulus gesprochen – „die Leiden dieser Weltzeit nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll“ (Röm 8,18).
Die Allmacht Gottes wird schließlich zu ihrem herrlichen Selbsterweis vor aller Welt kommen – das darf der Trost aller Leidenden sein, das ist die Wahrheit und Rechtfertigung der Träume aller Seufzenden.24 Dass diese Allmacht aber während der Entfremdungszeit der Schöpfung nicht unmittelbar in ihr wirksam und erkennbar ist, hat mit ihrem ureigensten Wesen zu tun. Denn es handelt sich um die Allmacht dessen, der die unbedingte Macht hat, sich selbst als Liebe zu verwirklichen – und eben deshalb vorübergehend auf umfassende Ausübung seiner All-Macht zu verzichten. Es ist die Allmacht dessen, der die Macht hat, sich selbst zu beschränken – und sich dennoch letztendlich erlösend in allem durchzusetzen, damit er dann sei „alles in allem“ (1. Kor 15,28). Vorerst aber muss er für dieses Ziel der Vergöttlichung der Kreatur im Sinne ihrer ewigen Partizipation an seinem Sein notwendig auf die Ausübung von All-Macht verzichten. Denn er muss dem Werden von wirklich Anderem Raum und Zeit geben. Dies ist das Mysterium der Allmacht, wie es sich gerade im Licht von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi darstellt.
Erstaunlich spät ist die christliche Theologie in ihrer Geschichte diesem Mysterium ansatzweise nähergetreten. Es war zunächst die jüdische Kabbala, die den Gottesgedanken erhellt hat, indem sie das Motiv der Selbstzurücknahme Gottes zugunsten eines mystischen Urraums in ihm selbst entwickelte.25 Damit war freilich die Schöpfung in theosophischer Manier als zwar Anderes, aber doch „Anderes in Gott“ gedacht. Echtes „Anders“-Sein musste somit stark relativiert erscheinen. Erst eine christliche Theologie des Kreuzes ist imstande, den Gedanken des Anderen außerhalb Gottes konsequent zu denken – ohne dabei wiederum auf den Gedanken einer schlussendlichen Versöhnung des Anderen mit Gott zu verzichten. Im Gefolge der Kabbala war es wiederum der jüdische Philosoph Hans Jonas, der das Motiv der Selbstbegrenzung Gottes weiterzuentwickeln trachtete.
Für Jonas ist Gott „werdender, wenngleich ewig existierender Geist“. Dabei drängt sich dem Philosophen insbesondere nach den Verbrechen von Auschwitz die Frage auf, wie dieser göttliche Geist dergleichen hat zulassen können. Er antwortet hierauf mit einer „glaublichen Vermutung“ mythischen Gepräges: „Im Anfang, aus unerkennbarer Wahl, entschied der göttliche Grund des Seins, sich dem Zufall, dem Wagnis und der endlosen Mannigfaltigkeit des Werdens anheimzugeben. Und zwar gänzlich ... Damit Welt sei, entsagte Gott seinem eigenen Sein; er entkleidete sich seiner Gottheit, um sie zurückzuempfangen von der Odyssee der Zeit, beladen mit der Zufallsernte unvorhersehbarer zeitlicher Erfahrung, verklärt oder vielleicht auch entstellt durch sie. In solcher Selbstpreisgabe göttlicher Integrität um des vorbehaltlosen Werdens willen kann kein anderes Vorwissen zugestanden werden als das der Möglichkeiten, die kosmisches Sein durch seine eigenen Bedingungen gewährt: Eben diesen Bedingungen lieferte Gott seine Sache aus, da er sich entäußerte zugunsten der Welt.“26
Göttliche Selbstentäußerung als Selbstbegrenzung
Jonas geht bei seinem Ringen um die Theodizeefrage nicht von Gott als dem allmächtig bleibenden Schöpfer aus: „Wenn Gott in irgendeiner Beziehung zur Welt steht – und das ist die kardinale Annahme der Religion –, dann hat hierdurch allein der Ewige sich ‚verzeitlicht’ und wird fortschreitend anders durch die Verwirklichungen des Weltprozesses.“27 Der Gedanke der Veränderlichkeit Gottes, eines Werdens des Schöpfers entspricht zwar kaum der hellenistisch-philosophischen Tradition, allemal jedoch – wie Jonas zu Recht betont – der biblischen Rede von Gott. Gerade vom Neuen Testament her muss bestätigt werden: Der allmächtige Gott hat die Macht bzw. die Fähigkeit zu leiden.
In der neueren theologischen Diskussion ist dieser Aspekt seiner Veränderlichkeit und dementsprechend seiner Leidensfähigkeit verstärkt aufgenommen worden.28 Dass der Schöpfer sich als solcher in Beziehung setzt zur Schöpfung und damit selbst begrenzt, setzt voraus, dass er im Verhältnis zur Zeit selbst gewissermaßen zeitlich, geschichtlich wird. Es gilt in der Tat, Gottes Geschichte mit der Geschichte zu denken29 – freilich so, dass dabei seine Ewigkeit nicht aufhört. Diese Paradoxie ist im Grunde keine: Wie im Menschen als dem „Ebenbild Gottes“ zwei Gehirnhälften miteinander schalten und walten, nämlich eine eher räumlich-holistisch orientierende und eine eher zeitlich-diskursiv denkende, so ist in Gott selbst das Miteinander von Ewigkeit und zeitlichen Bezügen kein Widerspruch, sondern das Kennzeichen seiner göttlichen Lebendigkeit.
Eberhard Jüngel hat in einer Paraphrase zu Karl Barths Gotteslehre ausgeführt, dass Gottes Sein als „im Werden“ zu denken sei, dass also Gott „sich in den Prozess einer Geschichte mit seiner Schöpfung einläßt“.30 Von dieser Warte aus ist er ins Gespräch mit Hans Jonas eingetreten: „Schöpferisch tätig zu sein heißt immer auch: sich durch sein eigenes Werk, durch sein eigenes Geschöpf begrenzen lassen ... Creatio ex nihilo, ursprüngliches Anfangen Gottes ist ein Akt schöpferischer Selbstbegrenzung Gottes.“31 Aber als christlicher Theologe bezieht Jüngel den Gedanken der Dreifaltigkeit Gottes in seine Argumentation ein. Dadurch kommt er über Jonas’ Rede von Gottes anfänglicher „unerkennbarer Wahl“ hinaus: „Es ist Gott keineswegs fremd, es ist ihm vielmehr wesentlich, sich selbst begrenzen zu können. So wie es dem ewigen Gott wesentlich ist, sich in sich selbst als Vater durch den Sohn und den Heiligen Geist zu begrenzen.“32 Den Gedanken göttlicher Selbstentäußerung kann Jüngel daher differenzierend aufnehmen: Sie werde neutestamentlich nur vom Sohn Gottes ausgesagt und nicht von Gott schlechthin.
Doch auch die These, dass die Selbstentäußerung und Selbstbegrenzung von Gott insgesamt auszusagen sei, ist im Bereich christlicher Theologie anzutreffen. Bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts hat der Theologe und PhilosophSören Kierkegaard verdeutlicht, dass Gottes Allmacht hinsichtlich seiner Schöpfung logisch seine freie Selbstzurücknahme impliziere. Gegenüber der Vorstellung Hegels von der Weltgeschichte als „Lebenslauf“ des göttlichen Weltgeistes hat Kierkegaard betont: „Alle endliche Macht macht abhängig. Allmacht allein vermag, unabhängig zu machen, aus Nichts hervorzubringen, was dadurch inneres Bestehen empfängt, daß die Allmacht sich zurücknimmt.“33
Die Überlegung, dass die Selbstentäußerung von Gott schlechthin auszusagen sei, ist im 20. Jahrhundert von Paul Althaus, Emil Brunner und Jürgen Moltmann aufgegriffen worden. Moltmann kam dabei zu der Jonas nahe stehenden These, Gott verzichte infolge seiner Tätigkeit als Schöpfer nicht nur auf Allmacht, sondern auch auf Allgegenwart und Allwissenheit: „Gott weiß nicht alles im voraus, weil er nicht alles im voraus wissen will, sondern auf die Antworten seiner Geschöpfe wartet und ihre Zukunft kommen lässt.“34 Das ist allerdings eine biblisch nicht gedeckte Aussage. Die kreuzestheologisch fällige Lehre von der göttlichen Selbstbegrenzung braucht ihrerseits eine Begrenzung, wenn sie nicht Gottes Erst- und Letztkontrolle über den Gang aller Dinge verleugnen und damit das Kind mit dem Bade ausschütten will. Die Unterscheidungen trinitarischen Denkens erlauben eine entsprechende Differenzierung. Demzufolge bleibt der Vater in aller Erhabenheit im Himmel, von wo aus er den Sohn und den Geist sendet. Der Dreieine behält sein Gottsein insofern. Allmacht und Leiden schließen sich in ihm nicht gegenseitig aus. Wer Gott konsequent trinitarisch denkt, dem gehen tiefste Zusammenhänge auf: Das Kreuz Christi erschließt dem Glauben Einblicke ins Herz Gottes.
Das Bekenntnis zum allmächtigen Gott steht insofern keineswegs im Widerspruch zum Gedanken göttlicher Selbstentäußerung. Kraft seiner Allmacht wacht der Vater über den Abstieg des Sohnes; er lässt dessen Kreuzestod nicht das Ende sein, sondern bringt seine Allmacht zur Wirkung, indem er den Tod besiegt – zunächst an seinem Christus selbst und am Ende der Geschichte an allen Toten. So sehr die Selbstentäußerung zu Gottes Wesen der Liebe gehört, so wenig gefährdet sie Gott und damit die letztendliche Herrschaft der Liebe. Sie erspart Gott zwar nicht den Schmerz des Kreuzes; aber sie zielt auf Überwindung dieses Schmerzes, nämlich auf ewige Integration der geretteten Schöpfung.35
Gottes Selbstbeschränkung in seiner Allmacht bedeutet für ihn selbst freilich: Leiden! Aber nicht nur das Symbol hierfür, das Kreuz, steht im Zentrum christlicher Theologie, sondern auch die Auferstehung Jesu. Ihre Wirklichkeit ist auch ein Symbol dafür, dass Gott schon während der laufenden Geschichte partiell heilvoll zugunsten des Lebens eingreift. Dafür stehen nicht zuletzt Jesu Heilungswunder, die als Zeichen der schon mitten in der Zeit anbrechenden Gottesherrschaft gelten wollen, also das künftige universale Gottesreich ein Stück weit vorwegnehmen36.
In der Verbundenheit mit dem Auferstandenen dürfen Christen daher durchaus um Ersparung oder Linderung von Leiden beten. Jesus selbst hat das noch auf dem Gang in den Hinrichtungstod getan. Aber es ist keineswegs biblische Lehre, dass Gott stets und immer eingreifen werde, wo Gläubige ihm treu ergeben sind. So ist bekanntlich Petrus am Ende seines Lebens geführt worden, wohin er nicht gewollt hatte. Und Paulus hatte wohl bis zu seinem Ende mit einem nicht näher bezeichneten „Pfahl im Fleisch“ zu kämpfen. Die leidvollen Strukturen der unvollendeten Welt werden auch für Christen nicht generell aufgehoben. Es bleibt in dieser Hinsicht Gottes Geheimnis, ob, wo und wann er eingreift. Paulus blickt tief, wenn er darauf hinweist, dass es gerade das Leiden ist, worin Gott uns besonders nahe ist.
Das ist im Kern die christliche Antwort auf die Theodizeefrage: Der Gott der Liebe lässt Leiden zu, weil es notwendig ist auf seinem Weg mit der Schöpfung zur Vollendung, und er spart sich vom Leiden aus Liebe selbst nicht aus. Wer das verstanden hat, der weiß, dass Leiden von Gott nicht trennt, dass es vielmehr geeignet ist, uns erst recht in die Gemeinschaft mit dem Gott der Liebe zu rufen. Auf Grund solcher Erkenntnis verlieren weltanschauliche und religiöse Orientierungen an Attraktivität und Überzeugungskraft, die das Theodizeeproblem mit heteronomen oder monistischen Auskünften atheistischer, agnostischer, buddhistischer, theosophisch-esoterischer oder sektiererischer Art zu bewältigen versuchen. Im spirituellen Ringen kommt es immer wieder darauf an, angesichts der Frage der Theodizee Flagge zu bekennen und die Antwort des Kreuzes offensiv als Gottes Weisheit darzulegen.
Werner Thiede, Regensburg
Anmerkungen
1 Siehe zum Begriff Peter Gerlitz, Art. Theodizee I. Religionsgeschichtlich, in: TRE 23 (2002), 210-215, sowie meinen Art. Theodizee, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 13, Essen 2011, 458-464.
2 Dazu Werner Thiede, Buddha und Jesus, in: KuD 51 (2005), 33-51.
3 Das zeige ich in dem Aufsatz „Jenseits von Gut und Böse?Spiritueller Monismus als theologische und weltanschauliche Herausforderung“, in: Reinhard Hempelmann (Hg.), Religionsdifferenzen und Religionsdialoge, EZW-Texte 210, Berlin 2010, 259-268.
4 Ausführlich dazu mein Buch „Der gekreuzigte Sinn. Eine trinitarische Theodizee“ (Gütersloh 2007), das auch in spanischer Übersetzung vorliegt (Salamanca 2008).
5 Vgl. Werner Thiede, Art. Reich Gottes, in: TRT5, Göttingen 2008, 996-999.
6 Vgl. Werner Thiede, Wer ist der kosmische Christus? Karriere und Bedeutungswandel einer modernen Metapher, Göttingen 2001.
7 Dazu näherhin meine Dissertation „Auferstehung der Toten – Hoffnung ohne Attraktivität?“ (Göttingen 1991).
8 Georg Büchner, Dantons Tod. Ein Drama (1853), in: ders., Gesammelte Werke, München o.J., 50.
9 Dazu mein Aufsatz „Terror & Religion“, in: ZEE 46 (2002), 194-204.
10 Vgl. Günter Klein, Über das Weltregiment Gottes. Zum exegetischen Anhalt eines dogmatischen Lehrstücks, in: ZThK 90 (1993), 251-283, bes. 260ff.
11 Ebd., 263, 266 und 271.
12 Wie Gerd Theißen zeigt, führt Paulus in seiner „ekstatischen Offenbarung“, deren Sitz im Leben ein innerer Zirkel der Gemeinde als Ort inspirierter Weisheitsrede gewesen sein dürfte, die Kreuzespredigt von 1. Kor 1 weiter: „In der ‚Anfangspredigt’ wird der Christ vom Symbol des Kreuzes ergriffen. Durch die ‚Vollkommenheitslehre’ aber begreift er erst, was ihn ergreift. Der Unmündige wie der Vollkommene werden von derselben Offenbarung getroffen, aber nur der Vollkommene durchschaut, was sich an ihm und in ihm vollzieht“ (Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, Göttingen 1983, 349).
13 Vgl. Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart 51966.
14 Immanuel Kant, Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee (1791), in: Akad.-Ausgabe (Repr. 1923/1968) Bd. 8, 255-271; hier zitiert nach: ders., Sämtliche Werke, 2000 o.O., Bd. 6, 242-254, 242. Unter „Theodizee“ versteht Kant „die Verteidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt“ (ebd.).
15 Ebd., 251.
16 Ebd., 248 (kursiv im Original).
17 Kant, ebd.
18 Vgl. z. B. Joachim Kunstmann, Theodizee. Vom theologischen Sinn einer unabschließbaren Frage, in: Evangelische Theologie 59 (1999), 92-108; Hans Schwarz, Im Fangnetz des Bösen, Göttingen 1993, 180f; Gerd Neuhaus, Frömmigkeit der Theologie. Zur Logik der offenen Theodizeefrage, Freiburg i.Br. 2003, 152 u. ö.
19 Vgl. Hans Küng, Gott und das Leid, Einsiedeln 1967, 69.
20 Vgl. Immanuel Kant, Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee, a.a.O.; Anne Käfer, Kant, Schleiermacher und die Welt als Kunstwerk Gottes, in: ZThK 101 (2004), 19-50.
21 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels, in: Leibniz. Ausgewählt und vorgestellt von Thomas Leinkauf, München 1996, 355-406, bes. 365.
22 Vgl. Jürgen Moltmann, Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie, München 1972.
23 Vgl. z. B. George Barker Stevens, The Christian Doctrine of Salvation, New York 1905; John Wright Buckham, Christ and the Eternal Order, New York/Chicago 1906.
24 Vgl. Martin Ebner u. a. (Hg.), Klage, Jahrbuch für Biblische Theologie (JBTh), Bd. 16, Neukirchen-Vluyn 2001.
25 Näher informiert über diese theosophische Lehre der lurianischen Kabbala Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen (1957), Frankfurt a. M. 1980, 285ff.
26 Hans Jonas, Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M./Leipzig 1992, 193f. Vgl. ders., Zwischen Nichts und Ewigkeit. Drei Aufsätze zur Lehre vom Menschen, Göttingen 21987. Ebenfalls, wenngleich auf etwas andere Weise, argumentiert von einer göttlichen Selbstentäußerung her Gianni Vattimo, Jenseits des Christentums, München 2004.
27 Hans Jonas, Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, a.a.O., 198f.
28 Vgl. Heribert Mühlen, Die Veränderlichkeit Gottes als Horizont einer zukünftigen Christologie, Münster 1969; Frank Meessen, Unveränderlichkeit und Menschwerdung Gottes. Eine theologiegeschichtlich-systematische Untersuchung, Freiburg i. Br. u. a. 1989; Roland Faber, Der Selbsteinsatz Gottes. Grundlegung einer Theologie des Leidens und der Veränderlichkeit Gottes, Würzburg 1995.
29 Vgl. Werner Thiede, Wer ist der kosmische Christus?, a.a.O., 414.
30 Eberhard Jüngel, Gottes Sein ist im Werden. Verantwortliche Rede vom Sein Gottes bei Karl Barth, Tübingen 31976, bes. 80 und 110f.
31 Eberhard Jüngel, Gottes ursprüngliches Anfangen als schöpferische Selbstbegrenzung. Ein Beitrag zum Gespräch mit Hans Jonas über den „Gottesbegriff nach Auschwitz“ (1986), in: ders., Wertlose Wahrheit, München 1990, 151-162, hier 151, 153.
32 Ebd., 154.
33 SörenKierkegaard, Eine literarische Anzeige. Anhang: Reflexionen über Christentum und Naturwissenschaft, in: Gesammelte Werke, 17. Abt., übersetzt von E. Hirsch, Düsseldorf 1954, 124.
34 Jürgen Moltmann, Wissenschaft und Weisheit. Zum Gespräch zwischen Naturwissenschaft und Theologie, Gütersloh 2002, 79.
35 Siehe meinen Aufsatz „Fegfeuer – Endgericht – Allversöhnung“, in: ThLZ 136 (2011), 1129-1144.
36 Dazu näherhin Ruben Zimmermann (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen, Bd. 1: Die Wunder Jesu, Gütersloh 2012; Werner Thiede, Theologie und Esoterik, Leipzig 2007, 43-47.