Liane Wobbe

Tibetische Buddhisten in Deutschland

Die Rolle der buddhistischen Religion für Exiltibeter im Westen

Am 16. März 2018 feierten die Tibeter weltweit Losar, das tibetische Neujahrsfest. Für sie begann nun das Jahr 2145, das im Zeichen des Hundes und im Element Erde steht, also das „Erdhundjahr“. So auch im tibetisch-buddhistischen Tempel Tendar Chöling in Berlin-Charlottenburg: Viele Gäste sind gekommen, die meisten deutsche Mitglieder und Freunde des Tempelvereins, aber auch Buddhisten, die aus Tibet stammen. Die Frauen haben ihre traditionellen Chupas an, lange seidene Wickelkleider mit bunt gestreiften Wollschürzen, die Männer tragen Kurtas, knielange Oberhemden aus Seide. Nach Aussagen einiger Deutscher besuchen tibetische Familien den Tempel meist nur zum Neujahrsfest und zum Geburtstag des Dalai Lama.

Das Zentrum folgt der Tradition der tibetisch-buddhistischen Schule Gelugpa. An den Wänden des Tempelraums hängen bunte Rollbilder (Thangkas). Auf einem altarähnlichen Podest thronen Buddha-Statuen, darunter Shakyamuni, der Buddha der Gegenwart, dessen engste Gefährten Shariputra und Maudgalyayana sowie Tsongkhapa, der Begründer der Gelugpa-Schule. Davor stehen 21 Wasserschalen sowie Blumen, Kerzen und Obst.

Die Andacht besteht hauptsächlich aus Rezitationen sogenannter Lamrim-Texte1 und einem Langlebensgebet für den 14. Dalai Lama, geführt durch einen tibetischen Mönch, der hier als Lehrer angestellt ist. Nach der Festrede eines tibetischen Besuchers wünschen sich die Gäste gegenseitig „Losar Tashi Delek“ (Alles Gute zum Neuen Jahr). Dann begeben sich alle zum Buffet.

Tibetische Tempel in europäischer Hand

In Deutschland gibt es zahlreiche Vereine verschiedener tibetisch-buddhistischer Schulen, allein in Berlin befinden sich mindestens 20 Zentren. Allerdings: Wenn von tibetischem Buddhismus in Deutschland die Rede ist, handelt es sich meist um eine von Europäern praktizierte Religionsart, die vorrangig Meditationsformen, Textrezitationen und philosophische Belehrungen beinhaltet. Andere Elemente tibetischer Religion zeigen sich so gut wie nicht, da es kaum Tibeter in Deutschland gibt, die ihren Alltagsbuddhismus öffentlich zelebrieren. Anders als bei thailändischen, chinesischen oder vietnamesischen Tempeln, die von Menschen aus den jeweiligen Ländern geleitet und besucht werden, erfolgt die Leitung und die Teilnahme an Veranstaltungen bei tibetischen Tempeln fast ausschließlich durch deutsche Konvertiten.

Die Verbreitung des Buddhismus in Tibet

Die Verbreitung des Buddhismus in Tibet vollzog sich in mehreren Etappen. Früheste Einflüsse sind im 7. Jahrhundert zu verzeichnen, als König Songtsen Gampo (gest. 649), inspiriert durch seine buddhistischen Gattinnen aus China und Nepal, den Buddhismus als Hofreligion einführte. Im 8. Jahrhundert, während der Regierungszeit des Königs Thrisong Detsen (756 – 796), trugen buddhistische Mönche aus Zentral-asien Buddhismusformen des indischen Theravada wie auch des chinesischen Mahayana in das Land. Mit dem indischen Meister Padmasambhava (8./9. Jahrhundert) gelangte der tantrische Buddhismus nach Tibet und gewann im Zuge der bald einsetzenden Übersetzungen buddhistischer Texte aus dem Sanskrit ins Tibetische zunehmend an Einfluss.

Eine weitere Etappe der Einführung buddhistischer Lehren in Tibet erfolgte 1000 n. Chr. durch den Mönch und Übersetzer Rinchen Zangpo (958 – 1055), der den tibetischen Buddhismus durch Lehren des Mahayana und Regeln der Ordenszucht aus Kaschmir beeinflusste. Atisha (980 – 1054), ein Mönch aus Bengalen, brachte ab 1042 erneut tantrische Lehren ins Land. Die Verbreitung des Buddhismus in Tibet führte bald zur Gründung verschiedener Schulrichtungen mit eigenen Klöstern, Lehrmeinungen und Ritualformen.

1. Die älteste der vier Hauptschulen ist die der Nyingma (nying-ma, alt), die Schule der Alten. Die Anhänger führen ihre Tradition auf die erste Ausbreitung des Buddhismus in Tibet unter dem Gelehrten Padmasambhava zurück. Charakteristisch für diese Schule ist, dass sie ihren eigenen Nyingma-Kanon, den Gyübum, besitzt, dessen Inhalt aus der ersten Verbreitungsepoche in Tibet (9./10. Jahrhundert) stammt. In ihrer rituellen Ausrichtung stehen die Nyingma der Bön-Religion2 sehr nahe. Sie brachten verschiedene Klostertraditionen hervor und besitzen eine große Anzahl an religiösen Laienspezialisten. Als 11. Oberhaupt der Nyingma galt Mindrolling Trichen Rinpoche (1931 – 2008). Dessen einzige Tochter, Minling Jetsün Khandro Rinpoche, ist heute Hauptlinienhalterin der Nyingma. Sie hat ihren Hauptsitz in Dehradun/Indien, reist aber weltweit herum und hält Belehrungen.

2. Eine weitere frühe Schule des tibetischen Buddhismus ist die der Kagyü (bka‘-brgyud, mündliche Übermittlung). Sie geht auf Marpa (1012 – 1092) und Milarepa (1040 – 1123) zurück, zwei Asketen, die von den indischen Tantra-Meistern Naropa (1016 – 1100) und Tilopa (988 – 1061) beeinflusst waren und deren Lehren in Tibet einführten. Gampopa (1079 – 1153), ein Schüler Milarepas, legte mit der Errichtung des Klosters Karma Gompa den Grundstein für die Kagyü-Schule, aus welcher verschiedene Unterschulen hervorgingen. Eine der einflussreichsten Unterschulen stellt die Karma-Kagyü dar, deren geistige Führer (Karmapa) nach dem Prinzip der Wiederverkörperung und Identifizierung anhand vorgegebener Merkmale ausgewählt werden. Infolge eines Sukzessionskonflikts nach dem Tod des 16. Karmapa residieren derzeit zwei Oberhäupter, die den Titel „17. Karmapa“ tragen: Urgyen Trinley Dorje (Hauptsitz Rumtek in Sikkim/Indien) und Trinley Thaye Dorje (Hauptsitz Neu-Delhi).

3. Als dritte Hauptschule gilt die der Sakya (Sa-skya, Grau-weiße Erde), benannt nach dem gleichnamigen Kloster, das 1073 von dem Nyingma-Anhänger Khön Könchog Gyalpo (1034 – 1102) gegründet wurde. Sie übernahm von dem Tantrameister und Übersetzer Drokmi Sakya Yeshe (993 – 1050) den Hevajra-Tantra3 und die Lehren des Lamdre4 und gab sie an seine Schüler weiter, während sein Sohn Kunga Nyingpo für die Systematisierung der neuen Sakyalehre sorgte. Die Nachfolge der Gelehrten wird durch Erbfolge einer adligen Familiendynastie geregelt. Galt Khön Könchog Gyalpo als erster Thronhalter der Sakya (Sakya Trizin), residiert Ratna Vajra Rinpoche heute als Oberhaupt und 42. Sakya Trizin in Dehradun/Indien.5

4. Durch den Anhänger der frühen Kadam-Schule Tsongkhapa (1357 – 1419) wurde 1409 die vierte und jüngste große tibetische Schule der Gelug gegründet. Tsongkhapa, Hauptschüler des bengalischen Mönches Atisha, lehrte die Kadam-Prinzipien, nach denen die Mönche sich wieder stärker an den Vinaya-Regeln orientieren und dem Studium der heiligen Texte, der Rezitation und der Meditation widmen sollten. Die Nachfolge Tsongkhapas wurde wie bei der Kagyü-Schule durch „freiwillige“ Inkarnation der Lamas bestimmt. Die religiös-politische Beziehung zwischen dem 3. Nachfolger Tsongkhapas, dem Lama Sodnam Gyatsu, und dem mongolischen Herrscher Altan Khan beeinflusste die Entwicklung der Gelugs dahingehend, dass Letzterer dem Lama 1578 den Titel Dalai Lama (Lama des Ozeans) verlieh und dessen Vorgänger in die Reihe der Dalai Lamas stellte. Ende des 15. Jahrhunderts gelang dem 5. Dalai Lama die Etablierung der politischen Macht der Gelug über Tibet. Der gegenwärtige 14. Dalai Lama, Tenzin Gyatso, hat seinen Hauptsitz seit der Flucht aus Tibet 1959 in Dharamsala/Indien.

Verschiedene Seiten des tibetischen Buddhismus

Die populärsten Bezeichnungen für den tibetischen Buddhismus sind Lamaismus (System mit dem Lama/Lehrer als höchster Autorität), Vajrayana (Diamantfahrzeug) und Tantrayana (Tantrafahrzeug). Sie kennzeichnen verschiedene Seiten des Buddhismus, der sich in Tibet entwickelt hat. So verweist Lamaismus auf die unbedingte geistliche wie auch weltliche Autorität, die dem Lehrer in der jeweiligen Schule beigemessen wird. Der Lehrer besitzt einen gottähnlichen Status und steht in der Liebe und Verehrung über den Eltern. Ihm wird sogar, ähnlich wie bei einem Guru, die Macht der Einflussnahme auf das Schicksal der Gläubigen zugesprochen. Der Vajra (skt.; tib. Dorje, Blitz, Diamant), in der Mythologie die Waffe des Hindugottes Indra, steht symbolisch für die Kostbarkeit und Macht eines Herrschers oder der Lehre. Tantrische Lehren (Tantra, skt., Ausdehnung, Gewebe) haben ihren Ursprung im Hinduismus, wo sie mittels verschiedener ritueller, geistiger, meist geheimer Praktiken zu transzendenten Erfahrungen und übermenschlichen Kräften führen sollen. Der Tantra im Buddhismus vermittelt Ansichten und Praktiken, die, ebenfalls im Geheimen übermittelt, der Selbsttransformation und als „schnelles Gefährt“ auf dem Weg zur Erleuchtung dienen (Manshardt 2002, 9f).

Glaubens- und Ritualformen

Heilige Schriften:Vom 8. bis 14. Jahrhundert wurden buddhistische Schriften aus Indien in mehreren Epochen aus dem Sanskrit ins Tibetische übersetzt. Eine Gesamtübertragung der als kanonisch angesehenen tibetisch-buddhistischen Literatur erfolgte im 14. Jahrhundert durch den Sakya-Gelehrten Butön Rinchen Drob (1290 – 1364). Daraus gingen zwei große Textgruppen hervor: 1.  das Kanjur (tib., Kan-gyur, übersetztes Wort), die Übersetzung der Lehren des Buddha, und 2. das Tanjur (Tan-gyur, übersetzte Lehre), die Übersetzung der Kommentare, Unterweisungen und magischen Texte indischer Weiser. Beide Textgruppen gelten für alle buddhistischen Schulen als autoritativ (vgl. Kollmar-Paulenz 2006, 92). Daneben existieren die Termas (tib. terma, Schatz), sogenannte Schatztexte, die zwar Buddha zugeschrieben werden, jedoch eher Tibet-spezifisches Traditionsgut enthalten, wie das Kalachakra, den Shambhala Mythos, das Gesar Epos oder das Bardo Tödol.

Buddhas, Bodhisattvas, Götter und Geister: Das tibetische Götterpantheon umfasst verschiedene Buddhas und Bodhisattvas, hinduistische und lokal-tibetische Götter, Geister und Dämonen. So wird u. a. zwischen dem Urbuddha6 und seinen Manifestationen, dem historischen Buddha Shakyamuni und Maitreya, dem Buddha der Zukunft, unterschieden. Volkstümliche weibliche Gottheiten des magischen Tantrismus zeigen sich häufig als Inkarnationen oder „symbolische“ Gattinnen der Buddhas. Als weiblicher Aspekt des Buddha und Schutzgöttin zugleich wird die Grüne Tara verehrt (tib. Jetsün Drölma). Nach traditioneller Überlieferung war sie eine Verehrerin Buddhas, die Vollendung erlangte und beschloss, als weiblicher Buddha zum Wohle der Wesen zu wirken. Die Weiße Tara (tib. Drölma Karpo) wiederum gilt als Stütze der Meditation für ein langes Leben.

Als Zufluchtsobjekte dienen neben den Buddhas auch die Bodhisattvas (skt.; tib. jangjub sempa).7 Höchste Bedeutung genießen Avalokiteshvara (skt.; tib. Chenrezig, Herr, der seinen Blick mitfühlend nach unten richtet) als Bodhisattva des Mitgefühls und Schutzpatron Tibets, Manjushri als Manifestation der Intelligenz und Vajrapani zur Abwehr des Bösen. Hinzu kommen lokale Schutzgottheiten bestimmter Schulen und Regionen wie z. B. Hevajra, der als Schutzgottheit der Sakya-Schule gilt. Zu nennen seien auch die Yidams, sogenannte Schutzgeister, unter denen vor allem weiblich gedachte Dakinis mit Zeremonien bedacht werden. Hinduistische Gottheiten wie Brahma, Indra, Shiva und Agni zeigen sich als Anhänger Buddhas.

Jenseitsvorstellungen: Der tibetische Buddhismus lehrt grundsätzlich die Seelenwanderung basierend auf dem karmischen Gesetz von Ursache und Wirkung. Nach der Nyingma-, Kagyü- und Sakya-Tradition befindet sich der Geist des Menschen nach dem Tod und vor seiner Wiedergeburt in einen Zwischenzustand (Bardo)8. Dieser unterteilt sich in den Todeszeitbardo, den Wirklichkeitsbardo und den Bardo auf der Suche nach der Wiedergeburt. Die Dauer des Zustandes zwischen den Körpern beträgt nach tibetischer Tradition 49 Tage.

Rituale: Der tibetische Alltagsbuddhismus ist v. a. von Rezitationen und Zeremonien für Buddhas, Bodhisattvas, Schutzgottheiten und Lamas geprägt. Insbesondere die Grüne Tara und Avalokiteshvara werden regelmäßig mit Opfergaben, Rezitationen und Niederwerfungen bedacht. Ein gängiges Ritual ist hierbei, zwischen 7 und 21 mit Wasser gefüllte Silberschalen im Abstand eines Reiskorns auf den Altar zu stellen. Obst, Blumen, Butterlampen und Tormas, aus Gerstenmehl geformte Opfertürme, sollen Buddhas, Götter und Geister erfreuen. Durch Gaben, Gebetrezitationen und Niederwerfungen erhoffen sich tibetische Gläubige Hilfe und Segen. Mandalas, aus Reis oder Farbpulver vor Häuser gestreut, fungieren zur Abwehr von Krankheit und Unglück; auf Thangkas (Rollbilder) gemalt, dienen sie als Meditationshilfe. Das Sprechen heiliger Formeln vor im Wind hängenden Fähnchen, das Chanten zu Gebetsketten und das Drehen von Gebetsmühlen sorgen nach tibetischem Glauben für die Gunst der Götter. Und Wallfahrten zu abgelegenen Klöstern, zu Aufenthaltsorten wichtiger Lamas, heiligen Seen und Bergen (Kailash) dienen in Verbindung mit einer sogenannten Kora (Umrundung des heiligen Ortes) einer karmischen Reinigung.

Die kultischen Pflichten der Lamas bestehen u. a. aus rituellen Waschungen, Opferzeremonien, tantrischen Ritualen, zeremoniellem Musizieren, gemeinsamen Rezitationen und Meditationen. In Tibet und Indien unterstützen die Laien die Lamas und Klöster mit Geld und Lebensmitteln und bringen ihnen regelmäßige und anlassbestimmte Verehrung dar. Als Gegenleistung erhalten sie Zeremonien (zu Geburt, Hochzeit, Bestattung, Krankheit, Prüfung etc.), Orakelbefragungen (tib. Mo) und medizinische Ratschläge.

Zu den wichtigsten Festen, die von allen tibetischen Schulen begangen werden, gehören das Neujahrsfest Losar (s. o.), das Monlam-Fest, das Fest des großen Gelübdes (Februar/März), und das Saga Dawa-Fest anlässlich von Buddhas Geburt, Erleuchtung und Eingehen ins Nirwana (Mai).

Verhaltensweisen:  Die tibetische Gesellschaft war ursprünglich von einem differenzierten Gesellschaftssystem geprägt, das sich grob in drei große soziale Schichten unterteilte: den Adel, zu dem der Dalai Lama sowie höhere und niedere aristokratische Familien gehören, den Klerus, der von Mönchen aller Schulen bestimmt wird, und die gewöhnlichen Leute, die v. a. Bauern, Landbesitzer, Händler und Dienstleister, ja sogar die unberührbaren Ragyapas9 umfassen. Ein Beispiel, von welcher Unterwürfigkeit das Verhalten niederer Kasten gegenüber höheren sowohl in Tibet wie auch im indischen und westlichen Exil geprägt war und unter der älteren Generation noch ist, bietet das Buch „Eisenvogel“, in dem Yangzom Brauen, eine schweizerische Exiltibeterin der dritten Generation, davon berichtet, dass ihre Großmutter sich in Tibet gegenüber höherkastigen Freunden wie eine Dienerin verhielt und dieses Verhalten selbst bei einem Wiedersehen im schweizerischen Exil beibehielt (vgl. Brauen 2010, 282-284).

Heiratsvorschriften: Die Laien halten sich an regional bedingte Heiratssysteme. Oft spielt die Herkunft der Familie eine Rolle. Während innerhalb der Ober- und Mittelschicht und der Unberührbaren jeweils kastenübergreifend geheiratet wird, sind Heiraten zwischen diesen drei Schichten nicht üblich. In einigen Regionen finden sich noch polyandrische Verhältnisse, d. h. die Frau heiratet zwei Männer, die in einem brüderlichen Verwandtschaftsverhältnis stehen. Obwohl für die Mönche aller tibetischen Schulen das Keuschheitsgelübde gilt, wird dieses oft nur von den Gelugpas erfüllt. In allen anderen Schulen kommt es immer wieder vor, dass Mönche sich für die Ehe entscheiden, sogar hohe Lamas. Wenngleich sie dann einige Rechte verlieren, werden sie dennoch als hohe geistige Autorität anerkannt und als Lehrer gewürdigt.

Speisevorschriften und Bekleidungstraditionen: Religiöse Speisevorschriften existieren für tibetische Laien wie Ordinierte nur in Verbindung mit bestimmten Verehrungszeremonien für die Götter. So ist z. B. vor einer Segenseinweihung der Konsum von Alkohol, Fleisch, Zwiebeln oder Knoblauch untersagt. Im Unterschied zu den Theravada-Mönchen dürfen tibetische Nonnen und Mönche auch noch nach 12 Uhr essen.

Zu den Bekleidungstraditionen, die regional verschieden ausfallen, ist zu sagen, dass trotz westlicher Kleidung im Alltag das Tragen langer seidener Wickelkleider (Chupa) mit bunt gestreiften Wollschürzen (Pangden) bei Frauen und weiter Hosen mit langen Oberteilen (Kurta) bei Männern im Tempel oder bei häuslichen Zeremonien beibehalten wird, auch im Exil. Die Roben (Kasaya) und Kopfbedeckungen der Mönche kennzeichnen in Form und Farbe die Zugehörigkeit zu den Schulen, wie bei den Rothut- oder Schwarzhut-Karmapas.

Buddhistische Würdenträger:Seit der Entwicklung einer Klostertradition in Tibet im 8. Jahrhundert wurde es in den Familien üblich, den erstgeborenen Sohn mit etwa sieben Jahren ins Kloster zu schicken. Hier erhält er Unterricht im Lesen, Schreiben und Rezitieren von Gebetsformeln und bei Bereitschaft zu einem Klosterleben den Grad eines Novizen (Getsul). Als solcher widmet er sich u. a. dem Studium religiöser Texte. Nach einer Prüfung erfolgt die Ordination zum Vollmönch (Gelong). Das Oberhaupt eines Klosters ist der Abt (Khanpo). Die Mönche folgen in der Regel einem Lama/Lehrmeister. Auch wenn der Lama ein schlechter Lehrer ist, sollte der Schüler ihm Ehrerbietung entgegenbringen. War der Titel Lama (tibet., der Erhabene, Heilige) ursprünglich dem höchsten Klostervorsteher vorbehalten, wurde er später als Bezeichnung für jeden ordinierten Mönch verwendet.

Eine wichtige Rolle in fast allen Schulen spielt dieReinkarnation eines Bodhisattvas auf der Erde,die sich durch freiwillige Wiederverkörperung eines verstorbenen Lamas vollzieht. Bis zu sechs Jahre nach dem Tod des jeweiligen Lehrers wird dessen Inkarnation unter den Kindern gesucht. Die entscheidenden Merkmale zeigen sich u. a. in durch den Vorgänger prophezeiten Ereignissen und dem Wiedererkennen von Gegenständen, die vorher in dessen Besitz gewesen sind. Ein Komitee von Lamas und Laien identifiziert dann anhand dieser Kriterien, der Befragung eines Orakels und bestimmter Visionen den wiedergeborenen Lama, der als Tulku bezeichnet wird.

Der tibetische Buddhismus gelangt nach Deutschland

Im Zuge des Volksaufstands in Tibet und seiner Niederschlagung durch die chinesische Invasion 1959 flohen zahlreiche Tibeter nach Indien, Nepal und Bhutan und von da aus zum Teil in die USA, nach Australien und Europa. An erster Stelle sei hier der 14. Dalai Lama genannt, der 1968 in Dharamsala, einem nordindischen Bergdorf, seinen Wohnsitz samt Exilregierung und Kloster etablierte. Diese Exilsituation trug u. a. zur Verbreitung tibetisch-buddhistischer Philosophie und Ritualpraktiken im Westen bei. Auch in Deutschland ließen sich tibetische Exilanten nieder, darunter Mönche und Lehrer, die z. T. eigene buddhistische Zentren gründeten.

Bereits Anfang der 1930er Jahre veranlasste der Großabt der Gelugpa-Schule, Ngawang Kalzang (1866 – 1936), den deutschen Buddhismusgelehrten und Mönch Lama Anagarika Govinda, einen Orden mit Namen Arya Maitreya Mandala zu gründen. Anfang der 1950er Jahre gelangte die Bewegung nach Deutschland, das Hauptzentrum befindet sich gegenwärtig in Pforzheim.

Als einer der frühesten „Missionare“ des tibetischen Buddhismus im Westen gilt Rangjung Rigpe Dorje (1924 – 1981), der 16. Gyalwa Karmapa und damaliges Oberhaupt der Karma-Kagyü-Schule. Zum einen beauftragte er seinen Schüler Chögyam Trungpa (1939 – 1987), den Westlern die tibetische Form des Buddhismus zu vermitteln. Zum anderen wies er Ole Nydahl und seine Frau Hannah, die ihm in den 1960er Jahren auf ihrer Reise nach Nepal begegneten, an, den Diamantweg-Buddhismus der Kagyü im Westen zu verbreiten.

In den folgenden Jahren entstanden vier Hauptrichtungen der Kagyü in Deutschland: 1. die von Chögyam Trungpa gegründete Vajradhatu-Organisation und die daraus hervorgegangenen Dharmadhatu-Zentren mit Hauptsitz in Marburg, 2. die von Trungpa gegründete Shambhala-Bewegung, 3. zahlreiche Diamantweg-Buddhismus-Zentren (Ole Nydahl), die Trinley Thaye Dorje als den 17. Karmapa betrachten, und 4. die Kamashila-Bewegung, die dem anderen 17. Karmapa Urgyen Trinley Dorje folgt und deren Hauptzentrum sich in der Eifel befindet.

Die Verbreitung der Gelug-Tradition in Deutschland begann 1966, als der 14. Dalai Lama den Geshe Lobsang Dargyay (1935 – 1994) nach München entsandte, um die dort lebenden Kalmücken zu betreuen.10 In dem Tempel, der den Namen Thegchen Chöpel Ling trägt, praktizieren heute fast ausschließlich Deutsche. Als weitere bedeutende Zentren der Gelug-Schule seien das Tibetische Zentrum e. V. in Hamburg genannt, 1977 geweiht von Geshe Rabten (1920 – 1986), dem persönlichen Berater des Dalai Lama, sowie das Tibethaus in Frankfurt am Main, ein buddhistisches Meditations- und Studienzentrum, in dem verschiedene tibetische Lehrer der Gelug-Tradition lehren.

Weitaus größere Verbreitung fand in Deutschland die Nyingma-Tradition, von der es heute vier große Zweige gibt, von denen die 1987 von Sogyal Rinpoche gegründete Rigpa-Bewegung (tib. rig-pa, Intelligenz, innerste Natur des Geistes) den größten Zulauf hat. Sogyal Rinpoche, ein tibetischer und im Westen aktiver Lehrer, wurde durch sein Werk „Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben“ bekannt. Aufgrund von Missbrauchsvorwürfen seiner Schüler 2017 geriet er in den Medien heftig in die Kritik und zog sich aus der Öffentlichkeit zurück.11 Als zweiter Zweig sei die Nyingma-Bewegung genannt, die 1969 von Tarthang Tulku Rinpoche (hoher Linienhalter der Nyingmas) in Kalifornien gegründet wurde und auch nach Deutschland gelangte. Der dritte Zweig ist die Buddhistische Gemeinschaft Samten Tse, die der gegenwärtigen höchsten Linienhalterin der Nyingmas, Minling Jetsün Khandro Rinpoche, folgt. Als vierte Bewegung sei Tergar genannt, die sich auf die Lehren von Yongey Mingyur Rinpoche stützt.

Die Sakya-Tradition wird in Deutschland v. a. durch den Yeshe Chöling Sakya-Förderverein e. V. mit Sitz in Freiburg repräsentiert und steht in der Tradition des 42. Sakya Trizin, Ratna Vajra Rinpoche.

Wo praktizieren Exiltibeter ihre Religion?

In Deutschland leben heute etwa 1000 Tibeter. Davon konzentriert sich die Mehrheit in München mit etwa 300, es folgen Hamburg mit 200, Frankfurt mit 70, Köln und Bonn mit etwa 100 und der Rest in weiteren Städten.12 1979 wurde in Hennef der Verein der Tibeter gegründet. Ziel der tibetischstämmigen Gründer war es, die tibetische Kultur und Religion auch im Exil zu pflegen.13 Die Umsetzung dieses Ziels erfolgt aber nicht in den oben beschriebenen Zentren und Bewegungen, da diese vorrangig auf einen westeuropäischen Buddhismus zugeschnitten sind (klare Strukturierung, Öffnungszeiten) und nicht die rituellen Kompetenzen und Dienstleistungen bieten, die in einem tibetischen Kloster durch ständig anwesende Lamas abgedeckt werden. Deshalb besuchen die meisten Tibeterinnen und Tibeter nur ganz wenige ausgewählte Tempel und nur zu besonderen Anlässen, z. B. an Feiertagen oder zur Audienz eines bedeutenden Lamas.

Obwohl die Kagyü-Schule in Deutschland sehr stark vertreten ist, gehören die meisten Tibeter der Sakya, der Nyingma und der Gelug-Schule an. Die Familien bleiben ihrer Schule in der Regel treu, denn entscheidend ist die Abstammungslinie. Nur der Dalai Lama und besonders hoch angesehene Gurus werden schulübergreifend verehrt.

Im Unterschied zu den westlichen Angehörigen tibetisch-buddhistischer Schulen, für die Meditation und Belehrungen an erster Stelle stehen, sind tibetische Laien viel mehr an Opferzeremonien, Glücksverheißungsritualen oder Wohlstandsgötterinitiationen interessiert. Da es dafür keine Einrichtungen wie Klöster gibt, praktizieren die meisten Tibeter ihre Rituale zu Hause. So richtet sich jede Familie einen Altar ein, noch bevor andere Einrichtungsgegenstände in die Wohnung gelangen. Auf diesem Altar befinden sich Statuen von Buddha Shakyamuni, der Grünen Tara und von Avalokiteshvara, fast immer ein Bild des Dalai Lama, Bilder oder Figuren von Schutzgöttern und den für die jeweilige Schule wichtigen Lamas. Für Avalokiteshvara und seine Begleiterin, die Grüne Tara, werden die meisten Rituale praktiziert.

Welche Rolle spielen tibetische Lamas für tibetische Laien?

Seelsorgerliche Hilfe und rituelle Dienste nehmen Exiltibeter nur in Anspruch, wenn ein besonderes Anliegen vorliegt. Aufgrund fehlender schuleigener Lamas im Exil nehmen manche aber auch die Dienste von Lamas anderer Traditionslinien in Anspruch. So wird der residierende Lama eines Tempels nach Hause gebeten, wenn eine Wohnung neu bezogen wird, jemand krank ist oder ein besonderes Problem besteht.

Einen hohen Rang haben für Tibeter die Lamas, die nicht in Europa wohnen, sondern in Tibet oder Indien, da sie dort ihre spirituellen Aufgaben im Kloster regelmäßig erfüllen und somit mehr spirituelle Kraft besitzen. Nach dem Empfinden vieler Tibeter sind hiesige tibetische Tempel auf Westler zugeschnitten und ebenso die Lehre der Lamas, die hier leben. Tibeter sehen auch tibetische Lamas kritisch, die Gründe für deren Fehlverhalten im Westen suchen sie aber im westlichen Umfeld, im zu kritiklosen Vertrauen und in den Erwartungen der westlichen Schüler. Obwohl tibetische Buddhisten einen Lama nicht öffentlich kritisieren, tauschen sie intern ihre eigenen Kriterien, Witze und Abneigungen aus.14 Treten besondere Lamas aus Indien, Nepal oder Bhutan in Deutschland auf, geht man hin und lässt sich eine Segenseinweihung geben. Eine Einweihung ist eine Art Initiation in das Tantra, bei dem der Lama den Segen eines bestimmten Buddhas, Bodhisattvas oder einer Schutzgottheit auf den jeweiligen Schüler überträgt.

Wenn ein Kind geboren wird, lässt man einen Lama den Namen bestimmen. Manche schreiben dem Dalai Lama und bitten ihn, den Namen zu bestimmen, und erhalten dann auch eine Antwort. Mit sieben Jahren werden Kinder zum Lama gebracht, um bei ihm Zuflucht zu nehmen.15

Für die erste Generation der Tibeter, die nach Deutschland gekommen sind, ist Tibet heilig, da sie dort aufgewachsen sind. Für jüngere gläubige Exiltibeter spielt eher Indien eine große Rolle, da dieses Land das Wirkungsfeld Buddhas war und sich im Zuge der Kulturrevolution viele Tibeter dort niedergelassen haben, da der 14. Dalai Lama dort wohnt und zahlreiche tibetisch-buddhistische Klöster errichtet wurden, in denen hohe Lamas residieren.

Beziehungen zwischen Exiltibetern und tibetischen Tempeln in Berlin

1996 wurde der erste Verein der Gelugpas in Berlin gegründet. Heute ist der Tendar Chöling Tempel in der Habsburger Straße das einzige Zentrum in der Stadt, welches in der Gelug-Tradition und unter der spirituellen Leitung des 14. Dalai Lama steht. Es befindet sich in einer Erdgeschosswohnung. Im Unterschied zu den anderen tibetisch-buddhistischen Tempeln Berlins ist der Kultraum sehr farbenprächtig eingerichtet und mit zahlreichen Statuen und Bildern einem tibetischen Kloster nachempfunden. Von ca. 20 tibetischen Tempeln Berlins ist er der einzige, zu dem Exiltibeter einen engen Kontakt pflegen, auch wenn sie sich meist nur zu den Feiertagen einfinden.

Der Grund dafür ist, dass er als einziger Tempel von einem ständig anwesenden tibetischstämmigen Lehrer, dem Mönch Rigdzin Gyaltsen, geleitet wird, der sogar den höchsten akademischen Grad eines tibetisch-buddhistischen Gelehrten erworben hat und deshalb den Titel Geshe (tib. dge bshes, wörtlich: der heilsame Freund)16 trägt. Geshe R. Gyaltsen wurde 1964 in Kham/Osttibet geboren. 1984 floh er nach Indien und absolvierte in dem tibetisch-buddhistischen Kloster Sera Je in Mysore/Südindien sein Studium. 2003 kam er nach Berlin und löste seinen Vorgänger ab, der wieder zurück in dasselbe Kloster wollte. Geshe R. Gyaltsen hat in diesem Tempel sowohl eine seelsorgerliche wie auch eine rituelle Funktion inne, indem er für Gespräche zur Verfügung steht und persönlich gewünschte Rezitationen, Einweihungs- und Segensrituale durchführt. Diese Tätigkeiten werden von den hier lebenden Tibetern auch in Anspruch genommen. Kontakte zu anderen tibetischen Mönchen pflegt er in Deutschland kaum. Ab und an fliegt er nach Indien und besucht das Kloster, oder er telefoniert mit seiner Familie in Tibet. Seit 1984 war er nicht mehr dort, da er, wie viele andere Tibeter, kein Visum von der chinesischen Botschaft erhält.17

Im Tendar Chöling finden im Unterschied zu anderen Zentren neben religiös-philosophischen Belehrungen und Meditationen auch regelmäßige Zeremonien statt, zu denen aber in der Regel nur deutsche Besucher erscheinen. Von besonderer Bedeutung ist die Tsog Guru-Puja, bei welcher die Teilnehmenden Rezitationen in tibetischer Sprache unter Einbeziehung der Kultinstrumente Glocke, Vajra und Trommel sprechen und Niederwerfungen sowie die Einnahme von rituellen Opfergaben praktizieren. Die Nähe zu Tibet zeigt sich im Tempel in der Vermittlung der tibetischen Sprache und der Unterstützung tibetischer Klöster. Man kann an den Festtagen ein sehr herzliches Verhältnis zwischen Deutschen und Exiltibetern beobachten.

Als bedeutendstes Zentrum der Nyingma in Berlin gilt das Dharma Mati Rigpa-Zentrum. Da hier hin und wieder angesehene tibetischstämmige Lamas zu Vorträgen eingeladen werden, wird es zu diesen Anlässen auch von Tibetern besucht. Ein weiteres tibetisches Zentrum, das eine temporäre Rolle für tibetische Laienbuddhisten in Berlin spielt, ist das Bodhicharya. Der Tempel folgt der Karmapa Kagyü Li-Tradition und steht unter der Schirmherrschaft des 17. Gyalwa Karmapa, Urgyen Trinley Dorje. Da dieses von Westlern geführte Zentrum hin und wieder Lehrer aus Tibet einlädt, z. B. Minling Jetsün Khandro Rinpoche, wird es zu diesen Anlässen ebenfalls von Tibetern besucht.Dagegen hat das populäre Diamantweg-Buddhismus-Zentrum der Karma-Kagyü-Linie von Ole Nydahl, das unter der spirituellen Leitung des anderen 17. Karmapa, Thaye Dorje, steht, keinerlei Beziehungen zu Berliner Exiltibetern. Mitglieder des Vereins Tsechen Shedub Ling Sakyapa, der die Sakya-Tradition in Berlin repräsentiert, treffen sich im Neckarstraßenzentrum. Dieses versteht sich als schulübergreifend und organisiert Audienzen bedeutender Lamas verschiedener Traditionen, die einzelne Tibeterinnen und Tibeter gern wahrnehmen.

Aus dem religiösen Alltag einer tibetischen Familie in Berlin

Seit etwa 25 Jahren leben Tibeterinnen und Tibeter in Berlin. Ihre Anzahl beläuft sich gegenwärtig auf etwa 50. Das Alter der Erwachsenen bewegt sich überwiegend zwischen 20 und 50 Jahren. Zwei miteinander verwandte tibetische Familien besitzen einen Laden, in dem sie tibetische und indische Einrichtungs- und Ritualgegenstände verkaufen. Sie gehören zur Schule der Sakyas. Auf meine Frage, welche Bedeutung die buddhistische Religion für sie hier in Deutschland noch hat, antworten sie mir, dass sie diese überwiegend zu Hause praktizieren. Bei einem Besuch sehe ich dann, dass sie in ihrer Wohnung den Göttern einen tempelähnlichen Kultraum eingerichtet haben. Auf einem Altar befinden sich, neben verschiedenen Buddhafiguren, die beiden tibetischen Heiligen Milarepa und Tsongkapa, einige Schutzgottheiten, das Bild des 14. Dalai Lama und ein Foto des ehemaligen Sakya-Oberhauptes (42. Sakya Tenzin). Vor den Bildern und Skulpturen stehen in einer Reihe sieben mit Wasser gefüllte silberne Schalen, Blumen und Räucherstäbchen. Die Wände sind mit Stoffbildern der Grünen Tara und diverser Schutzgötter behangen. Auf einem kleinen Tischchen liegen Rezitationsschriften und Kultinstrumente. Jeden Morgen praktiziert hier die Frau vor dem Frühstück eine Meditation für die Grüne Tara, da diese als Schutzgöttin gilt, die sehr schnell zu Hilfe eilt. Sie füllt die sieben Opferschalen mit Wasser und richtet weitere Opferschalen mit Milch, Früchten und Blumen an. Während sie die Räucherstäbchen anzündet, spricht sie drei Taragebete und das Langlebensgebet für den Dalai Lama. Nach einer Meditation beendet sie ihre morgendliche Andacht mit 30 Niederwerfungen.

Obwohl die Familie der Sakya-Schule angehört, steht sie in engem Kontakt zum Gelug-Tempel Tendar Chöling, besucht das Zentrum aber nur an den Feiertagen. Wenn jemand in der Familie krank ist, kommt der Geshe zu ihnen nach Hause oder ins Krankenhaus, um Gebete zu rezitieren. Weitere Zentren, die die Familienangehörigen aufsuchen, sind das Bodhicharya- und das Rigpazentrum, aber nur, wenn ein angesehener Lama auftritt. Nach dem 14. Dalai Lama bringen sie ihrem spirituellen Oberhaupt, dem 42. Sakya Trizin, Ratna Vajra Rinpoche, höchste Verehrung entgegen.

Bei besonders ernsthaften Krankheiten, wichtigen Entscheidung oder akuten Problemen treten sie in Kontakt zu bekannten autoritativen Meistern in den Klöstern Indiens, Nepals oder Tibets, da nur diese über hilfreiche geistige und rituelle Mittel verfügen. Die Lamas stellen dann anhand von physischen Beschreibungen und astrologischen Untersuchungen eine „Ferndiagnose“ in Form einer Weissagung (tib. Mo) und eine entsprechende Zeremonie zusammen, die von den Gläubigen finanziert wird.

Auf meine Frage nach der Umsetzung der tibetischen Bestattungskultur in Deutschland bekam ich die folgende Antwort: „Als ein Onkel in unserer Familie gestorben ist, wurde sein Körper im Krematorium verbrannt und die Asche nach Indien geschickt, wo sie zum einen Teil in die Berge, zum anderen Teil in den Fluss gestreut wurde, um ihm eine gute Wiedergeburt zu ermöglichen.“18

Ein tibetisches Kloster im deutschen Exil?

Während thailändisch-buddhistische Tempel in Deutschland den Thailändern, vietnamesisch-buddhistische Tempel den Vietnamesen und chinesische Tempel den Chinesen eine religiöse Heimat bieten, ergaben meine Besuche, Beobachtungen und Gespräche, dass gemeinschaftliche Veranstaltungen tibetisch-buddhistischer Tempel in Deutschland für Exiltibeter kaum eine Rolle spielen. Für sie liegt der Fokus auf häuslichen Zeremonien, der gelegentlichen Inanspruchnahme von Dienstleistungen eines im Tempel angestellten Lamas, der Audienz eines angesehenen Meisters oder – bei Anlässen wie Krankheit oder Problemsituationen – dem indirekten Kontakt mit Lamas aus Indien bzw. Tibet. Die einzige gemeinsame Huldigung geschieht zu ausgewählten Feiertagen.

Für ein Kloster oder einen Tempel, der die religiösen Bedürfnisse abdecken würde, sind bis jetzt keine finanziellen Ressourcen vorhanden. Eine Vorbildfunktion hat das tibetische Kloster Rikon in der Schweiz.19 Dort lebt eine buddhistische Mönchsgemeinschaft der Gelugpa-Tradition, und die Klosterpraxis ist an die Tibets angelehnt. Es wird deshalb von vielen Exiltibetern regelmäßig aufgesucht. So bleibt nur zu wünschen, dass es auch tibetischstämmigen Buddhisten in Deutschland irgendwann einmal gelingt, Kulträume zu errichten, die es den Laien ermöglichen, ihre traditionellen Rituale zu praktizieren, gewohnte klösterliche Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen und einen religiösen und soziokulturellen Treffpunkt zu nutzen. Denn eine Annäherung an die zahlreichen westlich konzipierten „tibetisch-buddhistischen“ Tempel scheint nicht in Sicht.


Liane Wobbe, Berlin


Anmerkungen

  1. Lamrim (tibet. lam, Pfad, rim, Stufen) bezeichnet eine Zusammenstellung von Anleitungen, die den stufenweisen Weg zur Erleuchtung darstellen.
  2. Als Bön wird die vorbuddhistische Religion Tibets bezeichnet, die v. a. auf animistischen und schamanistischen Ritualen beruhte. Viele dieser Praktiken sind in die buddhistische Ritualpraxis eingeflossen.
  3. Inhalte der Hevajra-Lehren richten sich auf Techniken, die sich auf Essens-, Sexual- und Todesrituale stützen.
  4. Lamdre, „Der Pfad und seine Frucht“, wird dem indischen Asketen Virupa zugeschrieben.
  5. Die Oberhäupter der Sakya-Schule sind in der Regel verheiratet und geben ihr Amt an den ältesten Sohn weiter.
  6. Nach der Überlieferung tantrischer Texte gingen aus dem Urbuddha fünf Buddhas hervor, von denen jeder über eine der fünf Richtungen des Universums herrscht, Aksobhya, Ratnasambhava, Amitabha, Amoghasiddhi und Vairocana (s. Midal 2002, 38ff).
  7. Ein Bodhisattva hat nach der Mahayana-Tradition das Gelübde abgelegt, trotz seiner Fähigkeit, ins Nirwana einzugehen, in der Welt alle fühlenden Wesen zu unterstützen, bis diese die Buddhaschaft erlangt haben.
  8. Nach der Überlieferung existieren auch drei Bardos des Lebens: der Bardo nach der Geburt, der Bardo des Traumes und der Bardo der tiefen Meditation. Die Bardo-Tradition der Gelugpa weicht von den anderen ab.
  9. Ragyapas übernehmen die Zerstückelung eines Toten bei der Himmelsbestattung. Sie gehören zur niedrigsten berufsmäßigen Kaste der Metzger, Bettler und Totengräber und wohnen am Rande eines Ortes.
  10. Zur Beschreibung des Kalmücken-Tempels in München s. Notz 1984, 1-5.
  11. Zur Missbrauchsdebatte bezüglich buddhistischer Lehrer gegenüber ihren Schülern siehe u. a. Eißler 2017; Klein 2018.
  12. Information des Vereins der Tibeter in Deutschland am 27.8.2018.
  13. Zu diesem religiös-kulturellen Engagement kam die politische Arbeit für Freiheit und Menschenrechte des tibetischen Volkes hinzu, die in Mahnwachen, Friedensmärschen und Podiumsdiskussionen bestand.
  14. Gespräche mit mehreren tibetischstämmigen Buddhisten im Sommer 2018.
  15. Interview mit einem tibetischen Mitglied des Tendar Chöling am 6.7.2018.
  16. Die Geshe-Ausbildung verläuft über 15 Klassenstufen und umfasst einen Zeitraum von ca. 20 Jahren.
  17. Interview mit dem Geshe am 10.5.2018.
  18. Gespräche und Besuch im Sommer 2018.
  19. Seit 1961 war die Schweiz das erste europäische Land, das tibetische Flüchtlinge aufnahm. Im Zuge dessen entstand 1968 das Kloster in Rikon (Kanton Winterthur) mit dem Ziel, den dort ansässigen Tibetern eine geistige und kulturelle Betreuung zu bieten. Siehe Lindegger-Stauffer 1971, 377-388, oder www.youtube.com/watch?v=vRdmsMisMUY.

Literatur

Berzin, Alexander: Zwischen Freiheit und Unterwerfung. Chancen und Gefahren spiritueller Lehrer-Schüler-Beziehungen, Berlin 2002

Brauen, Yangzom: Eisenvogel, München 2010

Eißler, Friedmann: Was sagen hohe Lamas zum Lehrer-Schüler Verhältnis?, in: MD 11/2017, 424-428

Erken, Ruth: Tibetische Familien im indischen Exil, Münster 2006

Fremantle, Francesca / Trungpa, Chögyam (Hg.): Das Totenbuch der Tibeter, Kreuzlingen/München 2008

Goldstein, Melvyn C.: Serfdom and Mobility. An Examination of the Institution of „Human Lease“ in Traditional Tibetan Society, in: The Journal of Asian Studies 30/3 (1971), 521–534

Golzio, Karl-Heinz: Wer den Bogen beherrscht. Der Buddhismus, München 1997

Gyatso, Kelsang: Buddhism in the Tibetan Tradition, New York 2008

Kapstein, Matthew T.: Tibetan Buddhism. A Very Short Introduction, New York 2014

Klein, Mechthild: Buddhisten und das Thema „Machtmissbrauch“, in: MD 2/2018, 54-60

Kollmar-Paulenz, Karénina: Kleine Geschichte Tibets, München 2006

Lindegger-Stauffer, Peter: Das klösterliche Institut Rikon / Zürich in: Asiatische Studien 1971, 377-388

Manshardt, Jürgen: Die transformierende Kraft des Tantra Kalachakra, Berlin 2002

Midal, Fabrice: Tibetische Mythen und Gottheiten, Berlin 2002

Notz, Klaus-Josef: Der Tibetische Buddhismus in Deutschland, EZW-Information 91, Stuttgart 1984

Rakow, Katja: Transformation des tibetischen Buddhismus im 20. Jahrhundert. Chögyam Trungpa und die Entwicklung von Shambhala Training, Göttingen 2014

Skorupski, Tadeusz / Cech, Crystyn: Major Tibetan Life Cycle Events – Birth and Marriage Ceremonies, www.thlib.org/static/reprints/kailash/kailash_11_0102_01.pdf

Schaeffer, Kurtis R. / Kapstein, Matthew T. / Tuttle, Gray (Hg.): Sources of Tibetan Tradition, New York 2013

Tucci, Giuseppe: The Religions of Tibet, New York 2009