Tolerant aus Glauben - was heißt das?

Auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017 hat die EKD das Jahr 2013 unter das Thema „Reformation und Toleranz“ gestellt. In einer durch weltanschauliche Vielfalt geprägten Welt ist es wichtig, Toleranz einzuüben. Was aber bedeutet es, tolerant zu sein im Geiste des Evangeliums?

Tolerant ist diejenige Person, die die Existenzberechtigung anderer Glaubenswahrheiten akzeptiert, obgleich sie diese ausdrücklich nicht für richtig hält. Eine solche überzeugte Toleranz ebnet Unterschiede nicht ein, sie zielt nicht auf Harmonie. Was ausdrücklich bejaht wird, muss nicht toleriert werden. Überzeugte Toleranz gibt dem Anderen Raum und begegnet ihm mit Achtung. Sie weiß, dass sich religiöser Pluralismus nicht wegmissionieren lässt, aber auch keinen Missionsverzicht erfordert.

Ein Blick in die Geschichte des Christentums macht unmissverständlich deutlich, dass Toleranz oft Mangelware war. Allzu oft ist die Einsicht vergessen worden, dass sich der christliche Glaube nicht durch Zwang und mithilfe staatlicher Macht ausbreitet. In vielen Ländern werden Menschen bis heute wegen ihrer religiösen Überzeugung verfolgt. In den Verfassungen der europäischen Staaten wurde erst in der Neuzeit festgeschrieben, dass nicht nur Toleranz im Sinne von „Duldung“ des Anderen gefordert ist, sondern Religionsfreiheit ein in der Würde jedes Menschen begründetes Recht ist. Christen werden diesem Recht unbedingt zustimmen und es nicht nur für sich, sondern auch für Andersgläubige und Nichtgläubige gelten lassen.

Religionsvielfalt kann freilich auch als Folge der Christentumsgeschichte betrachtet werden. Denn die christliche Glaubensüberzeugung, dass das Zeugnis des Evangeliums sich ohne weltliche Gewalt allein durch die einladende Verkündigung durchsetzt, hat den gesellschaftlichen Pluralismus mit seiner Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit und Toleranzforderung mit vorbereitet. Die reformatorische Betonung der Unerzwingbarkeit des Glaubens, die Hervorhebung der Gewissensbindung jedes Einzelnen, die Unterscheidung zwischen Gottes weltlicher und geistlicher Regierweise, die Vision vom Priestertum aller Gläubigen im Gegenüber zur kirchlichen Hierarchie haben dazu beigetragen, der neuzeitlichen Toleranz und dem weltanschaulichen Pluralismus den Weg zu ebnen. Von der Akzeptanz des säkularen Rechtsstaates, der den Pluralismus der Religionen ermöglicht, waren die reformatorischen Bewegungen des 16. Jahrhunderts allerdings noch weit entfernt. Pluralität und Toleranz sind insofern „nicht die Kinder, sondern allenfalls die Urenkel der Reformation“ (Heinz Schilling). Heute wird das enge Wechselverhältnis von Religionsfreiheit und Toleranz hervorgehoben. Die evangelische Kirche knüpft dabei an biblische und reformatorische Traditionen an. Der säkulare Rechtsstaat, der auf der Anerkennung der Menschenrechte beruht und dem Grundsatz der weltanschaulichen Neutralität verpflichtet ist, schafft Gestaltungsräume für eine Friedensordnung, die nicht von einem Konsens in weltanschaulichen Fragen abhängt. „Wie der Staat an keine Religion oder Weltanschauung gebunden sein darf, so muss auch die Religion frei von staatlichem Zwang und politischer Gewalt sein“ (Denkschrift: Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie, 1985). Solche Einsichten sind erst in schmerzhaften Lernprozessen gewachsen. Der Friede zwischen verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ist ein hohes, unverzichtbares Gut. Nie wieder sollen Menschen um ihres Glaubens – oder Unglaubens – willen Intoleranz, Zwang oder Gewalt ausgesetzt werden.


Reinhard Hempelmann