Kirchen

Tragen die Kirchen zu wenig zur Bewältigung der Corona-Krise bei?

Tragen die Kirchen zu wenig zur Bewältigung der Corona-Krise bei? Am Ende des vergangenen Kirchenjahres, am Ewigkeitssonntag im November 2020, haben Bischöfe der evangelischen und katholischen Kirche in Gottesdiensten an die Toten der Corona-Pandemie und die Trauer ihrer Angehörigen erinnert. War damals von 14 000 Verstorbenen die Rede, sind Anfang März über 70 000 Tote in Deutschland zu beklagen. Für den 18. April wurde vom Bundespräsidialamt eine zentrale staatliche Gedenkfeier für die Corona-Toten ausgerufen. Genau an diesem Wochenende finden aber in Worms Jubiläumsveranstaltungen statt: Vor 500 Jahren verteidigte der ehemalige Augustinermönch Martin Luther dort seine reformatorischen Gedanken vor dem Reichstag. Zunächst schlossen die Planungen für die staatliche Gedenkfeier die Kirchen aus. Manche sahen darin nicht allein eine unglückliche Terminkollision, sondern einen weiteren Beleg für den Bedeutungsverlust der Kirchen, wenn Tod, Trauer und Sterben ohne religiöse Trost- und Hoffnungsrituale bedacht werden – „Gegen Corona ist selbst Martin Luther machtlos“1

Mehrere Feuilleton-Beiträge haben in den letzten Wochen die Rückständigkeit und Nutzlosigkeit der Kirchen angeprangert. Sie hätten nichts religiös Hilfreiches zur Bewältigung der Corona-Krise beigetragen und seien deshalb faktisch überflüssig, meint der Gründungsdirektor und langjährige Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, Gerhard Wegner, in einem Gastbeitrag für die F.A.Z.2 „Sind die Kirchen nicht gefragt?“, räsoniert der Herausgeber des Berliner „Tagesspiegels“.3 Ob die Kirchen tatsächlich zu wenig Trauer- und Bewältigungsangebote für die gegenwärtige Pandemie-Krise bereitstellen, wie ihnen vorgeworfen wird, ist Ansichtssache. Es gibt unendlich viele kreative Gesprächs-, Meditations- und Seelsorge-Angebote in den Landeskirchen. Nur ein Beispiel: Drei Pfarrerinnen eines Berliner Kirchenkreises haben eine interaktive Webseite ins Leben gerufen (https://spiritandsoul.org), um Beziehungen in Zeiten sozialer Distanzierungspflicht zu pflegen oder neu zu knüpfen. Dafür muss die Hemmschwelle einer Kirchentür gar nicht überwunden werden.

Soziologen weisen darauf hin, dass die Praxis des christlichen Glaubens vor allem zwei menschliche Grundbedürfnisse befriedigen kann, auf die unsere hoch technisierte, säkulare Gesellschaft keine Antworten weiß: Wie können wir trotz unserer tief verwurzelten egoistischen und gewalttätigen Impulse harmonisch in Gemeinschaften zusammenleben? Und wie können wir unsere Endlichkeit, das ungerechte Leiden und den Schmerz aushalten, ohne zu verzweifeln? Der christliche Glaube bietet Sinndeutungen an, um bohrende existenzielle Fragen zu beantworten und Hoffnung und Vertrauen über den Tod hinaus zu stiften. Der Philosoph Jürgen Habermas schätzt die Religionen auch für „religiös Unmusikalische“ als wichtige Quelle der persönlichen Sinnstiftung ein. Er skizziert in seiner 2019 erschienenen Philosophiegeschichte fünf Bereiche, in denen ihm die Ergänzung der säkularen Vernunft durch einen religiösen Umgang mit der Lebenswirklichkeit als sinnvoll erscheint: Solidarität, Moral, Sprache, existenzielle Antworten und Transzendenz.

Religiöse Werte bilden eine zentrale Säule der Kultur und sind damit identitätsstiftend. Der Deutsche Kulturrat hat im Jahr 2017 Thesen zur kulturellen Integration einer zunehmend pluralistischen Gesellschaft verabschiedet. Sie beschreiben, wie Religionen wichtige Beiträge zur kulturellen Integration leisten, indem sie etwa durch ihre Wertvorstellungen den Gemeinsinn stärken. Deshalb ist es klug, dass nun unmittelbar vor dem staatlichen Gedenkakt am 18. April ein ökumenischer Gottesdienst in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche anberaumt wurde, der live in der ARD übertragen wird. Damit erinnert sich die Regierung an ihre kulturellen Wurzeln und übergeht nicht die zahlreichen und bewährten Möglichkeiten christlicher Trauerkultur und Angstbewältigung.


Michael Utsch

Anmerkungen

  1. Reinhard Bingener: Gegen Corona ist selbst Martin Luther machtlos, F.A.Z., 12.2.2021, tinyurl.com/mb36td4u (Abruf der Internetseiten: 3.3.2020).
  2. Gerhard Wegner: Sind die Kirchen nutzlos geworden?, F.A.Z., 14.1.2021,tinyurl.com/yjmw2s4m.
  3. Stephan-Andreas Casdorff, Der Tagesspiegel, 8.2.2021, tinyurl.com/7eusdcpk.