Mouhanad Khorchide/Walter Homolka

Umdenken! Wie Islam und Judentum unsere Gesellschaft besser machen

„Umdenken!“ ist eine Herausforderung, für manche wohl auch eine Zumutung. Mit dem programmatischen Untertitel „Wie Islam und Judentum unsere Gesellschaft besser machen“ haben Mouhanad Khorchide und Walter Homolka die theologische und gesellschaftspolitische Agenda ihrer kürzlich vorgelegten Monografie treffend umrissen. Khorchide, der seit 2010 das Zentrum für Islamische Theologie der Universität Münster leitet, und Homolka, seit 2002 Rektor des liberalen Rabbinerseminars „Abraham Geiger Kolleg“ an der Universität Potsdam, zählen zweifellos zu den profiliertesten islamischen bzw. jüdischen Theologen in Deutschland. Ihr gemeinsam verfasstes Buch „Umdenken!“ will zum kritischen Nach- und Neudenken der Rolle ihrer beider Religionen in der einstmals weit überwiegend christlich geprägten deutschen Gesellschaft auffordern.

Hierzu widmen sich die Autoren in drei thematischen Blöcken mit alternierenden Beiträgen den Gemeinsamkeiten der sog. „abrahamitischen Religionen“ (und darin insbesondere von Judentum und Islam), der Geschichte und der Gegenwart jüdischer und islamischer Theologie hierzulande sowie der historischen und aktuellen Bedeutung von Judentum und Islam in Deutschland. Schon im einleitenden Kapitel des Buches spricht Walter Homolka eine für viele christliche LeserInnen vermutlich unbequeme Wahrheit aus, wenn er aus jüdischer Perspektive schreibt:

„Unsere Berührungspunkte mit der christlichen Umgebung waren zeitweise von ähnlicher Abneigung und hysterischer Feindseligkeit geprägt, wie Muslime sie erfahren haben“ (9).

Auch erinnert der Rabbiner daran, dass es mit Abraham Geiger gerade ein jüdischer Gelehrter war, der im 19. Jahrhundert zu den ersten Deutschen gehörte, die sich wissenschaftlich mit dem Islam befassten. Mehr noch, „die Beschäftigung mit dem Islam sei ihm [Abraham Geiger] liebevolle Neigung, die Auseinandersetzung mit der christlichen Theologie aber nur lästige und apologetische Pflicht“ (13) gewesen. Auch heute noch macht es Homolka „stutzig“, dass von christlicher Seite oftmals die besondere Stellung des jüdisch-christlichen Dialogs hervorgehoben werde.

„Denn über viele Jahrhunderte hinweg wurden Juden von Christen auf das Grausamste verfolgt, ausgegrenzt, verhöhnt und ermordet. Die Scham über das große Versagen beider Kirchen während des Dritten Reichs war die Grundlage mehrerer Jahrzehnte der intensiven Annäherung des Christentums an das Judentum, mit teilweise grotesken Phasen des Philosemitismus. Kann das aber Jahrhunderte der guten Nachbarschaft zwischen Juden und Muslimen aufwiegen? Nein“ (20).

Homolkas christliche GesprächspartnerInnen müssten sich neben den im historischen Vergleich ausgesprochen friedlichen Beziehungen zwischen muslimischen und jüdischen Bevölkerungsteilen im Osmanischen Reich auch „vergegenwärtigen, dass ihre Trinitätslehre dem Judentum ferner liegt als die Lehre des Islams und dass Juden und Muslime lange Phasen gemeinsamer Erfahrungen verbinden, etwa die der Kreuzzüge oder der Reconquista“ (22). Khorchide wiederum ergänzt in seinen Ausführungen den starken Bezug des frühen Islam zu jüdischen Traditionen der Arabischen Halbinsel:

„Entgegen allen Klischees einer vermeintlichen Judenfeindschaft des Korans spricht der Koran hier in einem würdigenden Kontext von den Banu Israel, den Kindern Israels“ (32).

Vor diesem Hintergrund attestiert der islamische Theologe dem sich im 7. Jahrhundert n. Chr. herausbildenden Islam sogar ein Selbstverständnis „als eine Art Fortführung des Judentums“. Eine eigenständige religiöse Identität habe der Islam erst später und aufgrund spezifischer kultureller und politischer Rahmenbedingungen entwickelt (37). Falsch sei jedenfalls die Annahme, Mohammed und der Islam hätten grundsätzlich ein Problem mit ihren jüdischen NachbarInnen gehabt (73).

Immer wieder erinnert der Rabbiner Walter Homolka in „Umdenken!“ an die erhebliche Diskriminierung von Juden im christlichen Preußen bzw. Deutschen Reich des 19. Jahrhunderts, die sich auch in der mangelnden Anerkennung von Judaistik bzw. jüdischer Theologie als Wissenschaft geäußert habe. Zumal aus Berliner Perspektive regt dies etwa zu einer kritischen Anfrage an das jüngst wiedererrichtete Stadtschloss an. Denn dessen Kuppel ziert bekanntlich nicht nur ein weithin sichtbares Kreuz, sondern auch die für jüdische und muslimische BerlinerInnen nicht unproblematische Aufforderung aus Phil 2,10, „dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind“. Die zunehmende Trennung von „Thron und Altar“ seit Beginn des 20. Jahrhunderts betrachtet Homolka in diesem Zusammenhang als eine große Errungenschaft, ebenso wie die theologische Auseinandersetzung mit der Gedankenwelt der Aufklärung. Die jüdische Theologie habe diese ebenso gewagt wie die christliche und könne nun vielleicht auch der islamischen Theologie auf diesem Weg der Modernisierung behilflich sein (19).

Sein Mitautor Khorchide greift diesen Gedanken in der Folge beherzt auf. Gerade „das Fehlen von reflektierten Zugängen zur Religion“, beispielsweise in Form von islamischem Religionsunterricht oder auf junge Menschen ausgerichteten Moscheegemeinden, schaffe „ein geistiges Vakuum …, das das Rekrutieren solcher Jugendlichen in fundamentalistische Milieus begünstigen würde“ (98). Bald wird deutlich, dass Khorchide in seinen Beiträgen – anders als der geistesgeschichtlich argumentierende Homolka – einen stark gesellschaftspolitischen Zugang wählt, wobei er seine Thesen mitunter auf eine eher anekdotische Beweisführung stützt. Während Homolka etwa das populistische „Revival der Rede vom ‚christlichen Abendland‘ im 21. Jahrhundert“ als Wiederbelebung eines ahistorischen Kunstbegriffs anprangert (133), besteht für Khorchide ein Dilemma des Islam in Deutschland „darin, dass die meisten großen Moscheegemeinden im Laufe der Zeit politische Strukturen aufgebaut haben und eher politischen als religiösen Agenden folgen“ (101). Insofern solle man seiner Ansicht nach nicht fragen, ob der Islam zu Deutschland oder Europa gehöre, sondern vielmehr:

„Gehört Europa zum Islam? Stellen also die freiheitlich-demokratischen Werte Europas einen selbstverständlichen Teil jenes Islams dar, den die Muslime in Europa vertreten?“ (139)

Besonders gefährdet sieht Khorchide dieses Bekenntnis zu freiheitlich-demokratischen Werten im „politischen Islam“ (wie ihn etwa die Muslimbruderschaft verkörpere), dem er als Leiter des wissenschaftlichen Beirats der österreichischen „Dokumentationsstelle Politischer Islam“ einen eigenen Exkurs widmet. Dringend ruft er dazu auf, liberalen muslimischen Stimmen mehr Gehör zu verschaffen und ihnen als Dialogpartnern besser zuzuhören. Zur Entwicklung eines aufgeklärten Islam sei zudem unbedingt muslimische Selbstkritik nötig. Denn:

„Wenn die Muslime ihre Probleme nicht selbst benennen und die anderen dies aus falsch verstandener Toleranz ebenfalls nicht tun, dann zeigt uns die Praxis, dass die Neue Rechte das Benennen der Probleme für sich pachtet. Und sie tut es hetzend und rassistisch, statt politisch aufklärend“ (170f).

Für wenig hilfreich hält Khorchide in diesem Zusammenhang den Ansatz der Journalistin Kübra Gümüşay, an deren Bestseller „Sprache und Sein“ er sich seitenlang abarbeitet. Dem Buch attestiert er wiederholt einen für den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt kaum förderlichen „identitären Zugang“, der die Selbstwahrnehmung als Opfer konstitutiv für die muslimische Identität werden lasse. Die Lösung besteht für den Münsteraner Theologen jedoch gerade nicht darin, sich selbst eine Opferrolle zuzuschreiben, sondern darin, in verstärkter Innerlichkeit größere Demut und Dankbarkeit zu empfinden:

„Dankbarkeit bedeutet, den Blick nicht auf das Negative oder die Defizite im eigenen Leben oder im Leben anderer zu lenken, sondern auf das Positive, auf die Fülle, die uns umgibt“ (181).

Unbedingt zuzustimmen ist seiner abschließenden Mahnung: „Den Nächsten zu lieben, bedeutet jedoch nicht, ihm immer Recht zu geben, sondern auch, ihn zu kritisieren, wenn Kritik berechtigt ist“ (192). Dass dies konsequenterweise auch eine kritische Selbstreflexion einschließt, verdeutlicht das Buch von Homolka und Khorchide ein ums andere Mal. „Umdenken!“ ist eine Provokation, der es sich auszusetzen lohnt.

Mouhanad Khorchide / Walter Homolka: Umdenken! Wie Islam und Judentum unsere Gesellschaft besser machen, Herder Verlag, München, 2021, 192 Seiten, 22 Euro.


Alexander Benatar, 01.07.2021