Mormonen

Unser Wachstum ist phänomenal

(Letzter Bericht: 12/2004, 473f) Zweimal im Jahr lädt die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (HLT) zu Generalkonferenzen in ihr riesiges Konferenzzentrum nach Salt Lake City ein. Im vergangenen Jahr standen die Konferenzen im Zeichen des 200. Geburtstages des „Propheten“ Joseph Smith und des 175. Jahrestages der Gründung der HLT und sie zeichneten – wie so oft – das Bild einer äußerst erfolgreichen Religionsgemeinschaft, die das eigene Wachstum als einen Hinweis auf den Segen Gottes deutet. Etwa 12,2 Millionen Mitglieder hat die Gemeinschaft zum 31. Dezember 2004 gezählt, fünf Jahre zuvor waren es noch knapp 1,2 Millionen weniger (vgl. die Angaben in MD 9/2001, 309f).

Das Wachstum der HLT ist also ungebrochen. Präsident Gordon B. Hinckley bezeichnete die Entwicklung der Gemeinschaft als „phänomenal“. Etwa 51.000 Missionare hat die Gemeinschaft weltweit im Einsatz, in den Jahren 1999/2000 waren es noch knapp 60.000. Dennoch wird der Mission nach wie vor höchster Stellenwert eingeräumt (vgl. MD 12/2004, 473f). Auf der Frühjahrs-Generalkonferenz zu Ostern 2001 hatte Hinckley noch die Jugend zu missionarischen Höchstleistungen beflügeln wollen, indem er sagte: „Es soll Wunsch und Wille eines jeden jungen Mannes dieser Kirche sein, als Lehrer des ewigen Evangeliums in die Welt hinauszuziehen, als Missionar der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage.“1 Jetzt hat man die Senioren als Missionare entdeckt. Unter der Überschrift „Segnungen einer Mission in den besten Jahren“ heißt es in Liahona 12/2005: „Ältere Missionare bewirken Segnungen für sich selbst und für die Menschen, denen sie dienen, ebenso für ihre Kinder und Enkelkinder.“2 Damit eröffnen sich für die LDS völlig neue missionarische Perspektiven, wenn man bedenkt, dass Senioren oftmals finanziell besser abgesichert sind und vermutlich in manche Konflikte nicht geraten werden, die jungen Erwachsenen bei der Mission in fremden Ländern drohen.

Regelmäßig konnte die Leitung der HLT in den letzten Jahren auch auf ein beachtliches Bauprogramm verweisen. Weltweit sind derzeit 122 Tempel in Betrieb, Ende der 1990er Jahre waren es lediglich 53; allein in dem symbolträchtigen Jahr 2000 konnten weltweit 34 Tempel geweiht werden, so viele wie noch nie in einem Jahr.

Die Generalkonferenz vom Herbst 2005 wurde – wie üblich – mit einer Ansprache von Präsident Gordon B. Hinckley eröffnet. Er kam sehr schnell zum Zentrum mormonischer Lebensführung und sagte: „Jeder, der für einen Tempelschein würdig ist, ist damit auch als treuer Heiliger der Letzten Tage anzusehen. Er wird einen vollen Zehnten zahlen, das Wort der Weisheit halten, ein gutes Verhältnis zu seinen Angehörigen haben und ein besserer Staatsbürger sein.“ Es wäre interessant, zu erfahren, was letzteres mit Blick auf einige Aspekte der US-amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik bedeutet. Leider schweigt Hinckley zu solchen konkreten Fragen, obwohl Worte des „lebenden Propheten“ zu diesem wichtigen und für mormonische US-Soldaten mitunter existenziellen Thema möglicherweise wichtiger wären als die ständig wiederholten Warnungen vor sexuellen Fehltritten.

Dessen ungeachtet deutet Hinckley zumindest ein Problem an: Die zunehmende Zahl von Tempeln führt dazu, dass stellvertretende Handlungen wie z. B. die Taufe für bereits Verstorbene mehrfach verrichtet werden, denn „es arbeiten Menschen in verschiedenen Ländern gleichzeitig an ein- und demselben Familienstammbaum und stoßen auf dieselben Namen“3. Um solche Doppelbearbeitungen in Zukunft zu vermeiden, möchte man ein computergestütztes Informationssystem aufbauen. Genaueres war jedoch nicht zu erfahren.

Über ein anderes Problem, das die HLT zu beschäftigen scheint, berichtete Liahona im Oktober 2005. Bekanntlich bezweifeln die christlichen Kirchen die Christlichkeit der HLT, weil diese in vielen Punkten ein anderes Gottes- und Menschenbild vertreten.4 An genannter Stelle lesen wir unter der Überschrift „Du bist Mormonin?“ einen Beitrag, der davon handelt, dass sich ein Außenstehender kritisch gegenüber einer Mormonin äußert und in Zweifel zieht, dass die Mormonen an Jesus Christus glauben. Der Text will nun für eine solche Situation Argumentationshilfen liefern. Ob diese Argumente wirklich überzeugen, darf bezweifelt werden, denn sie sind zum Teil von erstaunlicher Schlichtheit. So soll man bei Diskussionen darauf verweisen, dass der richtige Name der Gemeinschaft „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ lautet – „Alles andere sind bloß Spitznamen.“ Und man soll bezeugen, dass man an die Bibel glaubt und auf die Stellen im Buch „Mormon“ verweisen, „die von Jesus Christus Zeugnis geben“. Letztere Begründung ist kaum stichhaltig, denn die (wenigen) Stellen im „Buch Mormon“ belegen eher eine Relativierung des Evangeliums. Wenn zudem nahe gelegt wird, sich nicht auf zermürbende Diskussionen einzulassen, sondern statt dessen – wenn irgend möglich – den Zweifler in die eigenen Besucherzentren und Kirchen einzuladen und ihn mit Missionaren ins Gespräch zu bringen, dann wird spürbar, dass man sich nur allzu gern wieder auf das sichere Terrain der gewohnten Missionierungspraxis zurückzieht.5

Allein die Existenz dieses Beitrages beweist aber, dass die Frage nach der Christlichkeit der HLT offenbar auch innerhalb der Gemeinschaft virulent ist. Übrigens braucht auch ein Mitglied der HLT die Zeitschrift Liahona nur aufmerksam zu lesen, um zu merken, dass die Unterschiede zur übrigen Christenheit offenbar doch erheblich sind. Im Februar 2005 wurde unter der Überschrift „Was ist aus der Kirche Jesu Christi geworden?“ die Frage erörtert, wie die Kirche in den ersten Jahrhunderten vom wahren Glauben abgefallen sei und „kostbare Lehren der Bibel“ verloren gingen. Sie wurden „entweder absichtlich herausgenommen, um die Wahrheit zu vertuschen, oder sie kamen durch Unachtsamkeit oder uninspirierte Übersetzungen abhanden“.6 Diese verloren gegangenen Lehren mussten „wiederhergestellt werden“ – durch den „Propheten“ Joseph Smith und seine Offenbarungen. Folgt man dieser Logik, so kann man kaum leugnen, dass die Heiligen Texte der HLT in zentralen theologischen Fragen zwangsläufig ein anderes Evangelium präsentieren als die Heilige Schrift. Diese gilt bei den HLT ohnehin nur eingeschränkt, nämlich „soweit richtig übersetzt“. Aber welches Buch ist schon „richtig“ übersetzt?


Andreas Fincke


Anmerkungen

1 Worte des lebenden Propheten (Gordon B. Hinckley), in: Liahona 2/2001, 28.

2 Liahona 12/2005, 26.

3 Liahona November 2005, 5f.

4 Vgl. dazu genauer: Werner Thiede, Die „Heiligen der Letzten Tage“ – Christen neben der Christenheit, EZW-Text 161, Berlin 2001.

5 Vgl. Liahona 10/2005, 36ff.

6 Liahona 2/2005, 15.