Werner Thiede

Unsterblichkeit der Seele? Interdisziplinäre Annäherungen an die Menschheitsfrage

Theologische Plädoyers 13, Lit-Verlag, Münster 2021, 280 Seiten, 24,90 Euro

Theologische Beiträge zu Nahtoderfahrungen haben Seltenheitswert. Umso interessanter ist, dass zu dieser Thematik eine neue Publikation des Systematischen Theologen und früheren Referenten der EZW, Werner Thiede, vorliegt. Schon in früheren Jahren hat er dazu pointierte Einschätzungen publiziert. Dabei bezieht er neben theologischen Grundsatzfragen die Themen Esoterik und Nahtodforschung ein. Er stellt katholische wie evangelische Denkmodelle vor. Thiede plädiert für eine ganzheitlich ausgerichtete, die Seelenunsterblichkeit bejahende Auferstehungshoffnung. Unter „Seele“ versteht er unter Verweis auf 2. Kor 5,1 „das auf seine Weise ‚ganzheitliche‘ personale Kontinuum“ (3).

Insbesondere im Bereich des Protestantismus tut man sich mit der Annahme einer unsterblichen Seele schwer, obwohl hierzu neuere Beiträge vorgelegt wurden (u. a. von Christof Gestrich und neuerdings von Jürgen Moltmann). Thiede sieht die Ursache in der dem Zeitgeist ihrer Entstehungsphase angepassten „Ganztod-Theologie“. In der römisch-katholischen Tradition sei indes die Unsterblichkeit der Seele seit 1513 ein Glaubensdogma (9). So konstatiert Thiede heute eine Tabuisierung der Unsterblichkeitsfrage im Protestantismus.

Das Buch gliedert sich in vier Hauptteile. Im ersten stellt der Verfasser soziologische Befunde vor und geht auf Todestabuisierung, Todesangst-Bewältigungstheorie und Verdrängungsmechanismen verschiedener Epochen ein. Außerdem kontrastiert er hierzu ein für ihn seit jeher drängendes Thema, die Digitalisierung, in der er provokativ einen Versuch vermutet, Unsterblichkeit durch Technik zu schaffen (31 – 46). Bei seinen Analysen und Einschätzungen sind kulturpessimistische Töne indes nicht zu überhören, und in diesem Abschnitt ist der Bezug zur Ausgangsfrage nicht ganz deutlich.

Der zweite Hauptteil wendet sich grenzwissenschaftlichen Annäherungen zu. Dabei nimmt der Verfasser die Geschichte der Parapsychologie in den Blick. Darin stellt er das Verhältnis der Theologie zu diesem bis heute nicht anerkannten Wissenschaftszweig dar. Beim Durchgang durch die Theologiegeschichte sieht Thiede in Karl Heim und dessen Schüler Adolf Köberle sowie in den katholischen Theologen Karl Rahner und Andreas Resch wichtige Vertreter, die das Verhältnis der Theologie zur Parapsychologie neu zu bestimmen suchten. Abschließend plädiert Thiede für eine neue wechselseitige Verhältnisbestimmung, was auch – so seine Erwartung – zu einer „nicht nur erkenntnistheoretisch bedingten Positionierung zur Frage der Seelenunsterblichkeit“ führen wird (62). Leider bleiben an dieser Stelle Beiträge des neuen Zweiges der Forschung, der sog. Anomalistik, unberücksichtigt. Ein Abschnitt wendet sich der Nahtodforschung zu und prüft, ob sie ernst zu nehmende Indizien für die Unsterblichkeit der Seele bietet. So weist Thiede im Abschnitt über die Thanatologie zu Recht darauf hin, dass es neben den „schönen“ Sterbeerlebnissen eben auch gegenteilige Berichte gibt (70). Damit ist der „Offenbarungswert der Thanatologie“ im Blick auf ein Leben jenseits des Todes letztlich hinfällig. Wie fließend die Übergänge zwischen der Beobachtung von Sterbeerfahrungen und der weltanschaulichen Orientierung ihres Betrachters werden können, zeigt sich an den beiden Exponenten der Sterbeforschung Elisabeth Kübler-Ross und Raymond Moody. Bei Letzterem hätte Thiede noch schärfer dessen Versuch, mit der Errichtung eines „Psychomanteums“ Sterbeerlebnisse zu induzieren (so in seinem Buch „Blick hinter den Spiegel. Botschaft aus der anderen Welt“ [1996]), als Übergang zu einer festen weltanschaulichen Überzeugung konstatieren können. Generell räumt der Verfasser ein enormes Hoffnungspotenzial der thanatologischen Perspektive ein (88) und sieht in der Nahtodforschung „theologische Herausforderungen und Chancen ersten Ranges“ (91).

Der dritte Hauptteil des Buches analysiert Spiritismus und Esoterik als „geheimwissenschaftliche“ Zugänge. In Augenschein genommen werden dabei die im aufklärerischen Gewand gekleideten neuen Offenbarungen des schwedischen Visionärs Emanuel Swedenborg und in dessen Gefolge der Spiritualismus des Grazer Musikers Jakob Lorber. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzende anglo-indische Theosophie als „Eschatologie der Intellektuellen“ verflüssigte die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits. Sie beruft sich auf Kundgaben aufgestiegener Meister und entfaltet ihren pädagogischen Evolutionismus in Gestalt von aufeinanderfolgenden Reinkarnationen. Fortschritt und Entwicklung stehen dabei im Zentrum. Davon ist auch die Anthroposophie Rudolf Steiners stark geprägt. Thiede nimmt unter seiner Leitfrage auch den Spiritismus des 19. Jahrhunderts in den Blick. Der Geisterglaube verband sich mit Reinkarnationsideen. Unbestreitbar zeigt sich in spiritistischen Botschaften die Tendenz zur Bagatellisierung des Todes und zur Schaffung einer Projektionsfläche für höchst eigensinnige diesseitige Erwartungen. Im Gegenüber zu Aussagen der modernen Esoterik zum Reinkarnationsglauben zeigt sich Thiede zufolge bei der kirchlichen Verkündigung zur Auferstehung eher ein ratloses Schweigen. Das hat für ihn einen Grund: die bis heute vertretene „Ganztod-Theologie“:

„Die nicht nur in den Hörsälen, sondern an den Gräbern inzwischen millionenfach transportierte Ganztod-Theologie hat ein spirituelles Vakuum geschaffen, in das die Esoterik problemlos vorstoßen konnte, ja geradezu hineingesaugt wurde“ (115).

So sei es kein Wunder, dass die Reinkarnationsidee zum führenden Hoffnungsmodell westlicher Gesellschaften werden konnte. Einen wichtigen Impuls dazu lieferte der christliche Kabbalist Franciscus M. van Helmont (1614 – 1699), der in der Seelenwanderung die Möglichkeit für den Menschen sah, an seiner Erlösung aktiv mitzuwirken. Leitend war dabei nicht ein Strafcharakter, sondern der Fortschrittsgedanke. Thiedes nüchterne Analyse ergibt, dass bei den Esoterik-Beiträgen keine „Stichhaltigkeit angeblich erdrückender Beweise für die jeweils behaupteten Identitäten“ vorliegt (128). Außerdem erweisen sich christlicher Glaube und Reinkarnationslehre für den Verfasser als miteinander prinzipiell unvereinbar.

Der vierte Hauptteil des Buches wendet sich geisteswissenschaftlichen Überlegungen im Kontext einer Theologie der Unsterblichkeit zu. Hier setzen die Ausführungen bei Martin Luther ein, der Thiede zufolge einen in christozentrischer und anthropologischer Hinsicht „großzügigen Seelenbegriff“ und eine „ontologisch ernst gemeinte Unsterblichkeit der Seele“ vertreten habe (136). Nach Luther habe die Zukunft für den, der glaubt, bereits begonnen. Außerdem sterbe dem Reformator zufolge nicht der ganze Mensch, „sondern ein Stück allein, der Leib“ (144). Luther rechnet demnach mit einem „Seelenschlaf“. Nach Thiede gewährleiste die Seelenunsterblichkeit bei Luther Identität und Kontinuität des Geschöpfes in Gottes Hand (145). Der Zwischenzustand des Seelenschlafes ziele bei Luther auf die Auferweckung des Leibes und der Seele. Die irdischen Dimensionen von Raum und Zeit verlieren ihre Geltung. Thiede erkennt in Luthers Denkmodell vom Seelenschlaf einen immens wichtigen Impuls für die Gegenwart:

„Es bewahrt vor spiritistischen, dämonologischen, gnostischen und sonstigen sektiererischen Spekulationen … Seine theologische Spannung von Regression (Seelenschlaf) und letztendlicher Progression (Auferstehung) bietet ein heilsames Hoffnungspotenzial an, das im religiösen Pluralismus der Spät- und Postmoderne jedenfalls nicht fehlen sollte“ (151).

In einem Abschnitt setzt sich Thiede kritisch mit der Ganztod-Theologie im Protestantismus auseinander, die er „zu den gravierenden Fehlentwicklungen in der protestantischen Theologie und Kirche des 20. Jahrhunderts“ zählt (158). Im Folgenden werden die eschatologischen Aussagen bei Paul Tillich, Karl Barth, Wolfhart Pannenberg und Jürgen Moltmann vorgestellt, der sich allerdings in jüngster Zeit von der Ganztod-Lehre distanziert hat.

Der letzte Abschnitt der Studie entfaltet unter der Überschrift „Auferstehung im Tod: Unsterblichkeit ohne All?“ Perspektiven für die christliche Auferstehungshoffnung. Dabei differenziert der Verfasser zwischen Positionen, die Unsterblichkeit ohne Auferstehung bejahen (Hans Grass, Wolfgang Trillhaas, Hans-Georg Fritzsche), und solchen, die den Ganztod mit Auferstehung vertreten (Edmund Schlink, Paul Althaus, Emil Brunner, Winfried Joest, Ulrich H. J. Körtner). Im weiteren Durchgang stellt er katholische Positionen wie etwa die „Auferstehung im Tod“ (Joseph Ratzinger, Gisbert Greshake) vor und dann vor diesem Hintergrund seine eigene Position. Den mit der Ganztod-Theologie einhergehenden eigentlichen theologischen „Sündenfall“ führt Thiede auf Schleiermacher zurück, der auch den Gerichtsgedanken entmythologisiert habe – mit angeblich weitreichenden Folgen v. a. für die liberalprotestantische Theologie. Thiede spricht sich klar für das theologische Festhalten am Gerichtsgedanken aus. „Es kann keine Evangeliumspredigt geben ohne Gerichtsbotschaft, denn sonst wäre nicht klar, wovon hier errettet und erlöst wird“ (191). Ein berührender Epilog („Wenn Verstorbene zu lächeln beginnen“) rundet die inhaltsreiche Studie ab. Es folgen noch ein ausführliches Literaturverzeichnis und ein 60 Seiten umfassender Anmerkungsteil. Angesichts der Fülle wäre ein Register hilfreich gewesen.

Fazit: Das Buch, mittlerweile in zweiter Auflage erschienen, bietet ein engagiertes Plädoyer für die Unsterblichkeit der Seele. Der Leser wird auf einen interessanten wie facettenreichen Spaziergang durch die Geschichte der Esoterik des 19. und 20. Jahrhunderts, der Parapsychologie und der Nahtodforschung mitgenommen. Die jeweiligen Positionierungen werden dialogisch-kritisch eingeordnet. Dabei hätte die theologische Problematisierung des neuzeitlichen Begriffs „Jenseits“, den der Verfasser verwendet, vermutlich noch weiteren kritischen Argumentationsstoff liefern können. Thiedes profilierte Rückfragen an die protestantische Theologie und seine auf Luther gründenden Überlegungen zeigen auf, welches Hoffnungspotenzial gerade in den Schätzen christlich-eschatologischer Aussagen liegt, die in den vergangenen Jahrzehnten eher vergraben als gehoben wurden.

Matthias Pöhlmann, München, 07.11.2022
 

Anmerkung

 Nach angeblich antiken Vorbildern richtete Moody ein „Psychomanteum“ ein. Es handelte sich um einen speziell eingerichteten, abgedunkelten Raum. In ihm wurde ein großer Spiegel an der Wand befestigt, in dem man Verstorbene wiedersehen und sogar mit ihnen sprechen können sollte.