Unterscheidungen sind wichtig
Zur Zielsetzung des „Handbuchs Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen“
Das „Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen“1 orientiert über die religiös-weltanschauliche Vielfalt der Gegenwart. Laut Klappentext werden in mehr als 60 Einzeldarstellungen die Freikirchen, Sondergemeinschaften und pfingstlichen Bewegungen, moderne Esoterik, religiöse Strömungen aus Asien und Anbieter von Lebenshilfekonzepten in Ursprung, Lehre und Wirkung dargestellt.
Nun bleibt es nicht aus, dass die einzelnen Darstellungen inhaltliche Kritik erfahren, nicht zuletzt auch von den dargestellten Gruppierungen. Fragen hat aber immer auch die jeweilige Zusammenstellung der Gruppen ausgelöst: Welche Gruppen finden Aufnahme in das Handbuch und welche nicht? Warum ist eine Glaubensgemeinschaft in die eine Kategorie eingeordnet und nicht in eine andere? Wieso werden diese Gruppen zusammengefasst und nicht jene? In diese Richtung gehen auch die jüngsten Anfragen von Walter Fleischmann-Bisten (vgl. MD 12/2016, 471-475): Es sei – so Fleischmann-Bisten – nicht nachvollziehbar, „dass trotz des lutherischen Verständnisses von Ökumene nach den Aussagen der Augsburgischen Konfession von 1530 … das Gegenüber der lutherischen Position neben den Lehren von Sondergemeinschaften, Neuoffenbarungsbewegungen, Psychoorganisationen und Islam gerade die nächsten Glaubensverwandten der reformatorischen Kirchen sind“. Fleischmann-Bisten fährt fort: „Ich wünsche mir keine lutherische Konfessionskunde und ein Lehrbuch über verschiedene Weltanschauungen und nichtchristliche Religionen in einem Band. Sondern ich plädiere wie auch andere Fachleute erneut dafür, das freikirchliche Spektrum des Protestantismus als alleiniges christliches Gegenüber aus diesem Handbuch zu entfernen.“ Dabei erinnert Fleischmann-Bisten an die weltweite Ökumene: „Bei Kirchen, mit denen man in Deutschland und europaweit längst volle Kirchengemeinschaft hat (wie mit den Methodisten) oder anstrebt (wie mit den Baptisten) oder in einem langen Versöhnungsprozess steht (wie mit den Mennoniten), verbietet es die ökumenische Kompetenz der VELKD, diese Kirchen in einem Buch mit den Zeugen Jehovas, dem Universellen Leben, dem Satanismus, Scientology, der Gülen-Bewegung und der Humanistischen Union im Gegenüber zum lutherischen Glauben zu behandeln.“
Nun steht zur Frage, ob mit der Aufnahme der Freikirchen in ein Buch, in dem auch die Zeugen Jehovas, das Universelle leben oder Scientology dargestellt werden, tatsächlich nichts Geringeres als die „ökonomische Kompetenz der VELKD“ auf dem Spiel steht oder ob hier nicht semantisch etwas hochgerüstet wird, wenn ein solches Vokabular bemüht wird. Im Blick auf das Handbuch ist m. E. Nüchternheit angebracht, eine Nüchternheit, die dem Ort und der Zielsetzung des Handbuches Rechnung trägt: Es ist ein Buch für die Praxis, und diese Zielsetzung bestimmt Aufbau und Inhalt des Buches! Um es möglichst pointiert zu formulieren: Das Handbuch will kein Michelin der Weltanschauungen und religiösen Gemeinschaften sein, sondern hat eine begrenzte und klar umrissene Aufgabe: Menschen, die in der Praxis stehen, über religiöse Gemeinschaften, die ihnen in den unterschiedlichen beruflichen Kontexten begegnen, zu informieren. Vor allem Pfarrer und Pfarrerinnen, aber auch Lehrerinnen und Lehrer sollen in die Lage versetzt werden, schnell Informationen über solche Gruppen zu erhalten, die ihnen in ihren beruflichen Kontexten begegnen, die sie aber nicht recht einzuordnen vermögen und mit denen sie sich auch den angemessenen Umgang nicht – oder nicht so ohne Weiteres – zutrauen. Daher sind vor allem solche Gruppen, religiöse Gemeinschaften und Freikirchen in das Handbuch aufgenommen, nach denen häufig bei den Weltanschauungsbeauftragten nachgefragt wurde und wird. Hierzu gehören eben auch die Freikirchen. Mögen Baptisten oder Methodisten weltweit in ihrer Bedeutung der lutherischen Kirche nicht nachstehen, in Deutschland bleiben sie Gruppen, über die – wie ich auf Pfarrer- und Lehrerfortbildungen immer wieder (bedauerlicherweise) feststellen muss – nur sehr vage Kenntnisse vorhanden sind und über die Vermutungen angestellt und Verdächtigungen geäußert werden, die man nicht für möglich gehalten hätte.
Die genannte Zielsetzung der praktischen Orientierung wird durch die umfangreichen Stellungnahmen und durch die praktischen Ratschläge zum Umgang mit den jeweiligen religiösen Gruppen mehr als deutlich. Die Ratschläge betreffen nicht nur Fragen wie die Anerkennung der Taufe, die Möglichkeit der Übernahme einer Patenschaft, sondern auch Fragen wie die, ob der jeweiligen Gruppe ein kirchlicher Raum zur Verfügung gestellt werden kann. In diesen Ratschlägen wird der Unterschied zwischen einer Freikirche wie den Methodisten auf der einen Seite und den Zeugen Jehovas oder dem Universellen Leben auf der anderen Seite deutlich. Ob nach dem Motto „Spielt nicht mit den Schmuddelkindern!“ die Forderung berechtigt ist, die unterschiedlichen Gemeinschaften nicht unter einem Buchdeckel zusammenzufassen, halte ich für durchaus bestreitbar.
Ein weiterer Punkt ist wesentlich: Das Handbuch ist in seiner Darstellung der unterschiedlichen Gruppen um Sensibilität bemüht. Dieser sensible Umgang ist nicht zuletzt erforderlich aufgrund der – zur Verantwortung verpflichtenden – herausgehobenen Stellung der Kirche in der Gesellschaft. Daher ist auch weder mit der Einordnung einer religiösen Gemeinschaft in eine bestimmte Kategorie noch auch mit der Aufnahme einer bestimmten Gemeinschaft (wie z. B. den Freikirchen) in das Handbuch eine Herabsetzung beabsichtigt. Das Handbuch ist kein „Schwarzbuch“ der religiösen Gemeinschaften – und will es auch nicht sein. Dies wird gerade dadurch versucht deutlich zu machen, dass die lutherische Kirche sich in die Darstellungen der religiösen Gemeinschaften und Freikirchen mittels einer Selbstdarstellung einreiht. Die lutherische Kirche verträgt es, gemeinsam in einem Buch „mit den Zeugen Jehovas, dem Universellen Leben, dem Satanismus, Scientology, der Gülen-Bewegung und der Humanistischen Union“ dargestellt zu werden. Diese Selbstdarstellung will nicht, wie Fleischmann-Bisten insinuiert, ein bloßes „Gegenüber“ zu allen anderen darstellen, vielmehr den Ort beschreiben, von dem aus Verstehensprozesse initiiert werden, Verstehensprozesse, die immer wieder neu unternommen werden müssen und die nicht mit abschließenden Urteilen verwechselt werden dürfen.
Kurzum: Die Aufnahme der Freikirchen in das Handbuch ist durch die Intention des Handbuches motiviert: eine praktische Orientierung innerhalb der religiösen Landschaft in Deutschland zu ermöglichen und zwar im Blick auf die Gruppen, auf die sich immer wieder Anfragen beziehen. Das Handbuch könnte seiner Aufgabe nicht nachkommen, wenn es auf Freikirchen verzichtet hätte. Da es ja die unterschiedlichen religiösen Gruppen genau beschreibt und um Differenzierungen bemüht ist, besteht m. E. nicht die Gefahr, dass hier etwas fahrlässig vermischt wird, was nicht vermischt werden darf. Ganz im Gegenteil: Es wird differenziert. Differenzieren aber kann man nur, wenn man auf das auch eingeht, was der Differenzierung fähig und bedürftig ist. Gerade damit erweist das Handbuch den Freikirchen einen großen Dienst: In seinen Stellungnahmen und Ratschlägen verdeutlicht es in aller notwendigen Klarheit, dass mit einer Freikirche wie den Methodisten ein ganz anderer Umgang ratsam ist als etwa mit Scientology. Dies könnte gerade nicht geleistet werden, wenn die Freikirchen übergangen würden. In einer Zeit, in der das Wissen um religiöse Gruppierungen marginal ist und dieses mangelnde Wissen dazu führt, dass Freikirchen von Gruppen wie Scientology gar nicht mehr unterschieden werden, hätte dies bedenkliche Konsequenzen. In diesem Sinne nimmt die VELKD mit dem Handbuch ihre ökumenische Kompetenz und ihr ökumenisches Anliegen gerade wahr.
Michael Roth
Anmerkung
1 Matthias Pöhlmann/Christine Jahn (Hg.), Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen, hg. im Auftrag der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), Gütersloh 2015.