Urteil gegen Hanauer Neuoffenbarerin
Urteil gegen Hanauer Neuoffenbarerin.„Gott hat Sylvia Dorn zu seinem Sprachrohr gemacht und durch die Träume vieler Menschen bestätigt, daß sie weitergibt, was er heute offenbaren will“1 – die selbsternannte Neuoffenbarerin wurde im September diesen Jahres vom Landgericht Hanau zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Mordes an dem vierjährigen Jan H. vor mehr als 30 Jahren verurteilt.
Vorausgegangen waren diesem Urteil vor allem Recherchen von Journalisten und Berichte von Aussteigern aus der neuoffenbarerischen Gemeinschaft seit dem Jahr 2014, die schließlich dazu führten, dass Polizei und Staatsanwaltschaft erneute Ermittlungen aufnahmen und im Jahr 2017 der Prozess gegen Sylvia Dorn eröffnet wurde. Die Umstände des grausamen Todes des kleinen Jungen, die Ermittlungsfehler der Behörden vor mehr als dreißig Jahren und die bizarre religiöse Gedankenwelt der Sylvia Dorn und ihrer Anhänger und Anhängerinnen führten zu großer medialer Aufmerksamkeit. Deutschlandweit wurde die kleine neuoffenbarerische Gruppe als „Hanauer Sekte“ bekannt.
Begonnen hat die Aufarbeitung schon im Jahr 2014: Ein ehemaliges Mitglied der Gemeinschaft und Mitarbeiter des mit dieser Gruppe verwobenen Fernseh- und Medienproduktionsunternehmens „Aeon“ wandte sich an die Presse und berichtete vom Innenleben in der Gemeinschaft und von seinen Erfahrungen.2 Vor allem zwei Journalisten nahmen daraufhin intensive Recherchen zu diesem Fall auf: Gregor Haschnik von der Frankfurter Rundschau und Nina Forst vom Hessischen Rundfunk. Sie arbeiteten teilweise zusammen, beschäftigten sich intensiv mit den Offenbarungen Sylvia Dorns, den Verflechtungen mit dem Medienunternehmen „Aeon“ sowie Aussagen von Aussteigern. Sie ließen sich auch von Weltanschauungsbeauftragten der Kirchen beraten.
Dabei zeichneten sie nach, wie die neureligiöse Gruppierung sich in den 1980er Jahren gründete. Walter Dorn, ein methodistischer Pastor und der Ehemann von Sylvia Dorn, hatte sich unter anderem wegen der Neuoffenbarungen seiner Frau mit seiner Kirchenleitung überworfen und wurde darum ausgeschlossen. Er widmete sich fortan der Deutung der Träume und Offenbarungen Sylvia Dorns und gründete eine Art „religiöse Selbsthilfegruppe“3 mit ungefähr 20 Mitgliedern. Viele von ihnen arbeiteten in Hanau bei dem von Walter Dorn gegründeten Unternehmen „Aeon“. „Die Firma soll Einnahmen generieren und die Möglichkeiten schaffen, um die Botschaft zu verbreiten“, so ein Aussteiger.4
Mit dem Vorwurf konfrontiert, Gründer einer religiösen Kleingruppe oder „Sekte“ zu sein, schreibt Walter Dorn in einer Stellungnahme damals:
„Wir haben keine Glaubenslehre, kein ‚Medium‘ und keine Kultgegenstände, keine Symbole, keine Liturgien und keine Rituale.“ „Wir führen keinen Gemeinschaftsnamen und haben keinen Internetauftritt, wir missionieren nicht und werben nicht für uns, entfalten auch sonst keine Aktivitäten nach außen.“5
Die gelernte Krankenschwester Sylvia Dorn empfing nach eigenen Angaben Botschaften direkt von Gott, den sie in ihren Büchern, Briefen und Tagebucheinträgen als „Alterchen“ bezeichnet.
„[Sie] entwickelt im Laufe der Jahre eine krude Lehre, die man als eine Mischung aus Theorien von Carl Gustav Jung, Christentum, Okkultismus, Personenkult und Diktatur bezeichnen könnte. Sie fußt auf der Behauptung, dass zwei gegensätzliche Kräfte auf den Menschen einwirken: Auf der einen Seite der mit D. verbundene große Gott – von ihr ‚der Alte‘ und ‚Alterchen‘ genannt –, auf der anderen Seite ‚die Dunklen‘: Wer auf D. und die Botschaften ihrer Traumdeutung höre, brauche sich nicht zu fürchten, werde Sinn und Erfüllung finden. Wer ‚den Dunklen‘ Raum gibt, sei verloren und von schweren Krankheiten wie Krebs bedroht.“6
Walter Dorn brachte Anfang der 1980er Jahre gemeinsam mit Arnold Erdmann vier Bücher von Sylvia Dorn heraus. Er hielt darin Hunderte von Träumen fest, die Menschen aus der Gemeinschaft Sylvia Dorn berichtet hatten und die diese mit neuoffenbarerischem Exklusivitätsbewusstsein deutete. Inhalte waren zum einen Sexualleben, Kindererziehung und der Umgang untereinander. Zum anderen wurde Sylvia Dorn als Vollendung des Werkes, das Gott auf der Erde mit Jesus begann, bezeichnet. Was geschehe, wenn man ihr nicht folge, beschreibt sie damals folgendermaßen:
„Es geht um zwei Personen, von denen ich eine … kenne. Die beiden nehmen die Bücher, die ich geschrieben habe, nicht ernst. Es hat schlimme Konsequenzen, wenn sie dabei bleiben. Mein Mann sagt … jeder solle gewarnt werden, weil es sonst auch für ihn negative Konsequenzen habe.“7
Nach Berichten von Aussteigern und Aussteigerinnen kam es in der Gruppe in den 1980er Jahren immer wieder zu Misshandlungen und Vernachlässigungen von Kindern. Am 17. August 1988 soll Sylvia Dorn laut Anklage dem vierjährigen Jan, der ihr von seiner Mutter, einem Mitglied der Gemeinschaft, anvertraut worden war, einen Leinensack über den Kopf gezogen und zugeschnürt haben. Sie habe Jan seinem Schicksal überlassen, obwohl sie seine Schreie und Hilferufe gehört habe. Der Junge starb. Sylvia Dorn wird vorgeworfen, das Kind aus niedrigen Beweggründen getötet zu haben. Dorn soll den kleinen Jungen als „Schwein“ und „Wiedergeburt Hitlers“ bezeichnet haben. Das Kind sei in Dorns Augen von „den Dunklen“ besessen gewesen. Sie habe dem kleinen Jungen immer wieder Vorträge gehalten, um ihn „zu bekehren“, und ihn so massiv eingeschüchtert.8
Die damaligen Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft liefen ins Leere: Laut dem Ermittlungsbericht aus dem Jahr 1988 sei der Tod des Kindes ein Unfall gewesen. Sein Leichnam wurde deshalb nicht obduziert. Laut damaliger Ermittlung sei Jan H. im Schlaf an erbrochenem Haferschleim erstickt. Ein ehemaliger Anhänger soll das Hanauer Jugendamt bereits Anfang der 1990er Jahre über die wahren Umstände von Jans Tod informiert haben. Er habe angegeben, dass vor dem Eintreffen von Rettungsdienst und Polizei der Leinensack fortgeschafft und der Junge aus dem Bad geholt worden sei.
Der Fall wurde ab 2015 neu aufgerollt und Sylvia Dorn des Mordes angeklagt. Es folgten fast fünf Jahre lang Ermittlungen, Zeugenbefragungen und auch eine Exhumierung und Obduktion des Leichnams. Im September 2020 fiel das Urteil. Dorn wurde wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt und direkt aus dem Gerichtssaal ins Gefängnis gebracht. Die Verteidiger der 73-Jährigen haben angekündigt, in Revision zu gehen.9
Im Oktober 2020 erhielt Gregor Haschnik für seine Frankfurter-Rundschau-Beilage „FR7“ vom 12.10.2019 den ersten Preis der Otto-Brenner-Stiftung für kritischen Journalismus.10 Der Preis kann sowohl als Anerkennung für die hervorragende Arbeit und Recherche von Gregor Haschnik in diesem Fall verstanden werden als auch als ein Zeichen dafür, wie wichtig kritischer Journalismus als „vierte Gewalt“ in einer Demokratie ist.
Oliver Koch, Frankfurt a. M., 01.11.2020
Anmerkungen
- Sylvia Dorn: Gott ist die alleinige Kraft. Briefe zum Vaterunser, hg. von Walter Dorn / Arnold Erdmann, Hanau 1983, 2.
- Etwa 2015: Menschen bei Maischberger: Die Psychotricks der Gurus.
- Vgl. Julia Jüttner: Tod im Leinensack, in: Der Spiegel 39, 19.9.2020, 50f, 50.
- Gregor Haschnik: In Gottes Namen, 16.1.2019, fr.de, tinyurl.com/y2kx9tcw (Abruf der in diesem Beitrag angegebenen Internetseiten: 23.10.2020).
- Zit. in Frauke Lüpke-Narberhaus: Tod eines Jungen, 20.10.2015, spiegel.de, tinyurl.com/y6dq7fhk.
- Gregor Haschnik: Wie starb Jan H.?, 24.10.2019, fr.de, tinyurl.com/y48jputl.
- Dorn: Gott ist die alleinige Kraft (s. Fußnote 1), 661.
- Haschnik: Wie starb Jan H.? (s. Fußnote 6).
- Vgl. Sektenprozess: Verteidiger legen Revision ein, 30.9.2020, op-online.de, tinyurl.com/y2nmluu8.
- Vgl. otto-brenner-preis.de, tinyurl.com/y5edjbaw.