Vampire überall
Die lebendige Idee der Untoten
Überblickt man die Geschichte der Vampire in den letzten 100 Jahren, so kann man eine erstaunliche Entwicklung feststellen: Seit den Anfängen ihrer Ausgestaltung in englischen Gruselromanen der ausgehenden Romantik hat die Idee der Vampire eine beeindruckende Erfolgsgeschichte hinter sich. In der Alltagskultur des 21. Jahrhunderts haben die nächtlichen Blutsauger ihren festen Platz errungen – wenn auch in sehr verschiedenen Rollen und Zuschreibungen. Man kann ihnen jedenfalls nicht entgehen.Das beginnt im Schulunterricht der ersten Klasse, wenn das Rechnen mit dem kleinen Vampir Freddy geübt wird, der dann „vampirisch gute Noten“ verspricht. Da Vampiren ein Zähltick nachgesagt wird, liegt die Nähe zum Rechnen auf der Hand. Offenbar war die Zusammenarbeit zwischen Schulbuchverlag und Lernsoftwarehaus so gut, dass es jetzt auch weitere Titel gibt: Englisch 1-4, mit Freddy dem Vampir. Im Deutschunterricht helfen Vampire beim Deklinieren. Eine Kopiervorlage des Diesterweg-Schulbuchverlags (Sprachbuch 4, Ausgabe Sachsen) übt die Zeitformen mit „er beißt“, „du wirst fressen“, „ihr werdet stöhnen“, „ich habe geschlottert“ und deren Varianten im Angesicht eines Paares, das – ebenso wie die dazugehörige Katze (!) – überlange Eckzähne trägt. Für den Nachmittag gibt es im Kinderfernsehen „Mona, der Vampir“ beim ZDF, „Die Schule der kleinen Vampire“, „Grufthotel Grabesruh“ sowie „Caspers Gruselschule“ im KI.KA. (Kinderkanal von ARD und ZDF) und natürlich diverse Vampirfilme im Abendprogramm. Wer durch die Jugendabteilung der örtlichen Buchhandlung streift, kann dort in der Regel ebenfalls ein reichhaltiges Sortiment verschiedener phantastischer Erzählungen finden, die das Leben als Vampir beschreiben. Allen voran sind die Bestseller der „Twilight“-Serie von Stephenie Meyer zu nennen, deren deutsche Titel mit dem Wortspiel „Bis(s) zum ...“ beginnen. Diese Bücher und die nachfolgenden Verfilmungen haben einen regelrechten Vampir-Hype ausgelöst.1
Die Idee des Vampirs
Befragt man Jugendliche, was Vampire kennzeichnet, so erhält man schnell eine Zusammenstellung typischer Attribute: Sie haben herausragende Eckzähne, trinken Blut, sind nachtaktiv und unsterblich, mögen weder Knoblauch noch Kreuze und anderes mehr. Den wenigsten dürfte dabei bewusst sein, wie stark das Bild von dem, was einen Vampir bestimmt, durch die jeweils aktuellen literarischen Vorbilder geprägt ist – und wie stark es sich in dieser Folge ändert. So wird z. B. heute oft die Fähigkeit zum Gedankenlesen als typisches Vampirmerkmal genannt, das allerdings erst durch die Twilight-Serie in die Vorstellung eingetragen wurde. Andere traditionelle Elemente, z. B. die Scheu vor christlichen Symbolen, treten gegenwärtig dahinter zurück.Das Bild des Vampirs ist ständig im Fluss, und jede Generation setzt ihm einen eigenen Stempel auf – je nachdem, welche der zum Teil recht gegensätzlichen künstlerischen Adaptionen des Themas breite Resonanz finden. Jenseits aller ausschmückender Attribute bleibt für die moderne Vampirvorstellung als Kernbestand dessen, was einen Vampir ausmacht, die Kombination von zwei konstitutiven Elementen: 1. das Trinken oder zumindest das Verlangen nach fremdem Blut und 2. das Dasein als „Untoter“, d. h. als ein Zwischenwesen, das – obwohl in der Welt der Lebenden aktiv – doch innerlich nicht dazugehört. Das Attribut der Unsterblichkeit hängt wesensmäßig an diesem besonderen Daseinszustand quer zur Normalwelt. Jedes dieser beiden Elemente für sich ist in der Natur bzw. in verschiedenen Volkstraditionen vorhanden. Es kommt in der Natur mehrfach vor, dass sich Lebewesen vom Blut fremder Wesen ernähren, woran jeder Mückenstich unangenehm erinnert. Die Vampirfledermäuse haben ihren Namen übrigens von den literarischen Vorbildern, nicht umgekehrt. Auch das Thema der Untoten beschäftigt in unterschiedlichen Varianten seit jeher die Phantasie der Völker. Die Kombination dieser Elemente jedoch erzeugt den modernen Vampir, und in diesem Sinne gibt es Vampire erst seit 1816.
Volkstraditionen
Starke Einflüsse auf die moderne Vampirvorstellung haben südosteuropäische Volkstraditionen von Untoten gewonnen. Insbesondere die rumänischen sogenannten Strigoi sind hier zu nennen. Bis heute gibt es in ländlichen Gegenden die Vorstellung von Untoten, die nach einem schlechten Leben nicht sterben können, sondern aus ihren Gräbern zurückkehren und ihre Angehörigen aufsuchen. Insbesondere bei unerklärlichen Todesfällen ist dann die Erklärung mit dem Wirken solcher Strigoi naheliegend. Im 18. Jahrhundert hat es in der Gegend einen regelrechten Vampirwahn gegeben, sodass die Österreichisch-Ungarische Monarchie offizielle Kommissionen zur Untersuchung der Vorfälle einsetzte.2Aus heutiger Perspektive ist deutlich, dass die verbreitete Unkenntnis über die biologischen Vorgänge im Rahmen des Verwesungsprozesses die Ausprägung der volkstümlichen Vampirvorstellung sehr unterstützt hat. Da man die Leichen mitunter sehr flach begraben hat, konnte es vorkommen, dass durch Verwesungsgase Geräusche entstanden, die über dem Grab gehört wurden. Wenn daraufhin die Leiche exhumiert wurde, konnte man statt eines ausgezehrten Toten eine wohlgenährte Leiche finden, der noch frisches Blut an den Lippen hing und deren Haare und Fingernägel im Sarg sogar noch gewachsen waren. Für die entsetzten Dorfbewohner war der Fall damit klar: Es handelt sich um einen Wiedergänger, einen Untoten, einen Vampir. Aber wie tötet man einen Untoten? Von den üblichen Methoden (Zerstückeln des Leichnams, Festnageln der Leiche am Sarg) hat es vor allem das Pfählen geschafft, in die literarischen Vampirstorys übernommen zu werden. Für die an der exhumierten Leiche beobachteten Veränderungen gibt es freilich sehr natürliche Erklärungen. Durch die Verwesung bilden sich Gase und Aufschwemmungen, die den Toten rundlich aussehen lassen können. Weil sich die Haut an Kopf und Fingernägeln zurückzieht, wirken die gleichgebliebenen Nägel und Haare länger als zuvor. Wenn schließlich bei Pfählungsaktionen Gase durch die Stimmritzen entweichen, kann die Leiche noch ein letztes Stöhnen von sich geben. Es ist nachvollziehbar, dass derartige Ereignisse einen tiefen Eindruck bei denen hinterlassen können, die so etwas erleben. Über die Untersuchungsakten der österreichisch-ungarischen Ärztekommission gelangten Informationen darüber bis nach England, wo das nächste Kapitel der modernen Vampiridee seine Heimat hat.
Der Vampir in Literatur, Film und Rollenspielen
In der Literatur der englischen Romantik des 19. Jahrhunderts erfuhr die Gestalt des Vampirs eine bedeutsame Wendung. Aus dem üblen Zombie der Volkstraditionen wurde der galante Graf mit mysteriöser Nachtseite. Der Vampir wurde gesellschaftlich etabliert: edle Manieren, gewinnende Ausstrahlung, Verkehr in den besten Kreisen – aber ihn umgibt ein dunkles Geheimnis. Die erste Vampirerzählung dieser Art stammt von John Polidori 1816, die schon beim Erstdruck fälschlicherweise Lord Bryon zugeschrieben wurde.Den großen Durchbruch erlebte die Vampirgestalt 1897 mit dem Erscheinen des Romans „Dracula“ von Bram Stoker. In seinem Roman lässt Stoker die Handlung sowohl in Rumänien als auch in England spielen und verbindet damit die Gegend der Vampirlegenden mit der Heimat seiner Leser. Stoker selbst war Mitglied im Hermetic Order of the Golden Dawn, einer freimaurerähnlich strukturierten Geheimgesellschaft mit starken Interessen an den Grenzbereichen des Wissens: Mystik, Spiritismus und praktische Magie.3Der Stummfilm „Nosferatu“ (1922) ist die erste Verfilmung von Bram Stokers Roman und gehört zu den Meilensteinen der Filmgeschichte. Weil es einen Streit mit Bram Stokers Witwe gab, wurde der Titel und ebenso der Charakter des Vampirs geändert: Er erscheint nicht als galanter Graf, sondern als düsteres, langfingriges und eher rattenähnliches Monster mit Hasenzähnen. Die bis heute stilprägenden verlängerten Eckzähne wurden erst mit der nächsten Verfilmung populär: „Graf Dracula“ (1931) mit Bela Lugosi in der Hauptrolle. Die Ideen wurden ständig weitergesponnen.4 Mit nahezu jeder Verfilmung kamen neue Elemente hinzu, andere traten in den Hintergrund. So gibt es neben dem klassischen Vampir, der als Gentleman mit Beißlust in verschiedenen Varianten zwischen Horror und Erotik in Erscheinung tritt, eine Reihe von Filmen und Serien, die das Vampirthema auf eigene Weise aufnehmen. In manchen von Comics beeinflussten Filmen sind die Vampire die bösen Killer. Action und Übersinnliches werden mit einem hohen Splatter-Faktor verbunden. Musterbeispiel dafür ist „Blade“, ein mehrfach verfilmter Comic um den Halbvampir Blade, der aus Rache alle Vampire jagt. Das gegenteilige Setting bietet „Underworld“: Dort kämpfen „gute“ Vampire gegen „böse“ Werwölfe. Gemeinsam ist diesen Filmen, dass sie in einer eigenen Fantasy-Welt spielen. Das Vampirische liegt hier in der Unsterblichkeit und in besonderen übernatürlichen Fähigkeiten sowie in der Vorstellung der Übertragung des Vampirwesens durch Biss. Im Übrigen dominieren moderne Technik-Elemente, Latex-Kluft und Schnellfeuerwaffen. Inzwischen gibt es eine enorme Vielfalt an Vampirvorstellungen in freier Mischung – was bei einem Produkt der menschlichen Phantasie ohne reales Gegenüber letztlich nicht verwunderlich ist.Eine besonders produktive Mythenschmiede sind dabei die populären Rollenspiele. Wer sich z. B. als Religionslehrer schon einmal gefragt hat, warum Kain und Lilith bei Schülern gleichermaßen als biblische Gestalten gelten können und was diese mit Vampiren zu tun haben, sollte sich einmal mit den Rollenspiel-Storybüchern aus dem Verlag White Wolf befassen. Von dem recht erfolgreichen Titel „Vampire“ gibt es mittlerweile drei Ausgaben: „Vampire – The Masquerade“ ist der zuerst erschienene Band. Er spielt in der Gegenwart, wo die Vampire unerkannt im Untergrund leben. „Vampire – The Dark Ages“ handelt in der mythischen Frühgeschichte der Vampire, die als Nachkommen von Kain und der „Hexe Lilith“ ausgegeben werden. „Vampire – The Victorian Age“ bezieht seinen Hintergrund – wie der Name bereits deutlich macht – aus dem viktorianischen England. Selbstverständlich gibt es diese Titel inzwischen auch als Computerspiele.
Die „Twilight“-Serie: Gegenentwurf zur Gesellschaft
Einen neuen Hype der Vampirbegeisterung bewirkte die amerikanische Autorin Stephenie Meyer. Ihre bereits eingangs erwähnten Romane der Serie „Twilight“ („Bis(s) zum Morgengrauen“) prägten ein neues Bild des Vampirs. Nicht als blutsaugende Bestie, sondern als Beschützer und treuer Partner seiner menschlichen Freundin Bella wird Vampir „Edward“ zum Schwarm in ungezählten Mädchenträumen und sein Darsteller Robert Pattinson in den Verfilmungen zum Hollywoodstar. Die Bücher und Filme schildern eine romantische Teenager-Liebesgeschichte mit viel Herzschmerz (wobei Edward allerdings genau genommen kein Teenager mehr ist). Kein Horror, wenig Action, stattdessen romantische Lovestorys bestimmen seitdem das Vampirgeschäft. Mit der Twilight-Welle hochgespült wurden die Bücher der Reihe „Tagebuch eines Vampirs“ von Lisa Jane Smith aus den 1990er Jahren. Als „Vampire Diaries“ in Serie mit 44 Episoden verfilmt thematisieren sie ebenfalls die Liebe zwischen Menschen und Vampiren.Warum ist „Twilight“ so erfolgreich? Theresia Heimerl, Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Graz, sieht in diesem neuen Vampirbild eine ideale Projektionsfläche für die Fragen der Postmoderne.5 Es geht zentral um die Grenzen von Leben und Tod und die Sehnsucht nach ewigem Leben. Die Unsterblichkeit des Vampirs führt dazu, dass er nie wirklich in die Gegenwart passt. Deshalb ist das Bild des Vampirs gerade in seiner literarischen Form immer ein Gegenentwurf zur gegenwärtigen Gesellschaft und spiegelt deren verborgene Sehnsüchte. Das lässt sich sehr gut an der Geschichte und den Wandlungen des Vampirbildes nachvollziehen.Das viktorianische England bildete das Geburtsklima des modernen Vampirmythos, wobei zwei Themenbereiche besonders durchschlagen: Zum einen bestimmt die Frage nach der Grenze zwischen Wissenschaft und Übersinnlichem sowohl die Zeitgeschichte als auch die Vampirromane. Bram Stoker war Mitglied eines magisch arbeitenden Geheimordens, der „okkulte“ Kräfte nutzbar machen wollte. So zeigt sich auch in der Darstellung des Vampirforschers van Helsing das Interesse an diesen Grenzbereichen und die Kritik an einer reinen Vernunftreligion, die übersinnliche Erfahrungen wegdefiniert und ignoriert. Das andere starke Thema sind die sexuellen Sehnsüchte, die im krassen Gegensatz zur strengen puritanischen Moral stehen. Der Vampir bringt junge Frauen dazu, animalische und gewalttätige Erotik zu genießen.In den neueren Inszenierungen ist nun immer öfter nicht mehr der Vampir der Böse, sondern diejenigen, die ihn jagen. Der Vampir wird – bei Twilight mustergültig dargestellt – zum Beschützer gegen rohe und triebhafte Menschen sowie andere Gefahren. Dabei ist das in Twilight transportierte Geschlechterrollenbild aus feministischer Sicht eine mittlere Katastrophe. Die junge Frau wird als das zerbrechliche Wesen dargestellt, das von einem Mann (hier: einem Vampir) vor allen Gefahren der Welt und sogar vor ihren eigenen Gefühlen beschützt werden muss. Einziger Wunsch von Bella ist es, für immer mit Edward zusammenzuleben. Ihre berufliche Perspektive kommt schlicht nicht vor. Stattdessen dominiert eine Beziehungsstruktur mit einem solch extremen Gefälle, dass sie kaum noch als Partnerschaft zu bezeichnen ist. In dieser Reihe stehen der Verzicht auf Sex vor der Ehe, die Heirat mit 18 Jahren und sogar die Aufgabe der eigenen menschlichen Existenz. Edward verkörpert demgegenüber den obsessiven Beschützer, der sogar nachts an ihrem Bett ihren Schlaf bewacht. Dass die Autorin Stephenie Meyer aktives Mitglied der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ (Mormonen) ist, die offiziell auch ein konservatives Beziehung- und Familienideal mit sogar mehr als lebenslanger Familienbindung vertritt, passt ins Bild, erklärt aber nicht den Erfolg und ist deshalb auch kein entscheidender Punkt.6Theresia Heimerl kommt zu dem Schluss, dass dieses Vampirbild offenbar eine heimliche Sehnsucht vieler junger Frauen von heute artikuliert:7 Sie wünschen sich einen Mann, der sie beschützt, anstatt sie zum Sex zu zwingen. Sie wollen nicht stets in der Mühle der modernen Leistungsgesellschaft gefordert sein. Sie wollen nicht alles können müssen, nicht alles selbst machen müssen. Die sexuelle Befreiung, die den viktorianischen Vampir bestimmte, ist heute nicht mehr nötig. Das Internet ist voll davon – auch von den abgründigsten Bereichen. Dies lässt gegenwärtig die Sehnsucht nach Selbstbeherrschung stärker wachsen als den Wunsch nach dem alltäglich sichtbaren ungebremsten Triebleben. Ausgerechnet der Vampir wird nun wieder zur Personifikation von Werten, die der gegenwärtigen Erfahrung weithin entgegengesetzt sind. Dazu tritt ein weiterer Aspekt: Twilight schildert die biografische Situation eines Scheidungskindes. Zerbrochene Familienverhältnisse sind gegenwärtig vielfältige schmerzvolle Realität. Der Vampir Edward steht hingegen für lebenslange Treue – das heißt hier angesichts der besonderen Lebenserwartung seiner Gattung sogar ewige Treue. Wer will, kann darin einen unausgesprochenen Bezug zur mormonischen Siegelung der Ehe für die Ewigkeit entdecken. Deutlich ist jedoch auch die paradoxe Sehnsucht einer weithin bindungsunfähig gewordenen Jugend nach einer Stabilität und Zuverlässigkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen, die stärker ist, als sie diese selbst zustande bringen.
Jenseits der Phantasie: Vampyre
Vampire gibt es nicht (mehr) nur in Literatur und Film. Die intensive Identifikation mit den Figuren der Vampirgeschichten führt in einigen Fällen zum Verschwimmen der Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Zunehmend wird von Menschen berichtet, die sich selbst wirklich für Vampire halten. Sie lieben die Nacht, hassen das Licht, sind fasziniert von Blut, und manche von ihnen meinen, es zur eigenen Ernährung zu benötigen. Diese Subkultur am Rande der Gothic-Szene zwischen Fetisch-Parties und Selbstinszenierung sammelt Personen, die ihre Ausgrenzungserfahrung in der Rolle des Vampyrs kultivieren. Zur Abgrenzung von den Filmvampiren werden die „Real-Vampyre“ üblicherweise mit „y“ geschrieben. „Ich bin anders als die Anderen – keiner versteht mich – bin ich ein Vampyr?“ Die allmählich erwachende Erkenntnis des eigenen Vampyr-Wesens wird als Coming-out bezeichnet und dementsprechend bestritten, dass jemand Vampyr werden kann. Man könne lediglich erkennen, was er (oder sie) immer schon ist.In Berichten aus dieser Szene werden zwei Richtungen unterschieden. Bei den zum Blutfetischismus neigenden sogenannten Sanguinikern geht es um die Einnahme von Menschenblut, wobei sich meist mehrere Vampryre von einzelnen „Donors“ nähren, wie die Blutspender genannt werden. Beißen funktioniert dabei nicht, sodass recht unromantisch geritzt, geschnitten oder mit Kanülen gearbeitet wird. Demgegenüber wird bei den sogenannten „Energie-Vampyren“ die komplizierte und gefährliche Handhabung von Blut durch die Vorstellung psychischer Energie ersetzt, die diese Vampyre zur eigenen Verwendung von ihren Opfern auf mentalem Wege abziehen. Insgesamt stellt diese Szene gewiss keinen Massenbetrieb dar. Es bleibt festzuhalten, dass die Selbstidentifikation als Vampyr im Blick auf ein Leben in intakten Sozialstrukturen nicht hilfreich ist.8
Vampirismus und Christentum
Was haben Vampire mit dem Christentum zu schaffen? Zunächst gar nichts. Traditionell gesehen beißt sich das erheblich. Der klassische Vampir ist als eine Personifikation des Bösen charakterisiert. Seine Triebfeder ist die Sinnenlust, die ihn zum Morden bringt. Der Volksglaube sieht in ihm einen Untoten, der um seiner Sünden willen keine Ruhe findet, eine umgetriebene Gestalt aus dem unerlösten Bereich, unter der Herrschaft des Teufels. Als natürlicher Feind des Christentums ist der Vampir folglich mit einem Kruzifix wirkungsvoll zu vertreiben (falls der Knoblauch nicht ausreicht). Das Christentum steht in diesem Bild für moralische Sittenstrenge, der Vampir hingegen für ungezügelte, auch gewaltsame Erotik und ein Leben auf Kosten anderer.Die neuen Veränderungen im Vampirbild machen diese Grenzziehung schwieriger. In Twilight wird der Vampir zum Verteidiger von Tugend und Moral gegenüber einer verrohten Gesellschaft, die nur das Triebleben kennt. Das Twilight-Fieber ist durch eine Autorin ausgelöst worden, die sich als engagierte Christin versteht.9 Unter den 20 000 kreischenden Fans bei der Twilight-Convention im November 2009 in München waren gewiss zahlreiche Christen. Man könnte sogar versuchen, die Konstellation von „Twilight“ mit den Begriffen (augustinischer) theologischer Anthropologie zu umschreiben: Nach dem Sündenfall (hier: nach der Verwandlung zum Vampir) ist der Mensch (bzw. der Vampir) geneigt zum Bösen und getrieben von ständiger Begierde (nach Blut). Aber – so die Botschaft der Romane – er kann die Begierde überwinden, sich in Enthaltsamkeit üben, die Triebe beherrschen. Statt der Hingabe an die eigenen Leidenschaften kann der Mensch (bzw. der Vampir) andere beschützen sowie Liebe und Rettung bringen.10Was folgt daraus? Der Vampir als Botschafter des Christentums? Keineswegs, das ist er nach wie vor nicht. Von Christus, von der erlösenden Liebe Gottes ist auch in Twilight nicht die Rede. Religion spielt in den modernen Vampirgeschichten keine Rolle oder tritt allenfalls in Form von stark heidnisch geprägten Göttermythen wie in der Buchreihe „House of Night“ in Erscheinung. Die Vampirerzählungen wissen nichts von der christlichen Botschaft der hingebungsvollen Liebe Gottes. Sie handeln vom irdischen Kampf ums Überleben, von der Sehnsucht nach Unsterblichkeit und übermenschlichen Fähigkeiten. Im besseren Fall sind die Vampire Bestandteil einer Phantasiewelt, in der wie in einer Fabel menschliche Probleme in einer neuen Perspektive betrachtet werden können. Häufiger bleibt es jedoch eher trivial. Zu Sternstunden der Weltliteratur werden die gegenwärtig als Massenware produzierten Vampirstorys kaum aufsteigen.Allen vorwitzigen Vampirfreunden, die gleich das ganze Christentum mit zum Vampirismus zählen wollen, sei noch eins gesagt: Das Trinken des Blutes Christi beim Abendmahl und die christliche Hoffnung auf das „ewige Leben“ haben mit der Vampiridee so wenig zu tun wie ein Sinfoniekonzert mit einer Bohrmaschine. Jesus hat sich selbst freiwillig für die Erlösung der Menschen geopfert. In der Eucharistie feiern die Christen seine Gegenwart entsprechend seiner Verheißung beim letzten Abendmahl. Der Vergleich mit dem Trinken geraubten Blutes offenbart, wie unterschiedlich, ja gegensätzlich die Perspektiven sind. Letztlich bleibt auch die vampirische Unsterblichkeit dem Irdischen verhaftet und ist in der traditionellen Vorstellung gerade das Schicksal derer, die nicht vordringen zum ewigen Leben bei Gott, wie es die christliche Hoffnung beschreibt.
Harald Lamprecht, Dresden
Anmerkungen
1 Vgl. Laura Tiziana Corallo, Zwischen Mission und Wertesehnsucht, in: MD 7/2009, 272f.
2 Vgl. dazu z. B. Peter Mario Kreuter, Der Vampirglaube in Südosteuropa. Studien zur Genese, Bedeutung und Funktion. Rumänien und der Balkanraum, Romanice, Bd. 9, Berlin 2001; Hagen Schaub, Blutspuren. Die Geschichte der Vampire. Auf den Spuren eines Mythos, Graz 2008.
3 Zu dieser Organisation vgl. Harald Lamprecht, Magier und Rosenkreuzer. Hermetic Order of the Golden Dawn und Ordo Templi Orientis als Protagonisten abendländischer Magie, EZW-Texte 175, Berlin 2004.
4 Einen Überblick gibt Alfons Wrann, Historie und Aberglaube – Anspruch und triviale Unterhaltung. Überblick über die Kultur- und Filmgeschichte des Vampirs, in: Theresia Heimerl / Christian Feichtinger (Hg.), Dunkle Helden. Vampire als Spiegel religiöser Diskurse in Film und TV, Marburg 2011, 11-30.
5 Theresia Heimerl, Bis(s) in alle Ewigkeit? Die neuen Vampire als Ikonen einer postmodernen Trivialtheologie, in: Herder-Korrespondenz 10/2010, 534-538.
6 Ausführlicher befasst sich mit diesem Aspekt Alexandra Koch, Mormonische Vampire? Die Twilight-Saga im Spiegel mormonischer Lehren und Glaubensgrundsätze, in: Theresia Heimerl / Christian Feichtinger (Hg.), Dunkle Helden, a.a.O., 129-146, sowie eine als Buch veröffentlichte Hausarbeit einer Kulturwissenschaftsstudentin: Leonie Viola Thöne, Die Figur Edward Cullen: Moderner Mormonen-Missionar oder Vampir-Romantiker?, Dresden 2009.
7 Theresia Heimerl, Bis(s) in alle Ewigkeit?, a.a.O., 536.
8 Vgl. grundlegend dazu: Rainer Fromm / Manuela Ruda, Tanz der Vampyre. Abwege einer Jugendkultur zwischen Fun und Fetisch, in: MD 11/2007, 423-428; vgl. auch Mark Beneke u. a., Vampire unter uns! (2 Bde.), Rudolstadt 2009 und 2010.
9 Die Streitfrage, inwieweit das mormonische Glaubenssystem noch zum Christentum gerechnet werden kann, braucht hier nicht diskutiert zu werden, denn es geht in diesem Fall um das Selbstverständnis.
10 Theresia Heimerl, Bis(s) in alle Ewigkeit?, a.a.O., 537.