Verschärfungen der Ausschlusspraxis
(Letzter Bericht: 3/2016, 108f) Im Sommer veranstaltet die Leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas (ZJ) weltweit wieder inhaltlich identische Kongresse, in Deutschland in diesem Jahr an 38 Orten, vielerorts auch mit fremdsprachlichen Übersetzungen. Die dreitägigen Veranstaltungen, die zwischen Mitte Juni und Mitte August stattfinden, enthalten arbeitnehmerfreundlich zumeist ein Wochenende und sind von intensiver Gemeinschaft und strikter Schulung geprägt. Die Kongressteilnahme hat innerhalb der Gemeinschaft höchste Priorität, und die Massentaufen am Samstagvormittag gelten als ein Höhepunkt. Das diesjährige Kongressthema lautet: „Bleibe Jehova gegenüber loyal!“, wobei das Ausrufezeichen auch bedrohlich wirken kann. Oder muss man präziser sagen: soll?
Rechtzeitig vor Kongressbeginn wurde auf der Internetseite der ZJ ein neuer Beitrag in die Rubrik „Oft gefragt“ eingestellt: „Kann ein Zeuge Jehovas seine Religionsgemeinschaft verlassen?“ Die einfache Antwort lautet: Ja. Leider wird verschwiegen, welche Konsequenzen auf diejenigen warten, die der Religionsgemeinschaft den Rücken kehren. Eindeutig werden die Mitglieder an verschiedenen Stellen in der Zeitschrift „Wachtturm“ dazu angehalten, abtrünnigen Familienmitgliedern die Gemeinschaft zu entziehen. Hier stehe die Treue auf dem Prüfstand – nicht zu dem Familienmitglied, sondern zu Jehova, der streng darauf achte, dass sein Gebot eingehalten werde, „keinen Kontakt mehr mit jemandem zu haben, der ausgeschlossen ist“ (Wachtturm, 15.4.2012). Die Leitende Körperschaft ermuntert ihre Mitglieder dazu, Familienangehörige auszugrenzen. Durch soziale Isolation soll emotionaler Druck erzeugt werden, um Abtrünnige zurückzugewinnen.
Auf den aktuellen Kongressen werden „loyale Christen“ in einem Vortrag mit dem Titel „Meide reuelose Sünder“ sogar direkt angewiesen, „keinen Umgang mit jemandem zu pflegen, der ‚Bruder‘ genannt wird und dennoch Todsünden ausübt“ (Zitat aus dem weltweit gültigen Manuskript für die Redner). Mitglieder sollen gemieden werden, die „schwere Sünden“ wie Kritik an der Leitenden Körperschaft oder außerehelichen Geschlechtsverkehr begangen oder an einer Weihnachts- oder Geburtstagsfeier teilgenommen haben.
In einem offenem Brief hat sich Barbara Kohout, Leiterin der deutschlandweit aktiven Selbsthilfegruppe „Seelnot“, im Vorfeld der Kongresse an alle Eltern unter den ZJ gewandt. „Wo findet ihr einen Verweis in der Bibel, dass Jehova von Euch ein widernatürliches Verhalten erwartet?“, fragt sie. Eindringlich appeliert sie an den gesunden Menschenverstand, an ein unverbogenes Gewissen und die natürliche Liebe zu den Familienangehörigen: „Hört auf mit der Zerstörung von Freundschaften und Familien!“
Mit den diesjährigen Kongressen verschärft die Wachtturmgesellschaft ihre Ausschlusspraxis. Das Kongressmotto „Bleibe Jehova gegenüber loyal!“ zielt vor allem auf bedingungslosen Gehorsam gegenüber einer restriktiven Organisation. Dabei ist noch nicht absehbar, welche Dynamik dieser erhöhte Loyalitätsdruck bei den Mitgliedern auslösen wird. Insider gehen von einer zweistelligen Prozentzahl distanzierter ZJ aus, die durch die Kongresse mit emotionalen Druckmitteln zum Zeugen- und Verkündigungsdienst aktiviert werden sollen. Der schärfere Leitungskurs der Führung könnte aber auch eine Ausstiegswelle auslösen. Manche Noch-Zeugen fragen sich sogar, ob das von der Leitenden Körperschaft ausgesprochene Kontaktverbot zu Familienangehörigen, die die Gemeinschaft verlassen haben, nicht mit dem Grundgesetz kollidiert, das Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt. Entweder der Leitenden Körperschaft oder der eigenen Familie gegenüber treu sein: Zeugen Jehovas werden von dieser unmenschlichen Zuspitzung in die Enge getrieben.
Michael Utsch, 15.10.2016