Verschärfungen des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus
Der weltanschauliche Wandel in pluralistischen Gesellschaften lässt sich nicht mithilfe eines einzigen Mottos beschreiben. Bezeichnend ist vielmehr die Gleichzeitigkeit, das Nebeneinander unterschiedlicher Entwicklungen: fortschreitende Säkularisierung und „Rückkehr der Religionen“ (Martin Riesebrodt), Relativierung und Fundamentalisierung religiöser Wahrheit, Individualisierung und neue Gemeinschaftsbildung. Die religiös-weltanschauliche Gegenwartskultur ist gekennzeichnet durch gegenläufige Tendenzen:
- Kulturaustausch und Internationalisierungsprozesse führen dazu, dass Toleranz und Intoleranz gleichzeitig wachsen. Aus diesen Entwicklungen beziehen gleichermaßen kulturrelativistische Plädoyers wie auch die These von einem zu erwartenden Zusammenprall der Kulturen (Clash of Civilizations) ihre Plausibilität.1
- Fortschreitende Säkularisierungsprozesse kennzeichnen die weltanschauliche Situation. Andererseits hat sich das ereignet, was – reichlich unbestimmt – als „Respiritualisierung“ oder als „neue Aufmerksamkeit für Religion“ in der Moderne bzw. zweiten Moderne oder Postmoderne bezeichnet wird.2 Bereits nach 1968 – hier das Einschnittsdatum – spricht man vom Aufkommen neuer religiöser Bewegungen oder der Suche nach einer neuen Religiosität, die sich inhaltlich weithin an christlichen Orientierungen vorbei vollzieht. Zugleich tritt die vor allem durch Migrationsprozesse bedingte buddhistische und vor allem muslimische Präsenz zunehmend in das Licht der Öffentlichkeit.3
- Der Privatisierung des Religiösen stehen Prozesse der Popularisierung von Religion gegenüber. Zugleich breiten sich religiös-säkulare Mischphänomene aus. Der Spiritualitätsbegriff hat dabei eine Brückenfunktion. Religiöses wird säkular „verpackt“, beispielsweise als Entspannungstechnik oder Therapieangebot, oder Nichtreligiöses umgibt sich aus strategischen Gründen mit dem Schein des Religiösen.
- Einer Tendenz zur Ausbreitung naturalistischer Weltanschauungen in humanistischen und atheistischen Bewegungen steht der „wachsende politische Einfluss religiöser Orthodoxien“ gegenüber.4 In der heutigen Gesellschaft ist beides da: Religion in den verschiedensten Ausformungen und nicht weniger vielgestaltige Religionsdistanz und Religionskritik. Beides wird sichtbar: religiöses und pointiert antireligiöses Eiferertum.
- Im Blick auf religiöse Endgültigkeitsansprüche wird die Forderung nach Wahrheitsverzicht und Selbstrelativierung erhoben. Andererseits lässt sich im Kontext pluralistischer Gesellschaftssysteme eine intensive Suche nach Gewissheit beobachten. Die Kompliziertheit und „neue Unübersichtlichkeit“ des Lebens verstärkt die Suche nach Verbindlichkeit, Klarheit und Wahrheit.
- Religiöse Identitätssuche erfolgt in gegenläufigen Mustern: als Anpassung an Individualisierungsprozesse in Formen spirituellen Wanderns mit einem konsumorientierten, wenig organisierten und synkretistisch geprägten Religionsvollzug, aber auch als Protest gegen die moderne Individualisierung, als Ich-Aufgabe und Ich-Verzicht, u. a. in religiösen Gruppen, die von ihren Mitgliedern radikale Hingabe und ein genormtes Verhalten erwarten.
- Auch in den Diskursen zur aktuellen Flüchtlingskrise zeigen sich gegenläufige Reaktionen: Die bemerkenswerte Willkommenskultur wird kontrastiert von Bewegungen, die Ängste der Menschen für politische Zwecke instrumentalisieren, und von Brandanschlägen auf geplante oder gar bewohnte Asylbewerberheime.
Zur Signatur pluralistischer Gesellschaften gehört es, dass verschiedene religiöse und weltanschauliche Orientierungen gleichzeitig nebeneinander existieren. Sie divergieren in ihrer Ausrichtung und stehen in einem Verhältnis der Koexistenz und Konkurrenz.5 Mithilfe von Begriffen wie „Multioptionsgesellschaft“ (Peter Gross), „Erlebnisgesellschaft“ (Gerhard Schulze), „Säkulare Gesellschaft“ (Charles Taylor), „Einwanderungsgesellschaft“ werden charakteristische Entwicklungen zur Sprache gebracht, die sich alltagsbezogen veranschaulichen lassen. Religiöse Orientierungen werden von vielen auf individuellen Wegen gesucht und sind häufig mit einem Hunger nach erlebbarer Transzendenz verbunden. Außergewöhnliche Ergriffenheitserfahrungen sind gefragt. Mystik und Spiritualität bekommen einen wachsenden Stellenwert. Es kann und muss darüber gestritten werden, ob das mit Spiritualität Gemeinte zum Thema Religion oder zum Thema Säkularisierung gehört.
Die religiöse Landschaft und ihre Deutung
Religionssoziologen greifen vor allem auf drei Modelle zurück, um die religiös-weltanschauliche Situation der Gegenwart zu charakterisieren. Die Säkularisierungsthese geht davon aus, dass „Prozesse der Modernisierung einen letztlich negativen Einfluss auf die Stabilität und Vitalität von Religionsgemeinschaften, religiösen Praktiken und Überzeugungen ausüben“6. Die zentrale These besagt, dass in modernen Gesellschaften religiöse Bindungskräfte abnehmen und Prozesse einer zunehmenden Verdiesseitigung für das Leben vieler Menschen kennzeichnend sind. Die Individualisierungsthese richtet den Blick auf „die unsichtbare Religion“ („The Invisible Religion“), auf die Umformung traditioneller Kirchlichkeit in eine neue privatistisch, diesseitig und synkretistisch geprägte Religiosität.7 Die Aufmerksamkeit ist nicht auf den Verlust der Religion gerichtet, sondern auf den Wandel ihrer Ausdrucksformen. Das Individuum tritt als Sinnkonsument und Subjekt biografischer und religiöser Inszenierungen in den Vordergrund. Individuelle Religiosität und kirchliche Religion entkoppeln sich. Nicht die Kirchen entscheiden, in welcher Weise die Menschen religiös sind, „sondern die Bürger entscheiden, inwieweit die Kirchen ihre Religiosität mitformen können“8. Vertreter des ökonomischen Marktmodells gehen von der Annahme aus, dass religiöse Pluralisierungsprozesse keinen „negativen Effekt auf die Stabilität religiöser Gemeinschaften, Glaubensüberzeugungen und religiöser Praktiken ausüben“9. Sie sehen es umgekehrt: Je vielfältiger und pluralistischer der religiöse Markt sei, „desto mehr Konkurrenz herrsche zwischen den Anbietern“. Konkurrenz aber übe „einen stimulierenden Einfluss auf die Vitalität von Religionsgemeinschaften aus“10.
Die jeweiligen kritischen Einwände gegen die genannten Perspektiven zur Deutung der religiös-weltanschaulichen Gegenwartskultur sind naheliegend: Gegen die Säkularisierungsthese wird eingewandt, dass in säkularisierten Gesellschaften eine neue Aufmerksamkeit für Religion zu beobachten sei und sich Säkularisierung keineswegs als unausweichliche Folge von Modernisierungsprozessen ereigne. Im Blick auf die Individualisierungsthese wird kritisch bemerkt, dass Individualisierung an gesellschaftliche Vorgaben gebunden bleibe und nicht bedeute, dass das Individuum sich von der Gesellschaft löst. Gegenüber dem Marktmodell kann darauf hingewiesen werden, dass der Abbau religiöser Monopole keineswegs zwangsläufig zu einer Belebung von Religiosität und Kirchlichkeit führt. Die Diskussion der religionssoziologischen Modelle legt den Schluss nahe, dass die zentrale analytische Perspektive zum Verständnis der Gegenwartskultur mit dem Begriff des religiös-weltanschaulichen Pluralismus zum Ausdruck gebracht wird. Säkularisierungs- und Individualisierungstendenzen stellen zentrale Aspekte von Pluralisierungsprozessen dar.
Religionsinterne Pluralisierung
Religionsführer von Großstädten und wissenschaftliche Publikationen dokumentieren eine zunehmende innerchristliche Vielfalt. Einerseits haben sich innerhalb der großen Kirchen unterschiedliche Gruppen und Milieus gebildet. Innerhalb der evangelischen Landeskirchen gibt es – vereinfachend gesprochen – volkskirchlich-pluralistische, missionarisch-evangelistische und charismatische Visionen, ebenso ökumenisch-konziliare und politisch-emanzipatorische Visionen von Kirche etc. Um die unterschiedlichen Visionen von Kirche entwickeln sich Milieus, deren Kommunikationsbereitschaft und -fähigkeit zunehmend schwieriger zu werden scheint. Das heißt, die Milieus entfernen sich voneinander und lassen die Frage des Umgangs mit den Chancen und Grenzen des innerkirchlichen Pluralismus virulent werden. Gleichzeitig bilden sich auch außerhalb und neben den bekannten kirchlichen und freikirchlichen Strukturen alternative Formen christlicher Frömmigkeit, die ihren Ausdruck in eigenständigen Denominationen und Konfessionen suchen, insbesondere im evangelikal-charismatischen Bereich. Durch Migration breitet sich ein orthodoxer Kirchentypus aus, der zahlenmäßig bedeutsam ist und die ökumenische Kommunikation mitbestimmt.
Seit den 1990er Jahren ist die Zahl von Migranten- bzw. Einwandererkirchen sowohl aus dem europäischen Ausland wie auch von Menschen asiatischer und afrikanischer Herkunft kontinuierlich gewachsen. Ein Teil der weltweiten Christenheit lebt mitten unter uns. Es entwickelt sich eine neue stilistische Vielfalt des Christlichen. In Städten wie Berlin, Frankfurt, Zürich, Wien gehören koreanische, indonesische und afrikanische Gemeinden zum Erscheinungsbild einer zunehmenden innerchristlichen Pluralisierung. Viele dieser Gemeinden praktizieren in ihren gottesdienstlichen Versammlungen charismatische Ausdrucksformen ihres Glaubens und verstehen sich als unabhängige Kirchen („independent churches“). Vor allem ein evangelikaler und pfingstlich-charismatischer Frömmigkeitstyp breitet sich aus, dessen weltweite Erfolgsstory allerdings in Europa nur begrenzt wahrzunehmen ist.
Die Präsenz anderer Religionen
Mit einer gewissen Gleichzeitigkeit zu innerchristlichen Pluralisierungsprozessen hat sich eine nicht zu übersehende religiöse Vielfalt entwickelt mit einer heterogenen und zahlenmäßig bedeutsamen muslimischen Präsenz. Präsent sind in Deutschland inzwischen auch zahlreiche weitere religiöse Traditionen: Buddhisten, Hindus, Aleviten, Eziden etc. Vor allem aus Osteuropa sind zahlreiche Juden nach Deutschland eingewandert. In einzelnen Städten ist neues jüdisches Leben entstanden. Die Situation religiös-weltanschaulicher Vielfalt führt dazu, dass sich Menschen verschiedener religiöser Überzeugung und kultureller Prägung unausweichlich näherkommen: in einer Kindergartengruppe, in einer Schulklasse, im Sportverein, im Betrieb, im Krankenzimmer.
Bisher konnte gesagt werden, dass religiöse Vielfalt zugenommen und sich in Deutschland ein begrenzter religiöser Pluralismus entwickelt habe. Die eingewanderten Flüchtlinge des Jahres 2015 werden die Situation in der Gesellschaft der Bundesrepublik fraglos tiefgreifend verändern. In welche Richtung, lässt sich noch nicht sagen.
Politische Rahmenbedingungen können Integration fördern und verhindern. Der Niederländer Paul Scheffer konstatierte 2007 im Blick auf sein Land: „Die Migration, die wir zur Zeit erleben, hat unsere Gesellschaften in vieler Hinsicht nicht offener gemacht. Durch die traditionellen Ansichten, die viele Migranten mitbringen, werden plötzlich wieder alte Fragen hinsichtlich der Stellung der Frau diskutiert, und das Recht auf freie Meinungsäußerung ist wieder umstritten. Mit einem Mal reden wir wieder über Gotteslästerung und über das Verbot, vom Glauben abzufallen.“11 Zunehmend wird bewusst, dass das Leben in pluralistischen Gesellschaften anstrengender ist, als euphorische Plädoyers für eine multikulturelle Gesellschaft es nahelegten und nahelegen. Ein Zusammenleben angesichts kultureller Differenzen erfordert von allen Seiten die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen. Interreligiöser und interkultureller Realismus sind dafür ebenso nötig wie die Achtung vor dem Fremden und der Respekt für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und diejenigen Werte, die den religiösen Pluralismus allererst ermöglichen. Weltweite Migrationsbewegungen und zunehmende Vielfalt stellen für alle Staaten Westeuropas eine Schlüsselaufgabe für politisches Handeln dar, welches darauf ausgerichtet sein muss, den Zusammenhalt der Gesellschaft zu stärken. Langfristig ist der liberale Verfassungsstaat dabei „auf Mentalitäten angewiesen, die er nicht aus eigenen Ressourcen erzeugen kann“12.
Forcierte Säkularität
Säkularisierungsprozesse können als begrüßenswerte Folge der Unterscheidung zwischen Religion und Politik angesehen werden. Im historisch ursprünglichen Sinn bezeichnete Säkularisierung den Übergang des Kirchengutes in weltliches Eigentum.13 Freilich gibt es Säkularisierung auch als Entkirchlichung der Gesellschaft, „die der positiven Religion ihren Sitz im Leben zu rauben droht“14. Prozesse einer zunehmenden Verdiesseitigung des Lebens, die sich mit dem Verzicht auf alltagsrelevante religiöse Orientierungen verbinden, sind kennzeichnend für viele Menschen in europäischen Gesellschaften. Freilich zeigt sich auch, dass der säkularisierte Mensch an den Rändern des Lebens – in den lebenszyklischen und jahreszyklischen Übergangssituationen – auf Religion nicht verzichten will, wobei die Beliebtheit der Jugendweihe in den neuen Bundesländern zeigt, dass die Kirchen, sofern sie zivilreligiöse Funktionen wahrnehmen, nicht unersetzbar sind.
Hand in Hand mit Säkularisierungsprozessen gehen die Privatisierung der Religion, aber auch Bindungsverluste gegenüber den Kirchen und Geltungsverluste des christlichen Glaubens, ein innerer und teilweise auch äußerer Auszug aus der Kirche als Institution, wie er in neueren empirischen Untersuchungen zur Kirchenmitgliedschaft zum Ausdruck kommt. Bezeichnet Inkulturation das Heimischwerden des Evangeliums in einem kulturellen Kontext, so ist im Blick auf die heutige Situation zu fragen, ob sich das Christentum in europäischen Gesellschaften in einem Prozess der Exkulturation befindet. Jedenfalls hat das Christentum in vielen Milieus seine Selbstverständlichkeit verloren.15 Exkulturation meint in diesem Zusammenhang den Vorgang, dass die gesellschaftlichen Stützmechanismen für das Christentum in Europa im Schwinden begriffen sind, dass die konstantinische Gestalt des Christentums zurücktritt. Nirgends sind diese Prozesse weiter fortgeschritten als in den neuen Bundesländern, wo das Verschwinden der Religion durch ihre staatlich reglementierte Verdrängung als einer der größten Erfolge der SED bezeichnet werden kann.
Das Fortschreiten von Prozessen der Säkularisierung zeigt sich auch darin, dass die Zahl der Konfessionslosen zu- und nicht abnimmt. In den Mitgliedszahlen sogenannter säkularer Organisationen spiegelt sich dieser Vorgang zwar fast gar nicht. Atheistische Organisationen melden sich in der Medienwelt jedoch deutlicher zu Wort. Auf der politischen Ebene geht es dabei um „die konsequente religiöse, bzw. weltanschauliche Neutralität des Staates“, „ein integratives Pflichtfach zur Wertevermittlung“ (wie in Berlin „Ethik“ und in Brandenburg „LER“), darüber hinaus um die „Autonomie am Lebensende und die volle rechtliche Gültigkeit von Patientenverfügungen“, eine „Reform der öffentlichen Erinnerungs-, Gedenk- und Trauerkultur“, „Respekt gegenüber den Formen der Fest- und Feierkultur säkularer Organisationen“.
Kombinatorische Formen von Spiritualität
In pluralistischen Gesellschaften stehen Religionslosigkeit, Religionsfundamentalismus und Religionsfaszination gleichzeitig nebeneinander. Auf der individuellen Ebene gibt es unverkennbar eine Zunahme von kombinatorischen Formen von Spiritualität. Immer mehr Menschen praktizieren einen überaus individuell geprägten, auswählenden Religionsvollzug. Er kann als „expressiver Individualismus“16 beschrieben werden, der allerdings „keineswegs nur eine individuelle Anpassung an den religiösen Pluralismus darstellt“17. Denn er bleibt auf kulturelle Vorgaben bezogen, insbesondere auf Modelle und Agenten eines esoterischen, meist theosophisch geprägten Synkretismus. Zahlreiche Menschen schöpfen in Sachen Religion aus verschiedenen Quellen, vermeiden die Beheimatung in einer einzigen Tradition und weichen endgültigen Festlegungen aus. Soziologen sprechen von „Religions-Bricolage“ oder vom religiösen Flickenteppich.
Auch zahlreiche Mitglieder unserer Kirchen verstehen sich als spirituelle Wanderer und zeigen sich fasziniert vom Fremden und Unbekannten, zum Beispiel vom Buddhismus. Nur bei wenigen entwickelt diese Faszination eine Kraft, die zur Konversion führt. Die Buddhismusbegeisterung ist groß, die Anzahl der Konversionen bleibt gering. Heutige Religionsfaszination verkennt den bindenden Charakter der religiösen Überlieferung und versteht Religionen und Weltanschauungen anders, als diese sich selbst verstehen. Die spielerisch-ästhetische Annäherung an religiöse Rituale kann ein erster Schritt zu einer tieferen Bindung sein, muss es aber nicht. Kombinatorische Spiritualität spielt sich in Netzwerken und Szenen ab. Sie ist als „Publikum“ und „Kundschaft“ organisiert. Die Kraft ihrer Gemeinschaftsbildungen ist begrenzt, ebenso ihr Beitrag zur religiösen Identitätsbildung.
Erst eine Lebenswelt, die durch weltanschaulich-religiöse Vielfalt gekennzeichnet ist, hat diese Form von Religiosität möglich gemacht. Moderne Kommunikationsmedien, religiöser Tourismus, ein neu erwachtes Sendungsbewusstsein nichtchristlicher Religionen und neuer religiöser Bewegungen verstärken den kulturellen Austausch und tragen zur Pluralisierung religiöser Orientierungen bei. Globalisierung und Digitalisierung schaffen universale Gleichzeitigkeit und lassen die Menschen aus der Raumdimension sozusagen herausfallen. Kombinatorische Spiritualität ist Teil des heutigen religiösen Pluralismus, zugleich Protest gegen die Rationalitätsdominanz unserer Kultur. Die anhaltende Nachfrage nach spirituellen Erfahrungen deutet gleichermaßen auf elementare Bedürfnisse wie auf unübersehbare Defizite der modernen Kultur hin. Kombinatorische Spiritualität profitiert von den antiinstitutionellen Affekten der Menschen und steht im Zeichen der Verarbeitung religiöser Vielfalt und weltanschaulicher Differenzerfahrungen. Man ist darum bemüht, eine nichttheistische, in vielen Fällen nachchristliche religiöse Erfahrung zu vermitteln, und schreibt zugleich die Kategorien Emotionalität und Intuition groß. Die religiöse Erfahrung zielt auf Überwindung von Grenzen; zum Beispiel auf die Entgrenzung des Ichs in ein kosmisches Bewusstsein, ebenso auf die Revitalisierung archaischer Kulte und Riten.
Fundamentalismus und Fundamentalismusverdacht
Das vielleicht deutlichste Beispiel für Verschärfungen des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus sind fundamentalistische Bewegungen. Sie antworten auf die Krise der Moderne, die Erschütterung ihrer Gewissheiten, auf kulturelle Identitätsgefährdungen. Das Rezept zur Überwindung dieser Krise finden fundamentalistische Bewegungen darin, „auf der Grundlage der heiligen Texte eine neue Gesellschaft aufzubauen“18. Fundamentalistische Bewegungen wollen eine Antwort geben auf die Unsicherheiten der modernen Zivilisationsdynamik. Unter dem Einfluss rapider Urbanisierung und Pluralisierung entwickeln sie sich als Reaktionsbildung auf den säkularen Humanismus und die ambivalenten Folgen von Modernisierungsprozessen. Der Fundamentalismus beantwortet die Frage nach religiöser Identität primär abgrenzend: antipluralistisch, antihermeneutisch, antifeministisch, antievolutionistisch, bei gleichzeitiger Aufrichtung von patriarchalischer Autorität.
Der antimodernistische Affekt, der dem Fundamentalismus anhaftet, hat zu den Weiterungen beigetragen, die den Begriff in seiner gegenwärtigen Verwendung unbestimmt gemacht haben. In der Medienöffentlichkeit wird heute z. T. jede Form religiöser Hingabe unter Fundamentalismusverdacht gestellt. Insofern gibt es in unserer Kultur nicht nur das Phänomen fundamentalistischer Verfestigungen, sondern auch grundsätzlicher Problematisierung religiöser Orientierungen. Fundamentalismuskritik kann schnell und manchmal unbemerkt die Gestalt grundsätzlicher Religionskritik annehmen. Monotheistische Religionen, zu deren Offenbarungsverständnis Endgültigkeitsansprüche gehören, werden als fundamentalistisch angesehen. Der Verdacht wird ausgesprochen, dass religiöse Wahrheitsansprüche problematisch und letztlich inhuman seien. Der Fundamentalismus im Kontext einer spezifischen Religion erscheint dann als Folge dessen, was im Grundsatz der Religion bereits angelegt ist. Der Attraktivität fundamentalistischer Strömungen steht eine pointierte Monotheismuskritik gegenüber, die davon ausgeht, dass monotheistische Religionen mit ihren Wahrheitsansprüchen intolerant und Brutstätte des Fundamentalismus und der Ausgrenzung von Andersglaubenden sind.
Voraussetzungen religiös-weltanschaulicher Vielfalt
Pluralisierungs-, Globalisierungs- und Internationalisierungsprozesse bestimmen das Leben der Menschen in Wirtschaft, Politik und Recht. Sie schaffen Konkurrenzsituationen und schwächen traditionelle Bindungen. Auch im religiös-weltanschaulichen Bereich gilt dies, wo es vielfältige Angebote gibt, die religiöse Monopole aufheben und das bisher Übliche begründungspflichtig machen: die Kreuzzeichen in öffentlichen Räumen, der Religionsunterricht, die theologischen Fakultäten, die Kirchenmitgliedschaft (die vor allem bei jungen Erwachsenen an Selbstverständlichkeit einbüßt). Im religiösen Pluralismus entsteht religiöse Konkurrenz, eine Konkurrenz religiöser Bekenntnisse, heiliger Schriften, religiöser Riten. Es entwickelt sich ein missionarischer Wettstreit, sogar dann, wenn das Wort Mission für das Zeugnisgeben nicht verwendet wird.
Die wichtigste rechtliche Voraussetzung für diese Entwicklungen ist die durch das Grundgesetz gewährte Freiheit in der Religionsausübung. In der europäischen Grundrechtecharta wird diese Freiheit mit den Sätzen unterstrichen: „Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion und Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen“ (Art.10,1).
Aus evangelischer Perspektive ist erst jüngst darauf hingewiesen worden, dass religiöse Vielfalt nicht nur als Kontext des christlichen Zeugnisses zu akzeptieren, sondern als begrüßenswerte Folge von Religionsfreiheit anzusehen sei. „Die evangelische Kirche nimmt den Pluralismus der Religionen und Weltanschauungen nicht nur als ein äußerliches Faktum hin, mit dem man in modernen Gesellschaften eben rechnen müsse. Sie bejaht ihn vielmehr aus grundsätzlichen Überlegungen und aus ihrer eigenen Sache heraus.“19 Ein Plädoyer für Freiheit in Religionsfragen begünstigt weltanschauliche Vielfalt. Es unterstreicht die Berechtigung und Unhintergehbarkeit religiöser Pluralität. Dabei ist nicht nur von religiösen Traditionen zu reden, sondern auch von Weltanschauungen. Denn zur Religionsfreiheit gehört selbstverständlich auch die Option für nichtreligiöse, zum Beispiel atheistische Weltanschauungen bzw. Weltdeutungen, deren Resonanz in europäischen Gesellschaften offensichtlich ist. Neben die zunehmende Präsenz anderer Religionen tritt die ebenso wachsende Anwesenheit nichtreligiöser und atheistischer bzw. humanistischer Weltdeutungen, die sich in einzelnen Weltanschauungsgemeinschaften konkretisiert, die zahlenmäßig sehr begrenzt ist, aber gleichwohl eine wirkungsvolle Resonanz entfaltet.
Migration und religiöser Pluralismus stehen in einem engen Zusammenhang. Wer ja sagt zur Religionsfreiheit und zu einem Europa, das sich gegenüber Fremden und Flüchtlingen aus anderen Ländern nicht abschottet, sagt ja zu kulturellen und religiösen Pluralisierungsprozessen. Religiöse Vielfalt nimmt in dem Maße zu, in dem Einwanderungsbestimmungen gelockert werden. Migration erweitert und verschärft den religiösen Pluralismus. Auswanderung und Flucht sind in der Religionsgeschichte immer schon zentrale Faktoren der Ausbreitung religiöser Traditionen gewesen. Das Ausmaß der Migration und ihre Folgewirkungen werden oft unterschätzt. „Einwanderer aus allen Himmelsrichtungen haben das Gesicht der großen Städte verändert. Die Welt hat sich in unseren Stadtvierteln eingenistet, und dies ist eine verwirrende und schockierende Erfahrung. Die Märkte, die Gotteshäuser, die Schulen und die Sportvereine: Alles und jeder ist von der Völkerwanderung berührt, die gerade stattfindet und deren Ende noch längst nicht absehbar ist.“20
Abschließende Überlegungen
Ein fortschreitender religiös-weltanschaulicher Pluralismus ist der Kontext, in dem die religiösen Gemeinschaften, auch die christlichen Kirchen, leben und auf den sich das christliche Zeugnis heute beziehen muss. Dabei besteht die zentrale Veränderung für das Leben moderner Menschen „im Verlust der Selbstverständlichkeit“ des Vorgegebenen und im Entstehen von Alternativen.21 Die Weichenstellung in Richtung einer weiteren Entwicklung von religiöser Vielfalt erfolgte bereits, bevor die mediale Aufmerksamkeit sich auf die aktuelle Flüchtlingskrise richtete. Die Flüchtlingsbewegungen nach Deutschland und Europa der letzten Monate werden vor allem die muslimische Präsenz stärken und die innerislamische Pluralisierung vergrößern.
Erst vor wenigen Monaten publizierte der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland seinen Grundlagentext „Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt“22. Besondere Aufmerksamkeit wird der Begegnung mit dem Islam und dem Verhältnis von Christen und Juden gewidmet. Darin steht auch der Satz: „Die evangelische Kirche nimmt ihre Verantwortung für das Gemeinwesen wahr, indem sie zunächst den Versuchen wehrt, die Muslime in unserem Land umstandslos nach Maßgabe der Erscheinungsformen des Islams in außereuropäischen Ländern zu beurteilen. Darum erinnert sie daran, was Europa dem Islam historisch verdankt, darum begrüßt sie die Entwicklung eines westlich geprägten Islams als Ausdruck der Inkulturation und Beheimatung bei uns.“ Von dem zuletzt Gesagten wird abhängen, ob es zu einer gelingenden Integration kommen kann.
Der religiöse und weltanschauliche Pluralismus einer demokratischen Kultur lebt von gemeinsamen Werten und einem gemeinsamen Rechtsbewusstsein, dessen Bewahrung nicht automatisch geschieht. Mit Jürgen Habermas kann darauf hingewiesen werden, dass der moderne Verfassungsstaat erfunden wurde, „um einen friedlichen religiösen Pluralismus zu ermöglichen“23. Der säkulare Rechtsstaat ist auf kein bestimmtes religiöses Bekenntnis festgelegt und ermöglicht dadurch die Freiheit in der Religionsausübung. Er „kann freilich nur dann seine religiösen und nicht-religiösen Bürger voreinander in Schutz nehmen, wenn diese im staatsbürgerlichen Umgang miteinander nicht nur einen Modus Vivendi finden, sondern aus Überzeugung in einer demokratischen Ordnung zusammenleben. Der demokratische Staat zehrt von einer rechtlich nicht erzwingbaren Solidarität von Staatsbürgern, die sich gegenseitig als freie und gleiche Mitglieder ihres politischen Gemeinwesens achten.“24 Auch in offenen Gesellschaften kann die Menschenwürde, die allen zusteht, nur durch Staaten geschützt werden, „die auf Staatsbürgerschaft gegründet sind“25.
Die Pluralität von unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen ist in offenen Gesellschaften unaufhebbar. Zur aktiven Toleranz gehört die Anerkennung widerstreitender Überzeugungen. In der Begegnung von Religionen und Weltanschauungen treffen „Endgültigkeitsansprüche“ (Hans Zirker) aufeinander, die nicht abstrakt verrechnet werden können und sich nicht harmonisieren lassen. Deshalb gehört zum Dialog die Bereitschaft, dem Anderen mit Achtung, Respekt und Lernbereitschaft zu begegnen, aber von christlicher Seite auch der Mut, dem christlichen Wirklichkeits- und Wahrheitsverständnis in seiner trinitarischen Struktur Ausdruck zu verleihen und die Bindung christlichen Lebens an Jesus Christus und seinen Geist nicht zu verschweigen. In der Begegnung zwischen Christinnen und Christen und Vertretern anderer Religionen und Weltanschauungen muss und darf Widerspruch und Streit auf der Bekenntnisebene nicht das Ende der Kommunikation bedeuten. Martin Luther hat die Spannung zwischen dem christlichen Wahrheitsanspruch und der Toleranzforderung auf die Formel gebracht: „Fides nihil, caritas omnia tolerat“ („Der Glaube duldet nichts, die Liebe duldet alles“). Die religiöse und weltanschauliche Vielfalt lässt sich nicht aufheben oder wegmissionieren. Der christliche Glaube vermittelt sich nicht gewaltsam. Sein Inhalt widerspricht allen manipulativen Formen seiner Bezeugung. Das christliche Liebesgebot gebietet ein respektvolles Miteinander zwischen den Religionen. Zur Begegnung mit anderen gehört immer beides, Achtung und Lernbereitschaft, aber auch der Mut, Rechenschaft zu geben von der christlichen Hoffnung, die untrennbar mit dem Liebesgebot verbunden ist.
Wenn heute immer wieder darauf verwiesen wird, dem Dialog der Kulturen und der Religionen mehr Aufmerksamkeit zu widmen, ihn mit allen Kräften zu unterstützen und mehr Begegnungen zu suchen und zu gestalten, so ist dem zuzustimmen. Hilfreich ist ein realistischer Dialog, der das Strittige nicht von der Tagesordnung verdrängt und der offene Kontroversen zulässt. Wer den Kampf der Kulturen nicht will, muss für seine eigenen Überzeugungen einstehen und sie verteidigen. Er muss Respekt vor dem Anderen mit Standfestigkeit im Blick auf die eigenen Handlungsorientierungen verbinden. Die offene Gesellschaft, die dem religiösen Pluralismus und der Religionsfreiheit Raum gibt und die Ausgrenzung des religiös und kulturell Anderen nicht hinnimmt, ist nicht voraussetzungslos.
Reinhard Hempelmann, 10.12.2015
Anmerkungen
- Vgl. Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations?, in: Foreign Affairs 72/3 (1993), 22-49, ausführlich: ders., Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 2002; Bassam Tibi, Europa ohne Identität. Die Krise der multikulturellen Gesellschaft, München 2000.
- Vgl. Hans Joas, Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg i. Br. 2012.
- Vgl. dazu Reinhart Hummel, Religiöser Pluralismus oder christliches Abendland? Herausforderung an Kirche und Gesellschaft, Darmstadt 1994; Eilert Herms, Zusammenleben im Widerstreit der Weltanschauungen. Beiträge zur Sozialethik, Tübingen 2007.
- So mit Recht Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 2005, 7.
- Vgl. dazu Christoph Schwöbel, Christlicher Glaube im Pluralismus. Studien zu einer Theologie der Kultur, Tübingen 2003.
- Detlef Pollack, Religion und Moderne: religionssoziologische Modelle, in: Tobias Mörschel, Macht Glaube Politik? Religion und Politik in Europa und Amerika, Göttingen 2006, 17-48, hier 19. Zum Ganzen vgl. auch Gert Pickel, Säkularisierung und Konfessionslosigkeit im vereinigten Deutschland, in: Reinhard Hempelmann/Hubertus Schönemann (Hg.), Glaubenskommunikation mit Konfessionslosen. Kirche im Gespräch mit Religionsdistanzierten und Indifferenten, EZW-Texte 226, Berlin 2012, 11-36.
- Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a. M. 21993, 132.
- Vgl. Paul Michael Zulehner, Auswahlchristen, in: Volkskirche – Gemeindekirche – Parakirche, Theologische Berichte 10, Zürich u. a. 1981, 109-137, hier 118.
- Pollack, Religion und Moderne (s. Fußnote 6), 23.
- Ebd.
- Paul Scheffer, Die Eingewanderten. Toleranz in einer grenzenlosen Welt, München 2007, 14.
- Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion (s. Fußnote 4), 9.
- Vgl. dazu Franz-Xaver Kaufmann, Wie überlebt das Christentum?, Freiburg i. Br. u. a. 2000, 81ff.
- Eberhard Jüngel, Untergang oder Renaissance der Religion?, in: Erwin Teufel (Hg.), Was hält die moderne Gesellschaft zusammen?, Frankfurt a. M. 1996, 176-197, hier 183.
- Vgl. Monika Wohlrab-Sahr, Forcierte Säkularität: Religiöser Wandel und Generationendynamik im Osten Deutschlands, Frankfurt a. M. 2009.
- Charles Taylor, Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2002, 71, 79.
- Reinhart Hummel, Wie gehen die Kirchen des Westens mit dem Synkretismus der Menschen um?, in: MD 2/1999, 33-40, hier 33.
- Gilles Kepel, Die Rache Gottes, München 1991, 271.
- Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive. Ein Grundlagentext des Rates der EKD, Gütersloh 2015, 19.
- Paul Scheffer, Die Eingewanderten. Toleranz in einer grenzenlosen Welt, München 2007, 12.
- Vgl. Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Modernität, Pluralismus und Sinnkrise, Gütersloh 1995, 44ff.
- Siehe Fußnote 19.
- Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion (s. Fußnote 4), 8.
- Ebd., 9.
- So meines Erachtens mit Recht Udo Di Fabio, in: Cicero Spezial 11/2015, 9.