Jehovas Zeugen

Verschwiegene Körperschaft

(Letzter Bericht: 4/2006, 144f) Nach jahrelangem Rechtsstreit wurde am 5. Juli 2006 die Religionsgemeinschaft Jehovas Zeugen in Deutschland e.V. im Land Berlin als Körperschaft des öffentlichen Rechts endgültig anerkannt. Nach Grundgesetz Artikel 140 – in Verbindung mit der Weimarer Reichsverfassung Artikel 137 Abs. 5 Satz 2 – sind Religionsgemeinschaften auf ihren Antrag hin die Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zu verleihen, wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten. Gemäß den zwischen den Ländern abgestimmten Verleihungskriterien muss die Gemeinschaft unter anderem ca. 30 Jahre existieren, organisatorische Festigkeit und öffentliche Bedeutung besitzen, eine Mitgliederzahl von mehr als einem Promille der Gesamtbevölkerung aufweisen und in der Lage sein, ihren finanziellen Verpflichtungen dauerhaft nachzukommen. Nach Ansicht der zuständigen Verwaltungsgerichte werden diese Kriterien durch die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas erfüllt. Die Gemeinschaft hat demnach einen Anspruch auf die Verleihung dieser Rechte.

Dem Beschluss ist ein langjähriger Verwaltungsrechtsstreit vorausgegangen, in dem das Land Berlin u.a. Zweifel an der Rechtstreue der Zeugen Jehovas geltend gemacht hatte. Zur Begründung wurde vorgetragen, dass Jehovas Zeugen den staatlichen Schutz Minderjähriger unterlaufen, wenn Eltern ihre Zustimmung zu lebenserhaltenden Bluttransfusionen verweigern, im Falle eines Austritts oder Ausschlusses eines Mitglieds aktiv auf die Trennung von Ehepartnern oder Familien hinwirken oder das Kindeswohl durch verbindliche Erziehungsvorgaben gefährden.

Laut Feststellung des Oberverwaltungsgerichtes Berlin vom 24. März 2006 bestehen jedoch keine greifbaren Anhaltspunkte dafür, dass die Religionsgemeinschaft sich in der Vergangenheit nicht rechtstreu verhalten habe. Die durch die Rechtsprechung aufgestellten Verleihungsvoraussetzungen – Rechtstreue und Achtung der Fundamentalprinzipien der Verfassung, der dem staatlichen Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter und der Grundsätze des Staatskirchenrechts – werden nach Darlegung der Gerichte somit von Jehovas Zeugen erfüllt.

In einer Presseerklärung äußerte sich der Sprecher des Präsidiums der Zeugen Jehovas, Werner Rudtke, wie folgt: „Seit mehr als hundert Jahren engagieren wir uns in Deutschland für christliche Werte auf der Grundlage des biblischen Evangeliums, was wir nun als Körperschaft des öffentlichen Rechts noch besser tun können. Viele gesetzliche Bestimmungen gehen einfach davon aus, dass Religionsgemeinschaften unserer Größenordnung öffentlich-rechtlich organisiert sind. Dadurch werden administrative Tätigkeiten in vielen Bereichen einfacher.“ Die Pressemeldung schließt mit dem Hinweis: „Jehovas Zeugen in Deutschland bereiten sich gegenwärtig besonders auf den vom 21. bis 23. Juli [2006 – A.F.] in den Stadien in Dortmund, Frankfurt, Hamburg, Leipzig und München stattfindenden Sonderkongress ‚Befreiung greifbar nahe‘ vor. Hierzu erwarten sie einige zehntausend Besucher aus dem Ausland. Mit mehr als 200.000 Delegierten wird dieser Sonderkongress eine der größten religiösen Veranstaltungen dieses Jahres in Deutschland werden.“

In der Tat konnte man den diesjährigen Kongressen mit besonderer Spannung entgegensehen: Wie reagiert die Gemeinschaft auf die Verleihung der Körperschaftsrechte, die in einem gewissen Widerspruch zur traditionellen Haltung der Zeugen Jehovas gegenüber dem Staat steht? Wird die neue Entwicklung diskutiert? Revidiert man gar die eigene Position, wonach der Staat dem Herrschaftsbereich Satans zugerechnet wird? Muss man diese nicht zwangsläufig korrigieren, wenn, wie Rudtke erklärt hat, der Berliner Senat nunmehr „administrative Tätigkeiten in vielen Bereichen“ erleichtert?

Tatsächlich wurde auf den genannten Kongressen eine Resolution vorgetragen, die das Verhältnis der Zeugen Jehovas zum Staat und zur Gesellschaft aufgreift. Üblicherweise werden solche Texte jedoch nicht diskutiert; sie werden den Teilnehmern auch nicht im Vorfeld zur Kenntnis gegeben, damit sich diese in Ruhe ein Bild machen können. Solche Resolutionen werden vielmehr von einem Sprecher vorgetragen und dann per Akklamation „bestätigt“.

Seltsamerweise veröffentlichte die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas den Text auf keiner ihrer Homepages. So wundert es nicht, dass bereits wenige Tage nach Verlautbarung im Internet unterschiedliche Versionen bzw. Übersetzungen kursierten. Die Nachfrage eines Journalisten im Informationsbüro der Zeugen Jehovas erbrachte die Auskunft, dass man üblicherweise solche Texte im „Wachtturm“ veröffentlicht – derzeit jedoch keinen Anlass sieht, den Text zugänglich zu machen.

Uns wurde ein Life-Mitschnitt der Resolution zugespielt. Wir können für die Richtigkeit des Textes nicht bürgen, halten dessen Authentizität jedoch für sehr wahrscheinlich. Die Resolution lautet:

„Wir geben folgende Erklärung ab:

1. Aus Liebe zu Jehova und zu unseren Mitmenschen sind wir entschlossen, letzteren noch intensiver Zeugnis zu geben, ungeachtet ihrer Rasse, Nationalität, Sprache oder gesellschaftlichen Stellung.

2. Da wir uns Gott rückhaltlos hingegeben haben, sind wir entschlossen, ausschließlich Jehova ergeben zu sein. Er kommt in unserem Leben zuerst.

3. Genau wie Jesus, der kein Teil der Welt war, sind wir kein Teil der von Gott entfremdeten, menschlichen Gesellschaft.

4. Aus Loyalität gegenüber Jehova und seinem Sohn Jesus sind wir fest entschlossen keine Abstriche an den gerechten Grundsätzen der Bibel zu machen.

5. Wir lehnen es rundweg ab, uns in nutzlosen, interkonfessionellen Bewegungen oder für gesellschaftliche Pläne und Programme zu engagieren, die ein System erhalten sollen, das Gott als Fehlschlag verurteilt hat.

6. Wir werden gegenüber rechtmäßiger Autorität weiterhin relative Unterordnung beweisen, indem wir dem Cäsar respektvoll das geben, was ihm gebührt, aber Gottes Dinge geben wir Gott. Bei politischen Kontroversen werden wir weder Partei ergreifen, noch uns einmischen.

7. Wir werden mit all unserer Kraft dem Geist der Welt widerstehen, der sich unter anderem durch Materialismus und abträgliche Unterhaltung zeigt, durch Unmäßigkeit bei Essen und Trinken, durch die Belästigung mit pornographischem Material, sowie durch die Neugierde oder die Versuchung, mit Fremden, in Internet-Chatrooms Gemeinschaft zu pflegen. Wir sind entschlossen, kein Teil der Welt zu sein und unseren Glauben so auszuüben [... Text unverständlich – A.F.], auf all diesen Gebieten wollen wir den Beweis liefern, dass wir kein Teil der Welt sind, was sich in jedem Bereich unseres Lebens und in unseren Beziehungen zu anderen deutlich zeigen sollte. Mit der Hilfe der Kraft, die Gott gibt, und mit Unterstützung seines inspirierten Wortes werden wir in der gegenwärtigen Zeit der Sorgen und der Umwälzungen eine biblisch ausgeglichene Einstellung bewahren.“

Interessant ist Punkt 6. Was genau bedeutet „relative Unterordnung“? Bedeutsam auch der Passus: „Bei politischen Kontroversen werden wir weder Partei ergreifen, noch uns einmischen.“ Der Begriff „einmischen“ meint bei Jehovas Zeugen die Teilhabe am öffentlichen bzw. politischen Leben. Diese Aufforderung zur Distanz vom öffentlichen Leben durchzieht fast alle Punkte der Resolution. Besonders deutlich zeigt das Punkt 5: Hier distanziert man sich einerseits von ökumenischen Bemühungen, zugleich aber auch von allen Initiativen und Programmen, die zur Erhaltung des Lebens auf diesem Planeten beitragen und die Ungleichheit der Lebensbedingungen der Menschen vermindern helfen wollen. Dazu gehören ökologische Bemühungen, politische Friedensinitiativen, internationale Aufbauprojekte, Hilfsprojekte für die Dritte Welt u.v.m.

Es wundert nicht, dass die Körperschaft der Zeugen Jehovas solche Texte derzeit nicht veröffentlichen will. Vermutlich sind sie auch gar nicht öffentlich gemeint, sondern dienen vorrangig dem inneren Zusammenhalt.


Andreas Fincke