Verschwörungstheorien

War die Mondlandung nur eine Fernsehshow? Haben die CIA John F. Kennedy und die Juden das World Trade Center auf dem Gewissen? Sind Aids und die Prävention durch Kondome Maßnahmen weißer Regierungen, um die schwarze Bevölkerung zu dezimieren? Welche Geheimnisse über Jesus verbergen sich in den Kellern des Vatikans? Ein Blick ins Internet fördert hunderte weitere Verschwörungstheorien zutage. Auch wer nicht an sie glaubt, kennt sie. Die inhaltliche Absurdität einiger täuscht darüber hinweg, dass Verschwörungstheorien ein Massenphänomen sind, nicht das Reservat skurriler „Spinner“. Verschwörungstheorien können Ausdruck der Innen-Außen-Weltsicht religiöser Kleingruppen sein (Davidianer, Aum Shinrikyo) oder umgekehrt religiös-weltanschauliche Gruppen pauschal verdächtigen (Juden, katholische Kirche, Jesuiten, Freimaurer).

Abgrenzung und Typologie

Dabei ist nicht jeder Verdacht auf Vorliegen einer Verschwörung eine Verschwörungstheorie, denn es gibt reale Verschwörungen. Ohne das Erwägen scheinbar absurder Optionen wäre Watergate nicht aufgedeckt worden. Außerdem kann der Vorwurf der Verschwörungstheorie auch als Waffe im Meinungsstreit dienen und unliebsame Theorien, Kritiker und Fragensteller diskreditieren. Merkmale von Verschwörungstheorien sind:

1. Reduktion: Hochkomplexe soziale Phänomene und Strukturen werden als Ergebnis zielgerichteten Handelns weniger Menschen gedeutet. Weiß man, wem etwas nützt, weiß man auch, wer es verursacht hat, wobei die Identität der Verantwortlichen vage bleiben kann (die Juden, das Großkapital, die Pharmaindustrie, die Männer) oder gleich eine fiktive Größe ist (Illuminaten, Außerirdische).

2. Intention: Hinter Ereignissen stehen Absichten. Das Handeln der Betreffenden verfolgt konkrete Ziele, oft Macht und Reichtum. Die Ziele können auch zunächst unklar sein.

3. Konspiration: Planen und Handeln geschehen im Verborgenen.
Neben solchen systemischen (Weltverschwörungen) gibt es einzelfallbezogene Verschwörungstheorien (11. September 2001, Kennedy-Mord). Bei diesen wird Komplexität zunächst nicht reduziert, sondern künstlich hergestellt, indem

4. hinter einer relativ klaren „offiziellen Wirklichkeit“ eine komplizierte Alternativwirklichkeit postuliert und detailreich ausgestaltet wird; zahllosen Fakten wird eine alternative Deutung beigelegt („nichts ist, wie es scheint“).

5. Anders als bei systemischen Verschwörungstheorien werden bei Einzelfalltheorien oft konkretere Tätergruppen verdächtigt (Geheimdienste, Regierungen).

6. Typischerweise ist eine Verschwörungstheorie nicht falsifizierbar. Im Gegenteil werden alle widersprechenden Fakten als Belege für die besondere Geschicklichkeit und Gefährlichkeit der Verschwörer integriert.

Ein verschwörungstheoretischer Standarddenkfehler ist die Annahme, dass komplexe Ereignisse das Ergebnis zielgerichteter Handlungen sein können, die sich bestimmten Personenkreisen zuordnen lassen, denen es gelingt, ihre jeweiligen Einzelinteressen widerspruchsfrei zu koordinieren, die Auswirkungen ihrer Handlungen selbst in hochkomplexen Situationen voll abzuschätzen und dies alles über lange Zeit geheim zu halten (keine Aussteiger und Verräter). Das widerspricht allem, was man über komplexe Systeme und über Gruppenpsychologie weiß. Im Extremfall können Verschwörungstheorien die Wirklichkeitswahrnehmung so sehr bestimmen, dass sie als Paranoia gelten müssen.

Verbreitung

Verschwörungstheorien hat es zwar schon immer gegeben, aber vermutlich erleichtert heute u. a. das Internet die Verbreitung vor allem der entlegeneren Theorien (Nazi-UFOs), deren wenige Anhänger sich besser finden können. Wichtiger sind aber Massenmedienberichte im Pseudodokumentarstil und fiktionale Produktionen: Romane (Dan Brown), Spielfilme (Akte X) und Computerspiele (Deus Ex; Illuminati).

Der dekonstruktivistische Philosoph Bruno Latour vermutete 2004 – ausgelöst vom anhaltenden Zweifel am menschengemachten Klimawandel („Verschwörung linker Klimaforscher“) – selbstkritisch, dass eine jahrelange undifferenzierte Verbreitung sozialkonstruktivistischer Kritik in der akademischen Welt die unreflektierte Akzeptanz verschwörungstheoretischer Welterklärungen erhöht habe. Indem flächendeckend ein „exzessives Misstrauen“ gegenüber jeglichen Tatsachen gelehrt werde, d. h. indem alles unbegrenzt unter unwiderlegbaren Ideologieverdacht gestellt werde, bis nichts Reales bestehen bleibe, entstehe eine übertriebene Neigung, jede Wirklichkeit als potenzielle Maske interessengeleiteter Verschwörungen zu sehen. Eine verschwörungstheoretische Weltsicht ist dabei persönlichkeitsprägend: Wer an eine Verschwörungstheorie glaubt, hält mit höherer Wahrscheinlichkeit auch andere für wahr – selbst wenn diese sich widersprechen.

Verschwörungstheorien werden nicht nur von sozial Randständigen vertreten. Sie können auch von den Eliten selbst getragen werden und Randgruppen in den Blick nehmen (Juden, McCarthys „Kommunisten“). Die DDR-Diktatur war von einem staatsprägenden verschwörungstheoretischen Misstrauen der Machthaber gegen den vermeintlich allgegenwärtigen „Klassenfeind“ gekennzeichnet. Auch manche in den Mainstream eingedrungene Aspekte des radikalen Feminismus tragen verschwörungstheoretische Züge, wenn die hoch komplexe Vielfalt unterschiedlicher sozialer Geschlechterrollen auf ein zielgerichtetes Handeln von Männerbünden („Seilschaften“) oder auf die systemische Verschwörung eines diffusen „Patriarchats“ zurückgeführt wird, während zuwiderlaufende Tatsachen und alternative Erklärungen der Sozialforschung zu Wirkmechanismen sozialer Systeme ignoriert oder dämonisiert werden (Young, Goertzel).

Viele Verschwörungstheorien haben ihren Ursprung in den USA und richten sich – unabhängig vom politischen Lager ihrer Anhänger – gegen die US-Regierung und die Geheimdienste. Das kann mit dem ambivalenten Verhältnis vieler Amerikaner zu ihrer Regierung zusammenhängen. Einerseits besteht ein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis, andererseits verdächtigt man sie traditionell, sich zu viel Macht anzumaßen. Seit Jahrzehnten vermutet die Mehrheit der Amerikaner eine Verschwörung beim Kennedy-Mord, und jeweils ca. ein Drittel amerikanischer Schwarzer und Schwuler glaubt, AIDS sei von der Regierung in ihren Communities in Umlauf gebracht worden. Manche Autoren sehen Verschwörungstheorien geradezu als beherrschenden Diskursmodus in Amerika nach 1945 (Hofstadter). Als Ursache vermuten einige Soziologen die Reaktion auf Freiheitsbeschränkungen und Machtlosigkeitsgefühle durch Institutionenausbau und Bürokratie. Andere sehen die Ursachen umgekehrt im Bedeutungsverlust wirklichkeitsstrukturierender Institutionen (kulturell-soziale Kohäsion, Religion). Weniger oft genannt wird die banale Tatsache, dass amerikanische Regierungen in eine Reihe realer menschenschädigender Geheimprogramme verstrickt waren (z. B. Tuskegee-Studie). Sozialer Vertrauensverlust ist ein Nährboden für Verschwörungstheorien. Untersuchungen zufolge reduziert schon allein die Kenntnis von Verschwörungstheorien (nicht erst der Glaube daran) die Bereitschaft zu gesellschaftlichem Engagement.

Überraschend erscheint die Popularität von Verschwörungstheorien im esoterischen Milieu. Warum verkauften sich Jan Udo Holeys antisemitische, volksverhetzende Bücher über „Geheimgesellschaften“ ausgerechnet in esoterischen Buchhandlungen so gut? Dabei geht es nicht ausschließlich um rechtsextremes Gedankengut („braune Esoterik“), sondern auch um politisch eher links konnotierte Theorien gegenüber Pharma- und Lebensmittelindustrie.

Wippermann sieht die Esoterik offen für Verschwörungstheorien, weil ihr Weltbild der „Ganzheitlichkeit“ einen Kosmos in Harmonie mit sich selbst voraussetze. Unordnung entstehe erst dadurch, dass Menschen die natürliche Harmonie durcheinanderbringen. Auch ein prinzipielles Misstrauen ist förderlich: Die esoteriktypische Individualitätssehnsucht drückt sich im „alternativen Denken“, einer missverstandenen Form kritischer Reflexion, aus (s. o. Latour). Der angestrebte Nonkonformismus wird dann als prinzipieller Widerstand gegen die „herrschende Meinung“ artikuliert, auch um den Preis des Vernunftverzichts.

Amerikanische Untersuchungen zeigen, dass Geschlecht, Bildungsstand und Beruf die Anfälligkeit für Verschwörungstheorien kaum beeinflussen (Goertzel). Der Psychologe Sebastian Bartoschek fand unerwartet heraus, dass Frauen weniger Verschwörungstheorien kennen, aber häufiger daran glauben als Männer. Deutlich ist, dass soziale Randgruppen (z. B. ethnische Minderheiten) überdurchschnittlich oft an Verschwörungstheorien glauben, denn tatsächliche oder subjektive Machtlosigkeit und soziale Unsicherheit fördern die Akzeptanz.

Psychologische Momente

Verschwörungstheorien erfüllen reale soziale und psychologische Funktionen:

  • Einheitliche Logik zur Welterklärung (monistisches Prinzip – Nähe zur Esoterik) bedeutet Komplexitätsreduktion und bewirkt Entlastung. Mit dieser Kontingenzbewältigung übernehmen Verschwörungstheorien eine religiöse Funktion.
  • Die Benennung von Schuldigen (Sündenbocktheorie) fördert eine einfach geordnete Weltsicht (innen – außen, gut – böse).Verschwörungstheorien können als tieferes Geheimwissen firmieren und werten ihre Anhänger auf.
  • Persönliche Niederlagen werden durch Externalisierung erklärlich: „Nicht mehr mein komplizierter Alltag … ist schuld an meinem permanenten Unwohlsein, sondern die Mobilfunk-Antenne auf dem Dach gegenüber” (Ruch).
  • Verschwörungstheorien bieten die theoretische Chance zur Veränderung. Durch die Annahme eines steuernden menschlichen Willens werden Ereignisse immerhin aus dem Bereich des Unverfügbaren heraus- und in den Bereich menschlicher Gestaltung hineingenommen.

Die Kognitionspsychologie deutet darauf hin, dass es eine natürliche menschliche Neigung zu Verschwörungstheorien gibt, insbesondere bei negativen Zufallsereignissen und komplexen Zusammenhängen. Die biologisch angelegte Neigung zur Erkennung von Mustern in der Wirklichkeit, die Bevorzugung von Intentionen gegenüber anderen Erklärungen bei der Ursachenforschung, der „confirmation bias“ (neue Informationen werden als Bestätigung bestehender Überzeugungen eingeordnet) sind vielfach untersuchte psychologische Konstanten, die Verschwörungstheorien begünstigen.

Einschätzung und Umgang

Das Internet hilft bei der Verbreitung, ist aber nicht die Ursache der Popularität von Verschwörungstheorien und bietet auch Aufklärung. Verschiedene Seiten im Umfeld der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) widmen sich der Widerlegung gängiger Verschwörungstheorien.

Diese sind potenziell gemeinschaftsschädlich – entweder direkt, weil sie Diskriminierung und Gewalt gegen vermeintliche Verschwörer hervorrufen können, oder indirekt, weil sie gesellschaftliches Engagement mindern. Aus christlicher Sicht sind die Gottesgabe der aufgeklärten Vernunft und gute Bildungsarbeit als „Frühschutz“ vor Verschwörungstheorien hilfreich, aber nicht ausreichend. Erfahrungsgemäß lassen sich Verschwörungstheoretiker kaum mit rationalen Argumenten überzeugen. Der Ansatz sollte eher seelsorgerlich sein und sinngemäß fragen: „Warum glaubst du, dass die Juden hinter dem 11. September stecken?“

Verschwörungstheorien gedeihen v. a. in einem Klima gesellschaftlichen Misstrauens und des Gefühls der Machtlosigkeit. Je komplexer die Wirklichkeit ist, je mehr Informationen über Unglücke und Missstände Menschen bekommen, desto mehr gilt es, Bewältigungsmechanismen zu stärken, Menschen Selbstvertrauen zu geben und sie zur Teilhabe zu ermächtigen. Verschwörungstheorien sind auch eine (inadäquate) Antwort auf die Theodizeefrage. Alternativen zum Umgang mit Unrecht, Unglück und menschlicher Beschränkung gehören zum Kern christlicher Verkündigung und zur Dialektik einer Vertrauensbeziehung zu Gott unter den Bedingungen einer unvollkommenen Welt. Das Evangelium widerspricht jeder verschwörungstheoretischen Scheinrationalisierung dieser Unvollkommenheit.


Kai Funkschmidt, 10.09.2014


Literatur

Quellen

von Bülow, Andreas, Die CIA und der 11. September, München 2003
Holey, Jan Udo [Jan van Helsing], Geheimgesellschaften und ihre Macht im 20. Jahrhundert oder wie man die Welt nicht regiert, Rhede 1993


Sekundärliteratur

Goertzel, Ted, Belief in Conspiracy Theories, in: Political Psychology 15 (1994), 733-744
Grüter, Thomas, Freimaurer, Illuminaten und andere Verschwörer. Wie Verschwörungstheorien funktionieren, Frankfurt a. M. 2006
Hofstadter, Richard, The Paranoid Style in American Politics, New York 1966
Latour, Bruno, Why Has Critique Run out of Steam? From Matters of Fact to Matters of Concern, in: Critical Inquiry 30 (2004), 225-248, dt. und engl.: www.bruno-latour.fr/article?page=3
Pöhlmann, Matthias (Hg.), „Traue niemandem!“ Verschwörungstheorien, Geheimwissen, Neomythen, EZW-Texte 177, Berlin 2004
Pöhlmann, Matthias/Ehrhardt, Heiko/Ruch, Christian, Der Dan-Brown-Code. Von Illuminaten, Freimaurern und inszenierten Verschwörungen, EZW-Texte 207, Berlin 2010
Ruch, Christian, „Traue niemandem!“ Was fasziniert an Verschwörungstheorien?, in: Weltanschauung 2/2010, hg. vom Bischöfl. Seelsorgeamt Augsburg
Schmitz, Henrik, Verschwörungstheorie: Ersatzreligion und Mythos, 14.10.2009/3.5.2011, www2.evangelisch.de/themen/kultur/verschwoerungstheorie-ersatzreligion-und-mythos4622
Wippermann, Wolfgang, Agenten des Bösen. Verschwörungstheorien von Luther bis heute, Berlin-Brandenburg 2007
Young, Katherine K./Nathanson, Paul, Sanctifying Misandry: Goddess Ideology and the Fall of Man, Montréal 2010


Internet

www.zeitgeistmovement.de
http://scienceblogs.de/astrodicticum-simplex (Florian Freistetter: Aufklärung)
www.hoaxilla.de (Sebastian Bartoschek: Aufklärung)
www.gwup.org (Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften)