Versöhnt durch den Opfertod Christi? Die christliche Sühnopfertheologie auf der Anklagebank
Béatrice Acklin Zimmermann, Franz Annen (Hg.), Versöhnt durch den Opfertod Christi? Die christliche Sühnopfertheologie auf der Anklagebank, TVZ Verlag, Zürich 2009, 198 Seiten, 24,00 Euro.
Der Band veröffentlicht Vorträge von Adrian Schenker, Franz Mali, Otto Hermann Pesch, Christof Gestrich, Bernd Jochen Hilberath, Jacob Nordhofen, Pierre Bühler, Gunda Schneider-Flume und Thomas Schlag, die sich auf einer Tagung mit der gegenwärtigen Kritik an der Sühnopfertheologie auseinandersetzten. Die Herausgeberin und der Herausgeber schreiben in der Einleitung: „Die Vorstellung vom ... stellvertretenden Opfertod Christi bereitet heutigen Menschen zunehmend Schwierigkeiten. Mehr oder weniger differenziert wird regelmäßig vorgebracht, dass die Deutung des Todes Jesu als Sühnopfer für die Sünden der Menschheit nicht nur eine ... Verstehensbarriere darstelle, sondern dass sie auch zur theologischen Legitimation von Leiderfahrung und Unterdrückung missbraucht werde und Destruktion und Gewalt fördere. Einem gänzlichen Verzicht auf die Rede vom Sühnopfer Christi scheint jedoch nicht nur der biblische Befund entgegenzustehen. Es fragt sich auch, ob Kriterien wie ‚unzumutbar’, ‚überholt’ oder ‚fremd’ ausreichen, um überlieferte theologische Vorstellungen wie die des Sühnopfertodes Jesu Christi auszuhebeln. Außerdem ist keineswegs ausgemacht, dass das Bild von Gott durch die Deutung des Todes Jesu als Sühnopfer ins Zwielicht geraten muss“: Als sei er ein grausamer Rachegott, der so ein Sühnopfer von Jesus verlangt, um uns vergeben zu können.
Ein solches Missverständnis des Sühnopfers Jesu wurde sicher durch seine schiefe Deutung bei Anselm von Canterbury und in der traditionellen anselmistischen Theologie der lateinischen Kirche ausgelöst, ein Konzept, das nach Mali schon die alte Kirche kannte und das mit Recht von Gestrich, Hilberath und Schneider-Flume infrage gestellt wird. Dabei geht es nicht nur um „Fehlverständnisse“ des Anselm’schen Konzepts, wie Pesch meint, der eine „Ehrenrettung“ Anselms startet, die kaum überzeugt. Was meint Anselm? Gott wird von ihm wie ein mittelalterlicher König vorgestellt, der einen Staat beherrscht. Sünde ist daher Majestätsbeleidigung und Verletzung der Ehre Gottes, die unbedingt wiederhergestellt werden muss, sei es durch Strafe oder durch Sühne. Gott ist es sich schuldig, seine Ehrverletzung zu bestrafen oder sühnen zu lassen. Würde er sie straflos und ungesühnt vergeben, dann würde er als König sein Gesicht verlieren. Jesus nimmt die Strafe auf sich und sühnt stellvertretend für die Menschheit durch sein Sühnopfer, das er Gott darbringt.Diese irreführende Lehre Anselms hatte eine verhängnisvolle Wirkungsgeschichte bis hinein in unser Liedgut. Man denke an das Lied „Du großer Schmerzensmann, vom Vater so geschlagen ...“ (EG 87). Nach dem Neuen Testament wird nicht Gott versöhnt, sondern er versöhnt uns, in Jesus Christus (1. Kor 5,19). Er ist kein leidensunfähiger Gott, wie der Gott Anselms, er leidet selbst am Kreuz, in seinem Sohn, in dem er Mensch wird; nicht Gott wird ein Opfer dargebracht, Gott opfert sich selbst und stellt so die ganze Opfertheologie auf den Kopf. Hilberath, Schneider-Flume und Gestrich argumentieren so oder ähnlich. Nach Hilberath ist Gott „Subjekt der Versöhnung“, nicht ihr Objekt wie im Anselmismus.
Nach Schneider-Flume trifft der feministische Vorwurf gegen die Sühnopfertheorie, sie gehe von einem gewalttätigen und grausamen Gott aus, der ein Opfer braucht, um sich versöhnen zu lassen, an der Sache vorbei. „Am Kreuz Jesu Christi geht Gott selbst in die Mitte menschlicher Gewalt und Macht – ohnmächtig.“ Gott ist nicht gewalttätig und grausam, er ist das Opfer der Gewalttätigkeit und Grausamkeit. Gott stirbt selbst am Kreuz, in Jesus Christus, und lässt nicht ihn für sich sterben. „Gott selbst war im Tod“ und „ging nicht unsterblich an ihm vorüber“, „Gott musste leiden“, er lässt nicht Jesus leiden. Auch Gestrich wehrt sich gegen den Anselmismus; das Kreuz dürfe nicht gedeutet werden als „Opfer für Gott, um ... des Vaters Zorn zu versöhnen“. Gott ist nicht Objekt, sondern Subjekt der Versöhnung. Gestrich wagt sich dabei weit vor: „Lasst euch jetzt, bitte, mit Gott versöhnen!“, sagt Paulus (2. Kor. 5,20). „Steht hinter dieser Bitte gar der nicht nur revolutionäre, sondern anstößige Gedanke ‚Gott bekunde, dass ER, der Schöpfer, die Menschheit in eine schlechte Lage gebracht, aber diese ganze Situation nun mit Bedauern zurücknehme, ja, sie bereits beseitigt habe? Entschuldigt Gott sich? Bittet Gott ... die Menschen tatkräftig, d. h. nicht mit leeren Händen, um Verzeihung? Bekundet ER – sich selbst Leiden ... auferlegend –, er übernehme selbst die Verantwortung dafür, dass die Menschen sündigen, ... er heile nun ... das ‚von Jugend an böse menschliche Herz’ (vgl. Gen. 8,21)? ... Darf man die im Alten Testament ... erwähnte ‚Reue’ Gottes auch in der soeben genannten Weise verstehen?“ Gott selbst leidet am Kreuz. „In diesem zur Sünde gemachten Jesus Christus (2. Kor. 5,21) war ... Gott selbst (2. Kor. 5,19)“. „Jesus hängt am Kreuz ... stellvertretend für Gott.“ „Gott wollte verlieren, damit der Mensch gewinne (Karl Barth). Was bisher als göttliche ‚Verwerfung des Menschen’, des Sünders, bekannt war, das nimmt Gott ‚auf sich selbst’ mit allen Folgen – die ganze Schande!“ Es geht nicht um Gottes Ehre, wie bei Anselm, er nimmt unsere Schande auf sich. Paulus scheint – so Gestrich – auch anderes zur Versöhnung zu sagen, aber es steht nicht „auf der Höhe der von Paulus ... angesagten Versöhnung“, dass Gott selbst die Strafe auf sich nimmt, die wir verdient haben, in Jesus Christus, dass Gott selbst die Verwerfung auf sich nimmt, die uns gebührt, dass Gott selbst die Versöhnung bewirkt, die wir bewirken sollen (2. Kor. 5,19).
Gestrichs Beitrag in diesem Band ist nicht nur der originellste, sondern m. E. auch der überzeugendste. Deutet man den Kreuzestod von der Mitte des Neuen Testaments her – „Gott ist die Liebe“ (1. Joh 4,8) –, dann wird die ganze Opfertheorie ad absurdum geführt: Denn Gott opfert sich selbst in seinem Sohn, ihm wird nicht geopfert. Er kann nicht versöhnt werden, denn er ist die Versöhnung. Er geht aus Liebe zu uns in den Tod und schickt nicht seinen Sohn in den Tod. Gott ist die Liebe. Er hat nicht nur Liebe oder auch nicht, wie wir Menschen. Er ist die Liebe, er kann nicht anders.
Horst Georg Pöhlmann, Wallenhorst