Vom interreligiösen Dialog zum Dialog der Weltanschauungen

Christlicher Glaube kann nur im offenen Austausch und nicht hinter Mauern gelebt werden. Austausch und Begegnung über kulturelle und religiöse Grenzen hinweg sind wichtig, um gegenseitige Fehlwahrnehmungen zu korrigieren und Toleranz und ein respektvolles Miteinander einzuüben. Sie tragen dazu bei, nach Chancen der Kooperation Ausschau zu halten, aber auch Differenzen im Verständnis religiöser Überzeugungen offen anzusprechen. Deshalb ist es zu begrüßen, wenn Repräsentanten der EKD und des Koordinierungsrates der Muslime in Deutschland den Gesprächsfaden wieder aufnehmen und nach ihrer gemeinsamen Verantwortung für das friedliche Zusammenleben in der Gesellschaft fragen, wie dies am 21. Juni 2012 in der Merkez-Moschee in Duisburg-Marxloh geschehen ist. Angesichts einer kontinuierlich wachsenden islamischen Präsenz in Europa kann die Notwendigkeit von regelmäßigen interreligiösen und interkulturellen Begegnungen nur unterstrichen werden.

Wenn heute dem interreligiösen Dialog im politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Kontext ein besonderer Stellenwert gegeben wird, geht es hauptsächlich und vornehmlich um den Dialog mit Muslimen oder um Initiativen mit „trialogischer“ Ausrichtung, in die Vertreter jüdischen Glaubens ebenso einbezogen sind. Die geistige Situation der Gegenwart erfordert meines Erachtens jedoch einen viel weitergehenden Dialog, einen Dialog der Weltanschauungen, der alle Menschen einbezieht, auch solche, die sich in Distanz zu einem religiösen Verständnis von Welt und Mensch begreifen. Bereits der interreligiöse Dialog darf vonseiten der christlichen Kirchen nicht auf Islam und Judentum beschränkt werden. Er muss selbstverständlich auch die buddhistische und hinduistische Präsenz berücksichtigen, ebenso kleine Religionsgemeinschaften, die zum religiösen Pluralismus der Gegenwart hinzugehören. Die dynamischen weltanschaulichen Pluralisierungsprozesse der europäischen Gesellschaften vollziehen sich in unterschiedlichen Richtungen. Eine Kirche, die um ihren Auftrag weiß, wird deshalb dem Dialog mit Angehörigen anderer Religionen so wenig ausweichen wie dem Gespräch mit konfessionslosen, atheistischen oder postchristlichen Zeitgenossen. Weltanschauliche Vielfalt schafft für das christliche Zeugnis eine Vielzahl von Gesprächssituationen, auf die sich unsere gemeindliche Praxis erst begonnen hat einzustellen. Die grundlegenden Perspektiven der respektvollen Begegnung und der wechselseitig eingeräumten Freiheit zur Selbstdefinition gelten gleichermaßen für interreligiöse Begegnungen und weltanschauliche Dialoge. Dabei ist Dialog – oder bescheidener: lernbereite Kontaktaufnahme mit Angehörigen anderer Religionen und Weltanschauungen – kein Abfall vom Auftrag, Gottes freie Gnade allen Menschen zu verkündigen. Er ist auch kein Allheilmittel zur Pazifizierung von weltanschaulichen Konflikten und keineswegs immer möglich, aber letztlich alternativlos und für den Christen eine Handlungsperspektive, die dem Inkarnationsgeschehen zutiefst entspricht. Was heute allerdings mit Nachdruck ebenso zu unterstreichen ist: Dialog setzt voraus, eigene Überzeugungen kommunizieren zu wollen. Eine erkennbare christliche Identität ist nicht Störung, sondern Voraussetzung für eine weiterführende Begegnung mit Vertretern anderer Weltanschauungen. Für das Gespräch der Religionen und Weltanschauungen ist beides wichtig: Hörfähigkeit gegenüber anderen und Auskunftsfähigkeit im Blick auf eigene Glaubensüberzeugungen.


Reinhard Hempelmann