„Von anderen Kirchen können wir viel lernen“
Wilhelm Leber, Stammapostel der Neuapostolischen Kirche, im Gespräch mit "ideaSpektrum"
Am 21. Juni 2006 veröffentlichte die Zeitschrift „ideaSpektrum“ (25/2006) ein ausführliches Interview mit dem Stammapostel der Neuapostolischen Kirche (NAK), Wilhelm Leber. Wir haben an dieser Stelle schon mehrfach über den neuen Stil der NAK berichtet (vgl. MD 3/2006, 108f bzw. MD 4/2006, 131ff) und möchten unseren Lesern im Folgenden dieses interessante Gespräch vorstellen. Im Anschluss unternimmt Andreas Fincke, als EZW-Referent zuständig für die christlichen Sondergemeinschaften, eine vorsichtige Kommentierung und Einordnung der angesprochenen Themen in den Kontext des bislang gültigen Selbstverständnisses der NAK.
Wir danken der Zeitschrift „ideaSpektrum“ für die Abdruckgenehmigung.
idea: Herr Leber, sind Sie unfehlbar?
Leber: Nein, ich habe keinerlei Ansprüche dieser Art.
idea: Ihre Vorgänger ließen sich als „Stellvertreter Jesu Christi auf Erden“ bezeichnen.
Leber: Das vertreten wir heute nicht mehr. Frühere Generationen haben das sorgloser formuliert.
idea: Dürfen Mitglieder Ihrer Kirche den Stammapostel kritisieren?
Leber: Aber sicher! Sachliche Kritik nehme ich zu Herzen, alles andere zur Kenntnis.
idea: Ihr Vorgänger Richard Fehr sagte in einer Predigt, er habe es gar nicht nötig, sich mit Kritik zu beschäftigen. Das Wort Kritik komme in der Bibel nicht vor.
Leber: Das liegt zehn Jahre zurück. Damals gab es eine Phase, in der Kritik aus den eigenen Reihen sehr unsachlich vorgetragen wurde. Da können auch bei einem Stammapostel schon einmal die Emotionen durchgehen! Später hat er diese Aussage relativiert.
idea: Helmut Obst, Professor für Konfessionskunde, wirft Ihrer Kirche „Personenkult um den Stammapostel“ vor.
Leber: Ich denke, mittlerweile sieht Prof. Obst das anders; er weiß um die Bewegung, die in unsere Kirche gekommen ist. Ich gebe aber zu, daß wir früher das Apostelamt zu sehr in den Mittelpunkt gerückt haben, um uns von anderen Kirchen abzugrenzen. Vielleicht ist Jesus Christus bei uns dadurch manchmal in die Ecke gedrängt worden. Das hat sich geändert. Jeder Apostel ist zuerst ein Diener Gottes.
idea: Wissen Sie, wann Jesus wiederkommt?
Leber: Natürlich nicht! Es liegt in der Souveränität Gottes, daß dieser Zeitpunkt nicht vorhergesagt werden kann.
idea: Stammapostel Johann Gottfried Bischoff kündigte 1951 an, daß Jesus noch zu seinen Lebzeiten wiederkommen würde. 1960 starb Bischoff.
Leber: Daß sich die Vorhersage von Stammapostel Bischoff nicht erfüllt hat, bleibt für mich eine ungeklärte Frage.
idea: War es eine falsche Prophetie?
Leber: Über die wahren Zusammenhänge möchte ich kein abschließendes Urteil fällen. Vielleicht hat Stammapostel Bischoff etwas falsch gedeutet, oder es wurden Bedingungen genannt, die wir nicht kennen.
Kein Dogma
idea: Bischoff hat seine Botschaft in Predigten ständig wiederholt!
Leber: Das Thema ist kein Dogma mehr, jeder kann sich sein eigenes Urteil darüber bilden.
idea: Bis zur Gründung der Neuapostolischen Kirche im 19. Jahrhundert gab es über 1.700 Jahre keine Apostel. Warum haben die Apostel der Urgemeinde das Apostelamt nicht weitergegeben?
Leber: Das Evangelium mußte zunächst einige Jahrhunderte verbreitet werden, so daß das Christentum weltweite Bedeutung bekam. Dafür war das Apostelamt nicht notwendig. Es ist nach unserem Verständnis notwendig zur Bereitung der Brautgemeinde.
idea: Jahrhundertelang gab es also keine Versiegelung (gemeint ist das Handauflegen) durch Apostel. Warum soll sie mit der Gründung Ihrer Kirche plötzlich notwendig sein?
Leber: Wir glauben, daß die Zeit, in der die Braut Christi bereitet werden soll, gekommen ist. Dieser Gedanke ist im Lauf der Geschichte bei vielen in Vergessenheit geraten. Hierzu bedarf es der besonderen Kraft des Heiligen Geistes. Diese wird in der Versiegelung durch Handauflegung der Apostel vermittelt, um die Brautgemeinde für die Wiederkunft Jesu zu bereiten.
idea: Die Taufe allein reicht also nicht aus?
Leber: Durch die Taufe wird der Mensch zum Christen. Sie und die heilige Versiegelung zusammen bilden die Wiedergeburt eines Menschen – beide Sakramente sind notwendig. Hierin sehen wir den Mehrwert unseres Glaubens.
idea: Den Heiligen Geist bekomme ich erst, nachdem mir ein Apostel die Hand aufgelegt hat?
Leber: So verstehen wir die Bibel.
idea: Dort heißt es: „Der Geist weht, wo er will“ (Johannes 3,8).
Leber: Dieses Wort besagt, daß der Heilige Geist unterschiedlich wirkt. Um aber als Braut Christi verwandelt zu werden, braucht es die Handauflegung der Apostel. Beide Aspekte müssen wir auseinanderhalten: Der Heilige Geist, als eine im Menschen wohnende Kraft, ist an die Spendung der Apostel gebunden, aber sicherlich gibt es Elemente der Wahrheit in allen Kirche[n].
idea: Wie begründen Sie mit der Bibel Ihr Amt als Stammapostel?
Leber: Petrus hatte eine herausgehobene Stellung unter den Aposteln; er war ihr Haupt und ihr Sprecher. Jesus nannte ihn einen Felsen, auf dem er seine Gemeinde bauen will (Matthäus 16,18). Zudem gab Jesus Petrus den Auftrag: „Weide meine Schafe“ (Johannes 21,17).
idea: Aber Jesus sagte nicht: „Petrus, ich setze dich als Stammapostel ein.“
Leber: Es ist unbestritten, daß Petrus die Führung der Apostel übernehmen sollte. Zweifellos war ihm damit ein besonderes Amt übergeben.
idea: Die katholische Kirche nimmt dieses Amt bereits deutlich länger für sich in Anspruch.
Leber: Unser Amtsverständnis ist ähnlich. Für uns ist die Kraft und Führung des Heiligen Geistes im Stammapostel- und Apostelamt entscheidend. Wir legen mehr Wert auf die Qualität des Amtes als auf die geschichtliche Entwicklung.
Spektakuläres darf nicht sein
idea: Die Apostel der Bibel konnten Zeichen und Wunder tun. Können Sie auch Tote auferwecken?
Leber: Die ersten Apostel waren mit besonderen Gaben ausgerüstet, um ihre Legitimation unter Beweis zu stellen. Wir meinen, daß das heute nichts Spektakuläres sein darf. Das Wirken des Apostelamtes ist heute nicht an Wunder gebunden.
idea: Worin erweist sich dann die besondere Qualität Ihres Amtes?
Leber: Im Gottesdienst und den Sakramenten. Das kann man nach außen hin schwer deutlich machen – es muß erlebt und erfahren werden!
idea: Das überzeugt mich nicht.
Leber: Die besondere Qualität des Apostelamtes liegt eben in unserem Amtsverständnis: Der Apostel spendet den Heiligen Geist, leitet die Gemeinde und bereitet die Braut für die Wiederkunft des Herrn vor. Dafür ist das Apostelamt heilsnot-wendig!
idea: Mit dem Apostelamt schieben Sie eine Zwischeninstanz zwischen Gott und den Menschen.
Leber: Die Apostel arbeiten als Diener des Herrn – dies ist der Weg, den Jesus so vorgesehen hat! Wobei ich mir auch vorstellen kann, daß es für Christen anderer Kirchen Ausnahmen geben kann. Ich leite das grundsätzlich am Beispiel vom Schä-cher am Kreuz ab, der ohne Taufe und Versiegelung in den letzten Augenblicken seines Lebens bei Jesus Gnade gefunden hat.
idea: Haben Mitglieder Ihrer Kirche eigentlich Heilsgewißheit?
Leber: Mit der Versiegelung ist ihnen ein Weg eröffnet für den Tag der Wiederkunft Christi.
idea: Aber sie wissen nicht, ob sie gerettet sind?
Leber: Nein, ein Blankoscheck ist die Versiegelung nicht.
idea: Dann bleibt ja immer die Angst, vielleicht doch nicht zu den Erwählten zu gehören!
Leber: Nein, wir betonen immer die frohe Botschaft von der Wiederkunft Christi. Aber es ist auch notwendig, alles zu versuchen, in unserer Glaubenslehre zu leben, und alles zu tun, um dem göttlich[en] Anspruch zu genügen.
idea: Sie setzen Ihre Mitglieder unter einen ungeheuren Druck, genügend Werke zu leisten, um gerettet zu werden!
Leber: Nicht durch Werke werden wir gerettet, sondern durch die Gnade Gottes! Für uns ist aber klar, daß die Nachfolge Jesu darin offenbar wird, daß man den Aposteln nachfolgt.
idea: Inzwischen amtieren weltweit 360 Apostel. Warum nicht 12?
Leber: Warum 12? Auch die Bibel kennt mehr als 12. Bei der großen Zahl an Versiegelungen in aller Welt wäre die Arbeit praktisch auch nicht anders zu bewältigen.
idea: Im Katechismus Ihrer Kirche heißt es: „In der Neuapostolischen Kirche wird das von Jesus begonnene Erlösungswerk durch die von ihm gesandten Apostel vollendet.“ Ist das Erlösungswerk Jesu etwa unvollständig?
Leber: Diesen Satz würden wir heute nicht mehr so formulieren. Natürlich ist Jesu Opfer am Kreuz vollständig! Noch nicht abgeschlossen ist hingegen die Vorbereitung der Braut auf die Wiederkunft des Herrn. Sie kommt erst durch die Apostel zur Vollendung.
idea: Die Neuapostolische Kirche hat keine theologischen Ausbildungsstätten. Warum?
Leber: Das spontane Wirken des Heiligen Geistes stand bei uns immer im Vordergrund. Eine theologische Ausbildung galt dafür eher als hinderlich. Das sehen wir heute nicht mehr so.
idea: Fernsehen, Kino- und Theaterbesuche hat Ihre Kirche lange Zeit verboten.
Leber: Das alles ist auch bei uns längst erlaubt. Seit 1985 betonen wir die Eigenverantwortung unserer Mitglieder.
Mischehen sind möglich
idea: Aussteiger kritisieren die Gesetzlichkeit Ihrer Kirche.
Leber: Wir machen keine einengenden Vorgaben! Das sehen Sie auch daran, dass viele unserer Mitglieder inzwischen Mischehen mit Christen anderer Kirchen eingegangen sind. Viele andere Kirchen sind da viel konservativer.
idea: Warum gibt es dennoch so viele kritische Berichte von ehemaligen Mitgliedern?
Leber: Die meisten Vorwürfe sind überholt. Ich schließe nicht aus, daß von Amtsträgern hier und da auch einmal in das Leben von Mitgliedern hineinregiert wurde. Mir tut jeder leid, der mit meiner Kirche Schwierigkeiten hatte! Wenn wir die Zeit zurückholen könnten, würden wir vielleicht mit etwas mehr Liebe, Verständnis und Kritikbereitschaft handeln.
idea: Sowohl in der DDR als auch während des Nationalsozialismus hat Ihre Kirche die Nähe zum Staat gesucht. So schrieb Stammapostel Bischoff 1933 an das Wissenschaftsministerium in Berlin: „Jeder Diener und jedes Mitglied der Neuapostolischen Gemeinde ist durch die planmäßige Beeinflussung seitens der Hauptleitung in nationalsozialistischem Sinn erzogen, so daß die meisten Mitglieder der Neuapostolischen Gemeinde der NSDAP angehören oder ihr nahestehen.“
Leber: Die Kirche hat versucht, ihre Identität zu wahren und ihren Auftrag zu erfüllen. Unsere Kirche war kurz davor, verboten zu werden. Wir wollten aber den Gottesdienstbetrieb aufrechterhalten. Notgedrungen mußten wir Zugeständnisse machen.
Unpolitisches Handeln
idea: Die Christen der Bekennenden Kirche waren mutiger.
Leber: Es gab auch die Reichskirche. Wir haben den Staat weder unterstützt noch Widerstand geleistet. Das unpolitische Handeln ist schon immer ein Kennzeichen der Neuapostolischen Kirche gewesen.
idea: Seit fünf Jahren führt die Neuapostolische Kirche Gespräche mit Vertretern der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK). Woher kommt das Interesse?
Leber: Wir haben über Jahrzehnte in einer selbst gewählten Isolation gelebt. Es war für uns zum Beispiel lange Zeit unvorstellbar, idea ein Interview zu geben. Inzwischen haben wir unsere Distanz gegenüber anderen Christen aufgegeben. Wir wollen die Gemeinsamkeiten unseres Glaubens stärker betonen und freuen uns über den Dialog.
idea: Was können Sie von anderen Kirchen lernen?
Leber: Sehr viel! Wir sind nur eine kleine, bescheidene Laienkirche und sind letztlich auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse der anderen angewiesen. In ethischen und gesellschaftlichen Fragen können wir vieles übernehmen. Wir profitieren auch von Missionaren, die in viele Länder das Christentum gebracht haben. Da ist grandiose Arbeit geleistet worden! Wo es keine christliche Grundlage gibt, da kriegen auch wir kein Bein auf die Erde.
idea: Stehen Sie der katholischen oder den evangelischen Kirchen näher?
Leber: Die Reformation hat uns enorm genutzt. Ohne sie hätte sich unsere Kirche kaum entwickeln können. Vom Amtsverständnis stehen wir jedoch der katholischen Kirche näher.
Wir wollen in die ACK
idea: Wollen Sie in die ACK aufgenommen werden?
Leber: Zweifellos ja! Aber das hängt ja nicht nur von uns ab.
idea: In wieviel Jahren scheint Ihnen eine Aufnahme realistisch?
Leber: Das wird noch viel Zeit erfordern. Beispielsweise haben die Adventisten für diesen Schritt mehr als 80 Jahre gebraucht.
idea: Aus Sicht der ACK müßten Sie dafür beispielsweise die Lehre von der Heilsnotwendigkeit des Apostelamtes aufgeben.
Leber: Dann dürften auch die Baptisten aufgrund ihres Taufverständnisses nicht Mitglied der ACK sein. Ganz zu schweigen von der katholischen Kirche, die sich als alleinige Kirche versteht. Für eine Mitgliedschaft werden wir die Lehre vom Apostelamt auf keinen Fall aufgeben.
idea: Vielen Dank für das Gespräch!