Theosophie

Vor 100 Jahren: Annie Besant wird Präsidentin der Theosophical Society

(Letzter Bericht: 10/2002, 315ff) Ende Januar 1907 lag der Präsident der 1875 in New York gegründeten „Theosophical Society“, Henry S. Olcott (1832-1907), im Sterben. Als seine Nachfolgerin empfahl er auf angebliche Weisung der im Okkulten wirkenden Meister hin die Blavatsky-Schülerin Annie Besant (1847-1933). Die einst römisch-katholisch erzogene und in den Kirchenväter-Schriften sehr belesene Engländerin war 1893 nach Indien gezogen und zum Hinduismus übergetreten. Bereits nach dem Tod Madame Blavatskys im Jahre 1891 hatte sie zügig die geistige Führung der Theosophical Society Adyar übernommen – jetzt endlich konnte sie Weltpräsidentin werden.

Interreligiös aufgeschlossen, hatte Besant versucht, vor allem dem Abendland das theosophische Gedankengut näherzubringen, indem sie christliche Begriffe theosophisch vereinnahmte. Auf diese Weise kam es unter ihrer geistigen Führung wenige Jahre nach dem Abscheiden Blavatskys zu einer regelrechten „Neo-Theosophie“, die zentrale Fragen des christlichen Gottesbildes aufgriff. Vor allem zwei Bücher markierten die positionellen Korrekturen: „The Ancient Wisdom“ (1897), zu Deutsch: „Uralte Weisheit“ (1950), und „Esoteric Christianity“ (1901), zu Deutsch: „Esoterisches Christentum“ (1903).

Ab der Jahrhundertwende wurde sie zu einer Vorkämpferin für die indischen Reformbewegungen – und 1917 sogar als erste Frau zur Präsidentin des indischen Nationalkongresses gewählt. Als sie 1933 starb, begannen gerade einige theosophische Ideen im deutschen Nationalsozialismus Früchte zu tragen.

Unter „Theosophie“ verstand Besant eine in allen zivilisierten Ländern existente „Weisheitstradition“, die von der modernen „Theosophischen Gesellschaft“ lediglich systematisiert und von unwesentlichen Bestandteilen gereinigt worden sei. Zu ihr zähle neben der „Reinkarnation“ in erster Linie die Lehre von der Einheit Gottes und seiner trinitarischen – aber eben monistisch interpretierten – Manifestation. Auch in Kosmologie und Anthropologie tauchte von daher die Dreizahl bei Besant wiederholt auf: In drei Welten bewege sich der Mensch, dessen natürliche Identität mit Gott für sie pantheistisch feststeht: „Der Mensch ist eine Spiegelung des geoffenbarten Gottes und darum dem Grunde seines Wesens nach eine Dreifaltigkeit; sein inneres, wirkliches Selbst ist ewig und eins mit dem Selbst des Weltalls.“ In drei Körpern bewege er sich evolutiv voran, nämlich im mentalen, im astralen und im physischen. Das Christus-Wesen, den Logos, deutete Besant als emanatorische Größe, die sich unter anderem, aber keineswegs ausschließlich in Jesus verkörpert habe.

In Deutschland war seit 1902 Rudolf Steiner Generalsekretär der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft. Von Besant wurde er in die von ihr geleitete „Esoterische Schule“ aufgenommen. Diese Aufnahme aber war mit einem Eid verbunden gewesen, der in die Worte mündete: „Ich anerkenne Annie Besant ... als Chef dieser Schule unter der Leitung der Meister und als ihren Abgesandten, den sie ernannt haben, um die Ziele zu erreichen“.

Die von daher geforderte und erklärbare Loyalität Steiners erhellt, weshalb er gegen seine Überzeugung von der Einmaligkeit der Verkörperung das Logos in Jesus meist so tat, als stehe das Christentum gleichwertig in der Reihe der anderen religiösen Traditionen da.

Unmittelbar nach Präsident Olcotts Tod zeigte Steiner sich verstimmt darüber, dass Besant unter Verwendung okkultistischer Argumente alles dafür tat, um sich von vornherein die Anwartschaft auf die Nachfolge zu sichern. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Steiner sich – auch wenn er es offiziell leugnete – damals selbst Hoffnungen auf die Präsidentschaft machte.

Ihm war klar, dass es hier um einen Richtungskampf innerhalb der Theosophical Society ging. In dieser Kampfzeit zeigte er nun doch unübersehbar Flagge. So machte er bereits in einem Vortrag am 17. Februar 1907, dem Todestag Olcotts, ganz deutlich, dass für ihn Jesus der Christus „der größte der Religionslehrer“ sei – ein offener Affront gegen die überkommene Toleranzdoktrin der Theosophischen Gesellschaft! Einige Wochen später nannte er Christus den „höchsten inkarnierten Gott“, hielt Vorträge über die „weltgeschichtliche Bedeutung des am Kreuze fließenden Blutes“ und betonte unüberbietbar „die kosmische Bedeutung dessen, was sich auf Golgatha vollzogen hat“, indem er herausstellte, „daß mit der Erscheinung des Christus Jesus sich die ganze geistige Konfiguration unseres Erdenplaneten geändert“ habe und das Kreuzesereignis in seinen kosmischen Auswirkungen „noch heute nicht vollendet“ sei. Damit traten in diesem kritischen Augenblick erstmals erkennbare Konturen der „Anthroposophie“ zutage, wie sie sich dann Ende 1912 von der Theosohischen Gesellschaft abspaltete.

Überdies kämpfte Steiner kurz vor der Wahl mit dem Argument, dass Präsidentschaft und Leitung der „Esoterischen Schule“ keinesfalls in einer Hand liegen sollten – obgleich er Entsprechendes gegen Ende seines Lebens im Rahmen seiner „Anthroposophischen Gesellschaft“ selbst vollbringen würde. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen hatte er mit seinem Drängen bei Besant Erfolg: Er brauchte die „Esoterische Schule“ künftig nicht mehr als Teil der ihrigen führen, sondern durfte sie ganz gemäß der abendländisch-christlichen Ausrichtung gestalten. Im Hintergrund der Großzügigkeit Besants stand neben einer gewissen Veranlagung zur Nachgiebigkeit taktisch ihre Bewerbung um die Präsidentschaft; denn zur Wahl benötigte sie auch die Stimmen der deutschen Sektion. Dazu mochte ihr Eindruck gekommen sein, dass sie vom Christentum weniger verstand als Steiner, der sich also fortan mehr um die gerade auf diesem Sektor Ansprechbaren kümmern sollte.

Besant wurde dann zwar zur Präsidentin gewählt, aber Steiner sah sich nun im Wesentlichen unabhängig. Gleich während seines ersten Vortrags in der „westlichen“ Esoterischen Schule machte er seine okkulte Sichtweise der Entwicklung rückhaltlos deutlich: „Bisher waren beide Schulen vereint in einem großen Kreise unter gemeinsamer Leitung der Meister. Nun aber hat sich die westliche Schule selbständig gemacht und es bestehen nunmehr zwei einander gleichgestellte Schulen... Die östliche Schule wird von Mrs. Besant geleitet, und wer sich in seinem Herzen mehr zu ihr hingezogen fühlt, der kann nicht länger in unserer Schule bleiben.“ Steiner erläuterte, seine Schule werde intern von den beiden Meistern Jesus und Christian Rosenkreuz geleitet, während die östliche Schule unter der inneren Führung der beiden Meister Koot Hoomi und Morya stehe. Dass es freilich mit der angeblichen Gleichwertigkeit der beiden Schulen in Steiners Sicht nicht weit her sein konnte, beweist seine Äußerung: „Die absterbenden Rassen im Osten brauchen noch die orientalische Schulung. Die westliche Schulung ist die für die Rassen der Zukunft.“

Unschwer war vorauszusehen, dass die beiden Esoterischen Schulen auf Grund ihres Selbstverständnisses einander kaum vertragen, sondern vielmehr befehden würden. Hatte Steiner die östliche, durch Besants Mitarbeiter Charles W. Leadbeater (1854-1934) dominierte Schule in ein kritisches Licht gerückt, so war alsbald aus dem engsten Umfeld Leadbeaters zu hören, die beiden Schulen würden sich niemals verständigen können; und überhaupt sei die alleinige „wissenschaftliche Esoterik“ auf Seiten der östlichen Schule zu finden. So wurde die Wahl Besants zur Präsidentin vor 100 Jahren zu einem entscheidenden, mittel- und langfristig äußerst folgenreichen Vorgang in der Geschichte der modernen Theosophie und Esoterik.


Werner Thiede, Regensburg