VPM und Zürcher Schule

Der „Verein zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis“ (VPM) wurde 1986 gegründet und war die Nachfolgeorganisation der „Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle“, die auf Friedrich Liebling (1893 – 1982) zurückgeht. Liebling war ein in Galizien (heute Polen) geborener Jude. 1913 kam er nach Wien und diente bis 1918 als Kriegsfreiwilliger der österreichischen Armee, später wurde er Pazifist. Als Zeichen seiner Lossagung vom Judentum legte er nach dem Ersten Weltkrieg seinen Vornamen Salomon ab und nannte sich Friedrich. Mit seiner Familie floh er vor dem Nationalsozialismus in die Schweiz. Autodidaktisch beschäftigte er sich mit der Individualpsychologie Alfred Adlers und verband sie mit sozialistischen und anarchistischen politischen Ideen.

In den 1950er Jahren zog Liebling nach Zürich, wo er 1955 zusammen mit seinem aus Wien stammenden Pflegesohn Josef Rattner (geb. 1928) die „Psychologische Lehr- und Beratungsstelle Zürich“ gründete, die später von ihm selbst „Zürcher Schule“ genannt wurde. Hauptarbeitsgebiete waren Psychotherapiegruppen (Großgruppentherapien, s. u.), die Bildung eines Netzwerkes für Erzieher und Jugendliche sowie gesundheitspolitische Aktivitäten. Rattner, der nach Lieblings Vorstellungen sein Nachfolger werden sollte, entfremdete sich in den 1960er Jahren zunehmend von seinem Mentor. Ein Forschungsauftrag in Berlin bot ihm 1967 einen geeigneten Vorwand für eine räumliche Trennung, ohne mit Liebling brechen zu müssen. 1968 eröffnete er dort einen „Arbeitskreis für Psychotherapie“ und 1976 ein eigenes Psychotherapie-Institut, an dem bis heute Großgruppentherapien durchgeführt werden, die jedoch entgegen der ursprünglichen Intention nur noch nicht öffentlich stattfinden. Liebling überhäufte seinen Pflegesohn später mit harscher Kritik und erkannte dessen Berliner Großgruppenprojekt nicht an.

Während der 68er-Bewegung wurde Liebling trotz vorgerückten Alters mit seiner Lehr- und Beratungsstelle in Zürich als Begründer einer Therapieschule bekannt, die bis nach Deutschland hineinwirkte. In dem Klima studentischen Aufbruchs gelang es Liebling dank seiner charismatischen Ausstrahlung, für seine Verbindung von psychologischer und politischer Utopie eine junge Anhängerschaft hauptsächlich mit akademischer Bildung zu gewinnen. In dieser Atmosphäre wurde die Vision von der idealen Gemeinschaft, die durch eine Verbindung von persönlicher Bewusstseinsveränderung (Heilung des „Gemeinschaftsgefühls“) und politischem Bewusstsein entstehen sollte, zur Lebensorientierung vieler dieser jungen Menschen. Man glaubte, durch Lieblings Großgruppentherapien fähig zu werden, sich von der seelischen Deformation durch Staat, Religion und Erziehung zu befreien und die eigentlich vorhandene, aber verschüttete Gleichheit und Friedlichkeit des Menschen wieder freizusetzen. Ziel war die Entstehung eines libertären Kommunismus.

Die Bewegung wurde von der Begeisterung für das gemeinsame Ziel und der Verehrung für Friedrich Liebling getragen. Sie konzentrierte sich auf zwei Schwerpunkte: zum einen auf die eigene Befreiung durch eine – der Idee nach – lebenslange Therapie und Selbsttherapie, zum anderen auf die Förderung von Kindern und Jugendlichen durch eine an Wissenschaft und psychologischer Aufklärung orientierten Erziehung. Von den späten 1960er bis in die 1980er Jahre war die Zürcher Schule die größte psychologische Bewegung der Schweiz mit zuletzt gut 3000 Anhängern im In- und Ausland. Der Dogmatismus Lieblings und seine umstrittenen Therapiemethoden führten allerdings kurz vor seinen Tod zu heftigen Auseinandersetzungen vor allem mit der kritischen Züricher Presse, die er mit juristischen und propagandistischen Mitteln einzuschüchtern suchte.

Nach Lieblings Tod im Jahr 1982 wurde die Aktiengesellschaft „Psychologische Lehr- und Beratungsstelle Friedrich Liebling AG“ gegründet. Die Töchter Lieblings setzten drei langjährige Schüler ihres Vaters ein, um seine Arbeit fortzuführen. Als Leiterin wurde Annemarie Buchholz-Kaiser (1939 – 2014) bestimmt. Allerdings gab es bei der ersten größeren Zusammenkunft der Gruppe nach Lieblings Tod ein Misstrauensvotum gegen die neue Leitung. Jutta Dierks, die Sprecherin der gegnerischen Fraktion, provozierte mit der Frage: „Warum drei, warum nicht fünf?“ (VPM 1991, 261). Nach einem Teilnehmerbericht wurde der Konflikt mit Mitteln persönlicher Diffamierung ausgetragen und endete damit, dass die Gruppe um Dierks isoliert wurde (Boller 2007, 184). Seit vielen Jahren betreibt die pensionierte Lehrerin Dierks eine eigene psychologische Lehr- und Beratungsstelle in Böblingen.

Buchholz-Kaiser übernahm sowohl die Leitung der Lehr- und Beratungsstelle als auch die Supervision der übrigen Therapeuten und Berater, obwohl sie außer der zwanzigjährigen Ausbildung durch Friedrich Liebling, auf die sie immer verwies, über keine klinisch-therapeutischen Qualifikationen verfügte (VPM 1991, 239). Entscheidend für die Zukunft der Zürcher Schule wurde die Frage, welchen Kurs die neue Führung einschlagen würde. Ein Teil der Anhänger wollte die Zürcher Schule aus ihrer fachlichen Isolierung herauslösen und sich um anerkannte Ausbildungen und Abschlüsse bemühen. Das hätte aber gleichzeitig eine Abkehr von den utopischen Idealen Lieblings bedeutet. Buchholz-Kaiser kritisierte die Vorschläge einer fachlichen Öffnung als Verrat an der Vision des Gründers. Die Alternative bestand darin, die Utopie durch Schließung der Gruppengrenzen zu bewahren. Nach erbitterten Streitigkeiten und Trennungen folgte schließlich die Mehrheit dem letzteren, „fundamentalistischen“ Kurs. Um Buchholz-Kaiser konstituierte sich 1986 der „Verein zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis“ (VPM). Nach der Übernahme der Zürcher Schule durch die Gruppe um Buchholz-Kaiser formalisierte diese das bestehende therapeutische Konzept, um das begonnene Werk Lieblings fortzusetzen.

In den frühen 1990er Jahren weiteten sich die Auseinandersetzungen mit Kritikern im Raum Zürich zu einer regelrechten Prozesslawine aus. In einem auffallenden Gegensatz zu Friedrich Liebling begann der VPM, vor der linken Unterwanderung des Erziehungswesens und der Gesundheitspolitik zu warnen. In Sachen Drogenpolitik entwickelte der VPM rechtsbürgerliche Positionen. Bei den „Mut zur Ethik“-Tagungen verbanden sich VPM-Psychologen mit ausgeprägt konservativen Christen. Kritiker erklärten diese dem VPM selbst nicht bewusste Wende von den religionskritischen, anarchistisch-linkssozialistischen Anfängen zu den rechtsbürgerlichen, religiös-konservativen Positionen der späteren Zeit mit der ausgeprägten Autoritätsgläubigkeit der Zürcher Schule und des späteren VPM: „Der Weg, den die Leitung einschlägt, wird zum rechten Weg für alle“ (Schmid 2000).

Im Jahr 2002 gab der VPM offiziell seine Auflösung bekannt. Es gibt jedoch Hinweise dafür, dass einzelne Anhänger weiterhin organisiert aktiv sind. So gab der VPM die Zeitschrift „Zeit-Fragen“ im gleichnamigen Verlag heraus, die bis heute als Print- sowie als Web-Projekt existiert (www.zeit-fragen.ch).

Lehre und Praxis

Charakteristisch für die Lehre Lieblings war eine Mischung aus tiefenpsychologischen und politischen Emanzipationshoffnungen. Zu den inneren und äußeren Gegenkräften, die den Menschen an seiner Entfaltung hinderten und die durch psychologische Menschenkenntnis zu überwinden seien, gehörte bei Liebling neben Nationalismus, Rassismus, Sexismus und Kapitalismus auch die Religion. Sie wurde von ihm mit Aberglauben gleichgesetzt und als Gegenmacht der Wissenschaft verstanden.

Liebling und später der VPM waren davon überzeugt, über die allein richtige, befreiende wissenschaftliche und psychologische Menschenkenntnis zu verfügen (VPM 1991, 390). Seine angeblich verlässliche, weil wissenschaftliche, Menschenkenntnis bestand aus eigenwilligen Interpretationen der Individualpsychologie nach Alfred Adler. Danach sind alle Menschen unbewusst seelisch geschädigt worden – durch eine unwissende und unaufgeklärte Erziehung. Diese Deformationen könnten durch das befreiende Wissen des VPM überwunden werden. Ziel sei es, das eigentlich zum Menschen gehörende „Gemeinschaftsgefühl“ wieder herzustellen und damit allem Übel des persönlichen und politischen Lebens zu entfliehen. Ziel des Vereins war die Schaffung einer intakten Gesellschaft aus seelisch gemeinschaftsfähig gewordenen Individuen.

Das Neue an der von Friedrich Liebling praktizierten Therapie bestand darin, dass die Sitzungen in großen Gruppen mit bis zu 100 Teilnehmenden stattfanden. Die von Liebling in Zürich und später von Rattner in Berlin durchgeführten Großgruppentherapien waren ein Novum in der deutschsprachigen Psychotherapie. Hier agierte der Therapeut subtil durch die Steuerung der Gruppendynamik. Berichte persönlicher Erlebnisse und Bekenntnisse einzelner Gruppenmitglieder konnten – ähnliche Prozesse sind aus religiösen Großgruppen bekannt – einzigartige „seelennahe“ Gemeinschaftserfahrungen auslösen. Das intensive Gemeinschaftsgefühl, das sich in der therapeutischen Gruppe einstellte, wurde später sogar zum Maßstab seelischer Gesundung. Die intensive Stimmung in Lieblings Therapiegruppen und die suggestive Kraft seiner Persönlichkeit führten zu einer fast grenzenlosen Ergebenheit der Schüler gegenüber ihrem „Meister“.

Einschätzung

Da die Entscheidung über den Stand, den die Mitglieder in der Umsetzung ihrer Menschenkenntnis (angeblich) erreicht hatten, bei der Führung lag und von der Loyalität zur Führung abhing, muss der VPM als vereinnahmend bezeichnet werden. Als ein weiteres problematisches Merkmal der Therapiegruppen ist zu nennen, dass die Trennung zwischen dem therapeutischen Prozess und der Lebenswelt des Klienten aufgehoben wurde. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer entwickelten untereinander Freundschaften und lebten teilweise in Wohngemeinschaften zusammen. Damit wurde ein Grundprinzip der psychotherapeutischen Berufsethik, die Abstinenzregel, bewusst außer Kraft gesetzt.

Der VPM ist als eine ideologische Gemeinschaft mit Emanzipations-Utopien einzustufen. Sein starkes Sendungsbewusstsein speist sich aus der Überzeugung, die allein gültige „Menschenkenntnis“ auf individualpsychologischer Grundlage zu besitzen. Allerdings wurde das von Adler postulierte „Gemeinschaftsgefühl“ sozialutopisch überhöht und damit in sein Gegenteil verkehrt (Utsch 2007). Die Interpretationen des individualpsychologischen „Gemeinschaftsgefühls“ durch Liebling und Kaiser wurden von der Fachwelt ignoriert. Die von Liebling und Rattner praktizierten Großgruppentherapien wurden wegen ihrer hierarchischen Strukturen kritisiert und weil dabei emotionale Abhängigkeiten gefördert würden. Die Idealisierung der Gruppe verwandle sie in eine „totale Institution“, die absolute Anpassung und die Aufgabe der bisherigen Identität sowie absolute Loyalität fordern würde (Wiegand 2002).

Aus diesen Gründen haben sich sowohl der Berufsverband Deutscher Psychologen (BDP) als auch die „Deutsche Gesellschaft für Individualpsychologie“ (DGIP) deutlich vom VPM distanziert: „Der BDP hält an seiner Einschätzung fest, dass es sich beim VPM um einen Psychokult handelt, der durch seinen Namen bei Behörden, in Fachkreisen und der allgemeinen Öffentlichkeit den Eindruck einer psychologisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaft zu erwecken sucht und sich zudem nach außen den Anschein einer karitativen Organisation gibt, die Menschen in persönlichen Schwierigkeiten oder bei persönlichen Nöten mit psychologischem Rat und mit psychotherapeutischer Behandlung Hilfe leistet. Diese sogenannte psychotherapeutische Betätigung des VPM entbehrt jedoch nach Auffassung des BDP jedweder fachlichen Grundlage“ (Report Psychologie 8/1994, 19). „Der Bundesvorstand der DGIP distanziert sich von den Aktivitäten und psychologischen Auffassungen des VPM. Dieser beruft sich zwar in seiner Theoriebildung ebenso wie die DGIP auf die Individualpsychologie Alfred Adlers. Der sektenhafte Anspruch des VPM und seiner Organisationen auf eine Art Definitionsmonopol steht aber im krassen Widerspruch zur wissenschaftlichen Orientierung der Individualpsychologie“ (Presseerklärung der DGIP, in Auszügen publiziert in: Psychologie Heute 5/1994, 19).

1996 legte die Bundesregierung einen Entwurf für eine Informationsbroschüre über so genannte Sekten und Psychogruppen vor, in dem unter anderem auch der VPM thematisiert wurde. Dagegen wehrte sich der Verein mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Veröffentlichung der Broschüre. Das Oberverwaltungsgericht Münster wies diesen Antrag des VPM u. a. wie folgt ab: „Vor dem Hintergrund der gesamten vorstehenden Ausführungen erweist sich auch die zusammenfassende Einschätzung in der geplanten Broschüre ..., ‚für den einzelnen besteh(e) die Gefahr, dass eine tiefe Abhängigkeit zu der Gruppe entsteht, der individuelle Lebenslauf den Gruppennormen und dem „Gemeinschaftsgefühl“ angepasst wird und so eine zunehmende Entfremdung zum bisherigen sozialen und persönlichen Umfeld entsteht‘, bei summarischer Prüfung als sachliches Werturteil, das auf einem vertretbar gewürdigten Tatsachenkern beruht. Das oben näher beschriebene Konzept des VPM einer Steigerung des Gemeinschaftsgefühls, der Absolutheits- und Heilsanspruch sowie die subtilen Macht- und Kontrollmechanismen lassen die Warnung der Antragsgegnerin [gemeint ist hier die Bundesregierung], es bestehe die ‚Gefahr‘ der Gruppenanpassung und Abhängigkeit sowie der Entfremdung, als nicht unsachlich erscheinen. Eine solche Gefährdung kommt nicht nur für Mitglieder des VPM, sondern für alle in Betracht, die an den Aktivitäten des VPM und seiner Mitglieder teilnehmen. Hierzu zählen nicht nur (junge) Erwachsene, sondern auch Kinder und Jugendliche, die ebenfalls eine Zielgruppe des VPM sind“ (Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15. Mai 1996, Az. 5 B 168/94, 18).

Durch die Art, wie der VPM vor allem mit Andersdenkenden umging, verstieß er gegen die Verpflichtung zur offenen Diskussion und zur Konsensbildung. Damit ist er ein typisches Beispiel für eine Gruppe, die im Volksmund „Psychogruppe“ oder „Psychosekte“ genannt wird.


Michael Utsch, 8.10.2014


Quellen

Gerda Fellay, Friedrich Liebling. Leben und Werk, Sitten 2010
Psychologische Lehr- und Beratungsstelle Friedrich Liebling (Hg.), Friedrich Liebling 1993 – 1982 zum Gedenken, Zürich 1982
Josef Rattner, Friedrich Liebling und die Großgruppentherapie, in Alfred Lévy/Gerald Mackenthun (Hg.), Gestalten um Alfred Adler: Pioniere der Individualpsychologie, Würzburg 2002, 175-202
VPM (Hg.), Zur Theorie und Tätigkeit des VPM, Zürich 1990
VPM (Hg.), Der VPM. Was er wirklich ist. Tatsachen, Hintergründe, Analysen, Zürich 1991


Kritische Literatur

Peter Boller, Mit Psychologie die Welt verändern. Die „Zürcher Schule“ Friedrich Lieblings und die Gesellschaft (1952 – 1982), Zürich 2007
Ingolf Efler/Holger Reile, VPM – die Psychosekte, Hamburg 1995
Hansjörg Hemminger, VPM – der „Verein zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis“ und Friedrich Lieblings „Zürcher Schule“, München 1994
Steffen Rink, VPM, in: Michael Klöcker/Udo Tworuschka (Hg.), Handbuch der Religionen, IX-8, München 1997
Georg Schmid, VPM, www.relinfo.ch/vpm/info.html (Abruf: 3.10.2014)
Michael Utsch, Immanente und transzendente Deutungen des Gemeinschaftsgefühls, in Ulrike Lehmkuhl/Heiner Sasse/Pit Wahl (Hg.), Wozu leben wir? Sinnfragen und Werte heute, Göttingen 2007, 165-188
Ronald Wiegand, Die psychotherapeutische Großgruppe als Gegenwelt, in: Gerd Lehmkuhl (Hg.), Theorie und Praxis individualpsychologischer Gruppenpsychotherapie, Göttingen 2002, 355-373