Kai Funkschmidt

Waldorfschule feiert 100-jähriges Jubiläum

Im Jahr 2019 feiert die weltweite Waldorfschulbewegung ihr hundertjähriges Jubiläum. Der sozial engagierte Unternehmer und Rudolf-Steiner-Anhänger Emil Molt (1876 – 1936) wollte eine Schule für die Kinder der Arbeiter seiner Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik gründen. Zwischen Idee und Schulgründung verging nur ein gutes Jahr, nachdem Molt den Gründer der Anthroposophie für seine Idee hatte interessieren können. Am 7. September 1919 wurde die erste „Freie Waldorfschule“ im Stuttgarter Stadtgartensaal von Rudolf Steiner feierlich eröffnet. Das Lehrerkollegium, bestehend aus jungen Anthroposophen – Durchschnittsalter 32 Jahre – war kurz vorher von Steiner zwei Wochen lang „impulsiert und geschult“ worden. Ein Lehrplan wurde erst nach und nach entwickelt. Die angesichts der Kürze der Zeit erstaunlich umfassenden inhaltlichen Vorgaben, die Steiner für das Unternehmen gemacht hatte, gelten bis heute. Sie ergaben sich nach Steiners Angaben aus seinen „wissenschaftlichen“ Einsichten in die „Akasha-Chronik“, ein übernatürliches „Weltgedächtnis“, in das er als Initiierter Einsicht besaß und dessen Erkenntnisse er allein vermittelte. Große Teile der „Akasha-Chronik“ sind dabei aus der Theosophie übernommen, zu der Steiner vorher jahrelang in leitender Funktion gehört hatte.

Die Jubiläumsfeierlichkeiten 2019 sind dezentral geprägt, eine Übersicht über die Termine findet sich auf der Jubiläumsseite www.waldorf-100.org  und im Jahresbericht 2018 des Bundes der Freien Waldorfschulen.1 Dazu gehören z. B. eine internationale Schülertagung (23.-27.4.2018 in Dornach, Schweiz), ein Kongress mit dem Titel „Am Anfang steht der Mensch“ (7.-10.9.2019 in Stuttgart) und Schülertagungen in Thailand und Argentinien sowie über das Jahr verteilt zahlreiche weitere Aktivitäten (Staffelläufe, Schülertreffen, Bienentagung, Kulturveranstaltungen). All das wird sicher dazu beitragen, die Anliegen der Waldorfpädagogik noch bekannter zu machen. Im September 2019 folgen große öffentlichkeitswirksame Feierakte in Stuttgart und Berlin.

Für Rudolf Steiner (1861 – 1925) war die Waldorfpädagogik nur einer von mehreren Pfeilern zur Verbreitung seiner Weltanschauung in der Gesellschaft. Dazu gehören auch die Anthroposophische Medizin und die biologisch-dynamische Landwirtschaft (Demeter), die beide ähnlich erfolgreich wurden. Auch auf diesen Gebieten reichen Verbreitung und gesellschaftlicher Einfluss der Anthroposophie weit über die Mitgliedschaft der kleinen Anthroposophischen Gesellschaft hinaus. Die Bewegung ist durch die Konkretisierungen, die Steiner aus seiner Weltanschauung ableitete, viel erfolgreicher als die Theosophie, aus der er viele Ideen seines Systems übernommen hatte.

Bei ihrer Entstehung passte die Anthroposophie in die Sehnsüchte der Gärungszeit nach dem Weltkrieg. Allenthalben verbreitet war das Gefühl „einer zusammenstürzenden Ordnung“, das sich widersprüchlich mit eschatologischen Hoffnungen auf eine „neue Zeit“ paarte, die in der Jugend- und Lebensreformbewegung ebenso wie in vielen politisch oder religiös motivierten Gruppen loderten. Hier zogen exzentrische Prediger herum, die als „Inflationsheilige“ bekannt wurden, dort scharten Erleuchtete in Siedlungen Anhänger um sich. Ebenso wie die beiden großen politischen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts träumten viele von ihnen den Traum vom „neuen Menschen“, der eine neue Weltordnung schaffen werde. Auch den Gedanken des inspirierten Führers hatten viele dieser Strömungen gemeinsam. Die Gründung von Reformschulen zur Formung dieses neuen Menschen lag ebenfalls im Geist der Zeit. Die Anthroposophie war in dieser Gemengelage einer von vielen Versuchen zur Schaffung eines „neuen Menschen“. Das meiste davon verschwand bald wieder, die Anthroposophie blieb und blühte, aufgrund von Steiners Willen und Begabung zur Umsetzung praktischer Gestaltungsideen.

Vor dem Hintergrund dieser Ursprungszeit wird sichtbar, wie hoch damals wie heute die Ziele der Waldorfpädagogik gesteckt sind. Immer schon geht der Anspruch weit über das einzelne Kind hinaus: „Learn to change the world“ heißt das Jubiläumsmotto. Die Waldorfpädagogik will mehr sein als einer von vielen reformpädagogischen Ansätzen; sie sieht sich als Teil einer umfassenden Welterneuerung auf anthroposophischer Grundlage.

Zahlen 2019 – internationale Verbreitung

Zurzeit profitieren Waldorfschulen zusätzlich vom allgemeinen Trend zu Privatschulen und verzeichnen starke Zuwächse. 2019 gibt es in Deutschland nach eigenen Angaben 245 Schulen mit knapp 90 000 Schülern, das sind zehn Schulen mehr als im Vorjahr und gut 1 Prozent aller Schüler an allgemeinbildenden Schulen. Sie werden von 9000 Waldorflehrern unterrichtet, die an elf eigenen Seminaren ausgebildet werden. Dabei ist die Zahl der Waldorfschulen stärker gestiegen als die Zahl ihrer Schüler, das heißt, die Schulen werden kleiner und Neugründungen finden häufiger auf dem Land statt, wodurch das Angebot breiter gestreut ist als früher: Fast 60 Prozent aller Schüler haben eine Waldorfschule in ihrem Kreis oder ihrer Stadt, fast alle könnten eine im Nachbarkreis erreichen. Die Waldorfschule ist damit in Deutschland die erfolgreichste Weltanschauungsschule überhaupt. Allerdings wird der Begriff „Weltanschauung“ von der Anthroposophie ebenso wie von ihren Schulen abgelehnt. Man versteht das eigene Konzept als eines, das auf wissenschaftlichem, nicht weltanschaulichem Fundament gründet. Freilich besteht diese Wissenschaft in den Offenbarungen Rudolf Steiners und hat daher mit Wissenschaft im herkömmlichen Sinne nichts zu tun.

Das Jubiläum steht im Zeichen der Internationalität. Die Bewegung hat sich ausgebreitet: Weltweit gibt es derzeit 1100 Waldorfschulen und 2000 Kindergärten in annähernd 90 Ländern (www.waldorf-100.org). Zum Jubiläum wurde „Waldorf 100 – Der Film“ veröffentlicht, der zeigt, dass der Anspruch der Frühzeit lebendig bleibt. Er evoziert zu Beginn eine allseits verbreitete Krisenstimmung. Die Welt ist „in Schieflage“, alles verändert sich immer schneller, die Zukunft wird ungewisser und bedrohlicher. Zum einen könne herkömmliche Bildung Kinder nicht adäquat auf diese Herausforderungen vorbereiten. Das wird Eltern ansprechen, die für ihre Kinder das Beste möchten. Zum anderen spricht der Film das soziale Gewissen an, wenn er die Waldorfpädagogik auch als Versprechen einer prinzipiellen Antwort auf die Herausforderungen des Planeten präsentiert. Hier werden begeisterte Stimmen aus Waldorfschulen in vielen Sprachen und Völkern eingespielt – einerseits ein Reflex einer tatsächlichen Gewichtsverschiebung aus dem deutschsprachigen Bereich, andererseits eine Absichtserklärung. Obwohl die allermeisten Waldorfschulen nach wie vor in der westlichen Welt liegen, rückt der Film Schulen im Süden in den Vordergrund (Indien, Afrika, islamische Welt). Dabei wird mehrfach betont, dass die Waldorfpädagogik das „Authentische“ der afrikanischen, chinesischen, islamischen und anderer Kulturen aufgreife, verstärke, ja eigentlich erst so recht hervorbringe. Offen bleibt dabei, wie das möglich sein kann, obwohl der gesamten Waldorfpädagogik die prägnante und detaillierte Steiner‘sche Philosophie zugrunde liegt. Sie scheint schwer mit den religiösen und kulturellen Prägungen dieser Gesellschaften in Einklang zu bringen.

Das Bildungsprogramm

Schon die ersten Waldorfschulen waren Gesamtschulen avant la lettre und in dieser Hinsicht Pioniere. Schüler in Deutschland können in den zwölf Schuljahren alle Schulabschlüsse außer dem Abitur erlangen. Wollen sie nach dem mittleren Schulabschluss (Realschule) über den staatlich bedeutungslosen Waldorfabschluss hinaus das Abitur erlangen, so bereiten sie sich nach der 12. Klasse ein Jahr lang auf die extern abgelegte Abiturprüfung vor. Waldorfschulen werden im Schnitt zu knapp 75 Prozent staatlich finanziert, der Rest wird von den Eltern getragen. Der familiäre Hintergrund der Schülerschaft liegt daher beim sozioökonomischen Status und Bildungsniveau der Eltern über dem Bevölkerungsdurchschnitt. Angesichts dessen ist die Abiturquote von 50 Prozent vergleichsweise niedrig.

Im Waldorfkonzept ist die einzelne Schule formal unabhängig, Gründungen gehen auf örtliche Initiativen zurück. Der Dachverband „Bund der Freien Waldorfschulen“ (BdFWS) beschreibt seine Aufgabe nur als koordinierend und beratend: „Der BdFWS ist dafür da, die Erziehung zur Freiheit in der Welt zu repräsentieren und zu verteidigen und die freien Partner, die sich ihm anschließen, zu befähigen – wo nötig –, dieses Ziel praktisch zu verwirklichen.“2 Andererseits sind Steiners pädagogische Vorgaben detailliert. Dass Steiner in der Anthroposophie als letzte und abschließende Autorität rezipiert wird, schränkt die Freiheit der einzelnen Schule naturgemäß ein. Trotzdem variiert die Spürbarkeit des anthroposophischen Ansatzes in der Praxis stark von einer Waldorfschule zur anderen. Ähnlich wie bei analogen christlichen Einrichtungen finden sich in anthroposophischen Zeitschriften immer wieder Appelle zu einer Besinnung auf das spezifisch eigene Profil, also zu einer deutlicheren Betonung des Steiner‘schen Erbes und des anthroposophischen Ethos in den Waldorfschulen. Sehr viel Bedeutung kommt dem jeweiligen Lehrer zu, der mit seiner Klasse über Jahre hinweg eine feste Gemeinschaft bildet, die häufig als „Familie“ beschrieben wird.

Betrachtet man Steiners Lehre, erstaunt es, dass die Waldorfschule sich so stark als freiheitlich und am Individuum orientiert präsentieren kann. „Im Mittelpunkt steht der Mensch“, heißt es zwar allenthalben in Waldorfpublikationen, aber Steiners Weltsicht und Menschenbild sind ausgesprochen schematisch aufgebaut. Die Gesellschaft unterliegt einer „Sozialen Dreigliederung“ (Geistes-, Rechts- und Wirtschaftsleben), der Mensch ist dreiteilig (Leib – Seele – Geist) bzw. viergliedrig gedacht (physischer Leib, Ätherleib, Astralleib, das Ich als geistiger, unsterblicher Kern), es gibt drei grundsätzlich ordnende Seelenfähigkeiten (Denken, Fühlen, Wollen), denen in der Pädagogik die Förderung der kognitiven, künstlerisch-kreativen und handwerklichen Fähigkeiten entsprechen. Es gibt nach der Temperamentenlehre vier Gruppen von Kindern: lebhafte, schwermütige, leidenschaftliche und bedächtige. Die Entwicklung des Kindes findet in drei „Jahrsiebten“ statt, in denen jeweils unterschiedliche Gaben ausgeprägt werden und zu denen je eigene Sichtweisen auf Selbst und Welt gehören. Das prägt die pädagogischen Methoden in den Altersstufen: Auf die ersten sieben Jahre bis zum Zahnwechsel („Die Welt ist gut“ – Geschichten und Märchen) folgen die zwei für die Schule relevanten Phasen. Vom 8. bis zum 14. Jahr prägt sich der Ätherleib aus („Die Welt ist schön“ – kreative und handwerkliche Tätigkeiten) und in der letzten Phase der Astralleib („Die Welt ist wahr“ – kognitive Erkenntnis). All diese Schemata liegen der Waldorfpädagogik zugrunde und fließen in ihre Gestaltung ein. Vermutlich sind aber für viele Eltern bei der Schulwahl weniger solche anthroposophischen Besonderheiten ausschlaggebend als vielmehr die allgemeine ganzheitlich-alternative Ausrichtung einer Bildungswissenschaft, die sich auch im Alter von 100 Jahren noch als innovative, neue Reformpädagogik darstellt.


Kai Funkschmidt
 

Anmerkungen

  1. www.waldorfschule.de/fileadmin/downloads/Jahresberichte/Jahresbericht_2018.pdf#main-content  (Abruf: 21.1.2019).
  2. Ebd., 14.