Was Humanismus heute alles heißen kann
Das Wort Humanismus umfasst verschiedene Bedeutungen und hat im modernen Diskurs durch Instrumentalisierung und inflationären Gebrauch seine Eindeutigkeit eingebüßt. Es lässt sich bestimmen als Epochenbezeichnung (Renaissance-Humanismus), die die Zeit von der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts bis gegen Ende des 16. Jahrhunderts umfasst. Es ist ein eingeführter Fachbegriff für das Bildungsprogramm des am klassischen Altertum orientierten Gymnasiums mit der Pflege der griechischen und lateinischen Literatur und Sprache. Darüber hinaus bezeichnet das Wort verschiedene weltanschauliche Strömungen, die einzelne Anliegen des historischen Humanismusbegriffs aufnehmen. Dem christlichen Glauben bzw. den Religionen stehen humanistische Konzeptionen teils zustimmend, teils dezidiert ablehnend gegenüber. Reflexionen über das Thema Humanismus spiegeln Vielfalt und Widersprüchlichkeit religiös-weltanschaulicher Orientierungen wider.
Im Namen eines weltlichen, säkularen Humanismus (secular humanism) werden heute vor allem religions- und christentumskritische Konzeptionen vorgetragen, so z. B. von Freidenkern und Atheisten. Sie schmücken sich zunehmend lautstark mit diesem Begriff und ziehen gegen angeblich kirchliche Privilegien zu Felde: die aus ihrer Sicht unvollendete Trennung zwischen Staat und Kirche beim konfessionellen Religionsunterricht, bei den Theologischen Fakultäten, beim Kirchensteuereinzug, bei den Staatskirchenverträgen, der Militärseelsorge etc. Darüber hinaus fordern sie eine „humanistische Leitkultur“ und bieten sich als Vermittler eines humanistischen Orientierungswissens im öffentlichen Raum an. Intern streiten sie allerdings heftig darüber, was eine humanistische „Leitkultur“ beinhaltet. In einer 2007 von der Humanistischen Akademie Bayern herausgegebenen Schrift „Was heißt Humanismus heute?“ wird eine Auseinandersetzung zwischen Joachim Kahl und Michael Schmidt-Salomon dokumentiert, die fundamentale Differenzen im Verständnis eines weltlichen Humanismus offen legt. Schmidt-Salomon bezeichnet sein weltanschauliches System als „evolutionären Humanismus“. Er tritt – wie zu erwarten – gegen eine angebliche staatliche Privilegierung und Förderung der Religionen ein, die aus seiner Sicht dem Neutralitätsgebot des Staates widersprechen. Gleichzeitig skizziert er unter Berufung auf die Biowissenschaften und die Hirnforschung sein eigenes weltanschauliches Überzeugungssystem: Das menschliche Ich ist „Produkt neuronaler Prozesse“, die menschliche Freiheit eine Illusion. Geistiges beruht auf Körperlichem. Religiöses Bewusstsein geht auf „Überaktivitäten im Schläfenlappen“ zurück. „Keine der bestehenden Religionen ist mit den Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung noch in Einklang zu bringen“. Das Grundprinzip des Lebens ist Eigennutz und „Selektion“. Eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Mensch und Tier gibt es nicht. Der evolutionäre Humanismus „spricht den Menschen nicht deshalb ethische Privilegien zu, weil sie ‚Menschen’ sind, sondern weil sie (zumindest in der Regel) ‚Personen’ sind“. Der Lebensschutz ist im Zusammenhang des Überlebensinteresses und des Personseins zu sehen und gilt aus pragmatischen Gründen ab der Geburt. Eine Unterscheidung zwischen „gut“ und „böse“ wird explizit abgelehnt. Die Möglichkeit des Schuldigwerdens wird geleugnet. „Wer Wissenschaft, Philosophie und Kunst besitzt, braucht keine Religion!“ An anderer Stelle werden Ehe und Familie ausdrücklich zugunsten eines „Intimnetzwerkes“ abgelehnt, das an die Stelle des „Ehekäfigs“ treten soll.
Diesen „evolutionären Humanismus“ Schmidt-Salomons lehnt der Religionskritiker Joachim Kahl, bekannt geworden durch sein 1968 publiziertes Buch über das Elend des Christentums, mit pointierten Worten ab. Er weist darauf hin, dass es sich nicht eigentlich um Humanismus, sondern um „Animalismus“ handele. Schmidt-Salomons Ethik sei eine „Ethik der Beliebigkeit“, sein „aufgeklärter Hedonismus“ greife zu kurz. Er schade „der Sache der Religionskritik und des säkularen Humanismus durch plumpe Zweiteilung der Menschheitsgeschichte – hier religiöser Mumpitz, dort aufgeklärter Wärmestrom –, vorgetragen in einem arroganten und hämischen Ton“. Darin sei er „Nachfahre des deutsch-amerikanischen Anarchisten Johann (John) Most, dessen verbiesterter Religionshass sich bereits im Titel seiner kleinen Schrift Die Gottespest (um 1900)“ angekündigt habe. Kahl möchte – anders als Schmidt-Salomon – für einen dialogbereiten Humanismus eintreten, der Verbündete auch in anderen weltanschaulichen Gruppen sucht und ein historisches Bewusstsein von dem bewahrt, was Humanismus als prägendes Phänomen in der europäischen Kulturgeschichte bedeutet hat, mit Auswirkungen auf Wissenschaft, Philosophie, Politik, Kunst und Religion. Der Streit beider „Humanisten“ zeigt: Freidenker, humanistische Verbände und überzeugte Atheisten müssen klären, durch welche Stimmen sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden wollen. Der Begriff Humanismus reicht nicht aus, um das Charakteristische der eigenen Weltanschauung und ethischen Orientierung zum Ausdruck zu bringen. Das zeigt auch die öffentliche Diskussion über den Antrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, das Kinderbuch „Wo bitte geht’s zu Gott? fragte das kleine Ferkel …“ auf die Liste der jugendgefährdenden Medien zu setzen (vgl. den Beitrag in dieser Ausgabe des MD, 113ff). Der Mitautor dieses Buches, Schmidt-Salomon, vertritt das skizzierte weltanschauliche Konzept, das „Humanismus“ mit Animalismus, Anarchismus und Religionshass verbindet, wie Joachim Kahl mit Recht herausstellt.
Sollte das, was als „evolutionärer Humanismus“ bezeichnet wird, größere Resonanz und Akzeptanz finden, würde dies sicher ein wichtiges Thema für weltanschauliche Auseinandersetzungen sein und auch ein neues Aufgabengebiet für den Verfassungsschutz werden. Denn die skizzierte „neue Leitkultur“ steht fraglos denjenigen Werten und ethischen Orientierungen entgegen, die dem Verständnis von Menschenwürde und Menschenrechten in der Verfassung zugrunde liegen. Bis jetzt wird man allerdings von einer neuen humanistisch geprägten „dritten Konfession“ der Konfessionslosen nicht sprechen können. Eine gemeinsame Weltanschauung fehlt, und es stellt eine leicht durchschaubare Strategie humanistischer Verbände, Initiativen und Stiftungen dar, sich als Interessenvertretung möglichst vieler zu verstehen.
Im Gegenüber zu den ethischen Implikationen eines evolutionären Humanismus versteht sich die christliche Ethik ausdrücklich als antiselektionistisch. Sie schützt den Schwachen und unterstreicht, dass jedem Menschen als Person eine unveräußerliche Würde zukommt. Kriterien für einen sich aus christlicher Perspektive verstehenden Humanismus sind die Berücksichtigung der auf Gott bezogenen personalen Grundstruktur des Menschseins, seiner Freiheit, Endlichkeit und Verantwortungsfähigkeit.
Reinhard Hempelmann