Friedmann Eißler

Was nun? - Ein Beitrag zur Versachlichung der Debatte um das Minarettverbot

„Der Bau von Minaretten ist verboten.“ – Um die Einfügung dieses Satzes in die Bundesverfassung der Schweiz ging es beim Volksentscheid am 29. November 2009. Er löste eine internationale Kontroverse über die Reichweite von und den Umgang mit Religionsfreiheit, über die Sichtbarmachung von symbolischen Orten, ja über den Islam und seine Erscheinungsformen in Europa aus.

Überraschend und erstaunlich hoch wurde die Initiative mit 57,5 Prozent der abgegebenen Stimmen angenommen. Nach den vier bislang mit Minaretten gebauten Moscheen – bei rund 130 islamischen Zentren – dürfen nun in der Schweiz keine neuen Moscheetürme errichtet werden.

Die Schweiz hat (wie Deutschland) rund fünf Prozent Muslime, die meisten von ihnen Bosnier, Kosovoalbaner und Türken. Deren bisheriger Integrationsprozess ließ ein solches Ergebnis nicht erwarten. Auch ertönt der Gebetsruf in der Schweiz nicht. Das Ergebnis scheint nicht allein, ja nicht einmal hauptsächlich auf das Verhalten von Muslimen in der Schweiz zurückzuführen zu sein. Es ging in der Tat um mehr und anderes als um Minarette (siehe vorstehenden Beitrag). Viele Initiativbefürworter betonten, es sei ihnen um den Anstoß einer grundsätzlichen und offenen Diskussion über den Einfluss des politischen Islam in Westeuropa gegangen. Das Minarett diente stellvertretend als Symbol für islamisch begründeten Terrorismus, für die Einschränkung von Menschenrechten und Religionsfreiheit durch einen schariadominierten Islam, für die Unterdrückung und Verstümmelung der Frau, Zwangsehen und wachsenden Druck zur Verschleierung.

Das negative Image des Islam nährt sich zudem aus Ereignissen des vergangenen Jahrzehnts (wie dem Mord an Theo van Gogh in Holland, den Anschlägen in Madrid und London, dem Karikaturenstreit in Dänemark, der Schariadebatte in England) sowie aus der Einsicht, dass der seit Jahrzehnten relativ uneingeschränkt in Anspruch genommenen Entwicklungsfreiheit der Muslime im Westen die nach wie vor äußerst prekäre Situation von Minderheiten in mehrheitlich islamischen Ländern gegenübersteht. Für viele der Stimmenden war ausschlaggebend, dass die Religionsfreiheit genau dann und grundsätzlich in Gefahr gerät, wenn sie für die Propaganda eines eben diese Freiheit in Frage stellenden Gedankensystems missbraucht wird. Hinzu kommt der Überdruss vieler Menschen angesichts der ihrer Meinung nach laxen Haltung der politisch Verantwortlichen, die eine solche Gefahr nicht sehen wollen und eine öffentliche Debatte darüber verhindern oder sich ihr wirkungsvoll entziehen.

Vor allem die ländlichen Regionen haben für die Initiative votiert, allerdings nicht nur die ältere Bevölkerung, sondern auch viele junge Menschen, insbesondere Frauen. Ungewohnte Koalitionen trugen zum Erfolg der Initiative bei. So stimmten linke Aktivisten Seit’ an Seit’ mit konservativen Christen. Sicher hat ein Konglomerat an Überfremdungsängsten und Bedrohungsgefühlen eine Rolle gespielt. Sicher kann die Schweizerische Volkspartei (SVP) mit ihrer rechtspopulistischen, eben jene Ängste instrumentalisierenden und schürenden Kampagne ein Gutteil des Erfolgs für sich verbuchen. Man wird jedoch nicht sagen können, dass das Volk schlicht auf Parolen hereingefallen sei. Der Protest und die symbolische Botschaft gegen den religiös-politischen Machtanspruch des Islam und eine Anspruchsmentalität, die Respekt und Toleranz hauptsächlich einfordert, lassen sich nicht nur Rechtspopulisten und Ausländerfeinden zuschreiben.

Vor diesem Hintergrund sollte ein Fehler auf jeden Fall vermieden werden: die Initiative vollends in die rechte Ecke abzuschieben und damit den Extremen das Feld zu überlassen. Das war der Fehler im Vorfeld der Abstimmung. Die Initiativgegner – darunter die Regierung und wichtige politische Parteien, die Kirchen und Vertreter des Judentums – wiegten sich wie auch viele Muslime offenbar zu sehr in Sicherheit. Entscheidend wird nun sein, eben die Instrumentalisierung von rechts offen anzugehen und zu einer sachlichen Debatte zu kommen. Dies wird nur dadurch geschehen, dass die Sachfragen von der ressentimentgeladenen Kampagne und damit eine notwendige kritische Auseinandersetzung von dumpfer Stimmungsmache getrennt werden. Es gibt nicht wenige Muslime, die dies verstanden haben und signalisieren, dass sie eine (selbst-)kritische Wende für unabdingbar halten. Den Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad (München) überrascht das Ergebnis nicht; er sieht darin eine Chance zur Veränderung. Ähnlich der Publizist und Medienwissenschaftler Khaled Hroub (Cambridge) oder auch der ehemalige islamische Extremist Tawfik Hamid (Arlington / Virginia). Auch Schweizer Muslime blicken nach vorn und suchen neue Wege der Öffnung und Transparenz.

Die Sache ist vielschichtig und die Lage nach der Volksabstimmung offen für verschiedene Szenarien. Einfaches Schwarz-Weiß wird der Realität nicht gerecht.• Die Religion der muslimischen Nachbarn unsichtbar machen zu wollen, kann kein vernünftiger Weg des uns aufgetragenen gesellschaftlichen Miteinanders sein. Zur freien Religionsausübung gehört auch der Bau von Gebetsstätten. Wenn Muslime ein Minarett als zur Moschee gehörig betrachten (auch wenn dies anerkanntermaßen nicht wesentlich für den Islam ist), sollte dies im städtebaulich und baurechtlich vorgegebenen Rahmen respektiert werden. Die Minarettinitiative verstößt insofern gegen die Religionsfreiheit und das Diskriminierungsverbot.

• Die Lage von Christen und anderen Minderheiten in mehrheitlich islamischen Ländern kann uns nicht gleichgültig sein. Auf sie ist immer wieder in geeigneter Weise aufmerksam zu machen und Verbesserung einzufordern. Dennoch kann Unrecht dort nicht mit minderem Recht hier vergolten werden. Wir wollen ja hier gerade nicht Verhältnisse wie dort. Die Religionsfreiheit und die damit verbundenen demokratischen Rechte sind ein historisch mühsam errungenes Gut, auf das wir zu Recht stolz sind und das gerade nicht aufs Spiel gesetzt werden darf.

• Das Minarett dient dazu, den Gebetsruf (adhan) erschallen zu lassen. Dennoch ist das Minarett vom Gebetsruf zu unterscheiden. Es ist keineswegs zwingend und nicht einmal sehr häufig so, dass auf das Minarett der öffentliche Gebetsruf folgt. Dieser ist im Gegensatz zu jenem mit einer klaren Botschaft verbunden – die Proklamation des islamischen Glaubensbekenntnisses eingeschlossen – und daher anders zu behandeln (siehe dazu MD 1/2010, 25-27).

• Zweifellos: Minarette sind – auch – Machtsymbole; Minarette sind – auch – „Siegessäulen“; Minarette signalisieren – auch – die Präsenz des Islam und markieren islamisches Territorium. Doch auch wenn militante Gedichte wie die eines Ziya Gökalp von Ende des 19. Jahrhunderts zitiert werden (so T. Erdogan 1998 in der Türkei – dies war dort umstritten und wurde dort bestraft), ist damit nicht die Ideologie des Minaretts oder gar des Islam beschrieben. Religionsgeschichtlich gesehen kommt man hier leicht in die Gefahr, mit einem Finger auf den anderen zu zeigen, während drei Finger auf einen selbst zurückweisen. Die Probleme müssen konkret und an der Stelle benannt werden, an der sie auftauchen. Eine Stellvertreterdebatte, wie sie von der Initiative geführt wurde, die Minarett sagt und Islamisierung der Gesellschaft meint, zahlt für „Kollateralschäden“ einen hohen Preis (Schlag für integrationswillige und integrierte Muslime, Zuarbeit für Radikale). Emotionen eignen sich nicht für ein Plebiszit.

• Zugleich gilt: Von der Wiederholung der allzu einfachen Parole, dass die realen Schwierigkeiten mit islamischen Einstellungen weniger mit dem Islam als mit kulturellen und ethnischen Eigenheiten zu tun hätten, sollte man sich nichts erhoffen. So zutreffend es ist, dass die „reine Lehre“ von der komplexen inkulturierten Gestalt einer Religion zu unterscheiden ist, so wenig hilfreich ist es, durch den Verweis auf den „wahren“ Islam (der Frieden bedeute, die Frauen schütze und die Menschenrechte allererst mit der Gerechtigkeit Gottes versöhne) von aktuellen Problemen abzulenken. Wenn denn etwa die Behandlung der Frauen auf archaische patriarchalische Auffassungen und Gewalt und Repression schlicht auf Missverständnisse des Islam zurückzuführen sind, dann ist es höchste Zeit, dies nicht nur gebetsmühlenartig zu wiederholen, sondern die religiösen und pseudo-religiösen Begründungs- und Legitimationsstrukturen zu erkennen, aufzudecken und offensiv aufzuarbeiten, die sich eben dabei auf Koran und Sunna berufen. Dazu bedarf es offensichtlich nicht weniger als eines historisch-kritischen Verständnisses des Korans.

Nicht die „Islamophobie“ bedroht die Demokratie (wie der deutsche Verband der islamischen Kulturzentren meint), sondern der unkritisch verstandene und legitimierte Islam.

• Das Ergebnis arbeitet den Radikalen zu, auf allen Seiten. Das ist der negative Haupterfolg der Minarettinitiative. Rechte Ressentiments und Ausländerfeindlichkeit dürfen aber nicht bedient werden. Die Abstimmung trifft auch und besonders hart die vielen Muslime, die integriert sind, durch ihre Arbeit zum Wohl der Gesellschaft beitragen und die Forderungen des politischen Islam nicht unterstützen.

• Das Ergebnis zeigt allerdings auch, dass Integrationsdefizite (Stichworte: Sprachfähigkeit, Bildung, Parallelgesellschaft) und der Einfluss einer intoleranten islamisch-politischen Agenda unübersehbar geworden sind. Man kann die dadurch auftretenden Probleme nicht (mehr) aussitzen. Das fängt an, wo zum Beispiel Minarette höher und anders gebaut werden als vorgesehen (wie in Berlin und Esslingen) oder wo islamisch begründete Gewalt mit beifälligem Schweigen oder gar unverhohlener Unterstützung begleitet wird (wie zuletzt beim Anschlag auf den seit Jahren unter Polizeischutz lebenden dänischen Karikaturisten Kurt Westergaard Anfang Januar 2010). Minarette sind kein zentrales Thema des Dialogs – die klare Positionierung von Muslimen in Sachen Grundrechte, Religionsfreiheit, Menschenwürde schon.


Friedmann Eißler