"Weiß er nicht, dass sie ihn umbringen werden?". Frankreichs islamischer Antisemitismus
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Mit Kippa in Paris
Vier Wochen nach den Terroranschlägen auf „Charlie Hebdo“ und einen jüdischen Supermarkt im Januar 2015 spazierte der israelische Journalist Zvika Klein schweigend mit Kippa durch Paris. Ein Kollege mit versteckter Kamera und ein Leibwächter folgten unauffällig. Den Film veröffentlichte Klein am nächsten Tag bei der israelischen Tageszeitung Ma’ariv. Darin ist zu sehen, wie er beleidigt, bedroht und vor ihm ausgespuckt wird. Im Artikel beschreibt er weitere Reaktionen. Er wird angespuckt, und ein kleiner Junge sagt entgeistert zu seiner vollverschleierten Mutter: „Was macht er hier? Weiß er nicht, dass sie ihn umbringen werden?“ Als eine Gruppe sich anschickt, sie anzugreifen, flüchtet das Team.
Die meisten Reaktionen gab es in den von islamischen Einwanderern dominierten Stadtteilen der Pariser Banlieue. Zeitweise habe er sich hier gefühlt wie in Ramallah, rundherum wurde nur noch arabisch gesprochen und war nur arabische Kleidung zu sehen. Die Episode war schnell vergessen. Insbesondere jenseits der französischen Grenzen hatten schon vorher die toten Journalisten von „Charlie Hebdo“ viel mehr Aufmerksamkeit erweckt als die Morde im koscheren Supermarkt. Dabei illustrierte Kleins Aktion ein großes Problem: Mit der islamischen Einwanderung hat sich eine geradezu selbstverständliche und nicht selten gewaltbereite Form der Judenfeindschaft jenseits des Terrorismus verbreitet. Sie nimmt zu und wird weithin verdrängt.
Geschichte der islamisch-jüdischen Beziehungen
Der Islam hat von Anfang an eine Geschichte mit dem Judentum. Im Mittelalter lebten mehr Juden unter islamischer als unter christlicher Herrschaft, und dort lag das kulturelle und geistige Zentrum des Judentums. Jahrhundertelang war jüdisches Leben unter islamischer Herrschaft meist sicherer als unter christlicher, wobei diese Aussage naturgemäß nach Zeit und Ort differenziert werden kann. Juden waren wie alle religiösen Minderheiten bestimmten zeitüblichen Restriktionen unterworfen, konnten aber sicher leben. Anders als in Europa waren Juden in islamischen Regionen nur eine unbedeutende Minderheit unter vielen.
Die rare antijüdische Polemik in islamischen Schriften war meist das Werk zum Islam konvertierter Christen (und Juden), die eine christliche Judenfeindschaft mitbrachten. Ab dem 18. Jahrhundert berichten europäische Reisende regelmäßig von alltäglichen Demütigungen von Juden im Osmanischen Reich, aber noch immer waren organisierte Angriffe fast immer von Christen angestoßen und entstanden aus der Rivalität verschiedener Dhimmi-Gruppen. Bisweilen wirkten europäische Diplomaten dabei anstachelnd.
Erst im späten 19. Jahrhundert wurde diese Judenfeindschaft im Islam nach und nach inkulturiert. Nun diente die Idee einer jüdischen Weltverschwörung als Erklärung des eigenen Niedergangs. Die „Protokolle der Weisen von Zion“ und „Mein Kampf“ wurden früh ins Arabische übersetzt. Mit der Zeit wurden die „aus Europa importierten Bestandteile des Antisemitismus – der Rassismus und die Weltverschwörungstheorie – mit den antijüdischen Kernbeständen der islamischen Tradition und einer islamistisch inspirierten Koran-Auslegung verknüpft“ , d. h. nun aus den eigenen Glaubensgrundlagen begründet.
Mit der Gründung Israels 1948 gerieten erstmals Muslime unter jüdische Herrschaft, eines winzigen Volkes, das nie ein ernsthafter Gegner gewesen war. Diese narzisstische Kränkung machte den Nahostkonflikt zum Kristallisationspunkt islamischer Judenfeindschaft in aller Welt. Als 1968 eine UNESCO-Kommission 127 Schulbücher aus UN-Flüchtlingscamps im Nahen Osten untersuchte, empfahl sie, zwei Drittel wegen ihrer antijüdischen Propaganda sofort einzuziehen, weil hier Geschichte ausschließlich mit der Absicht gelehrt werde, „to convince young people that the Jewish people as a whole has always been and will always be the irreconcilable enemy of the Muslim community“ . Der Konflikt wurde nicht mehr politisch, sondern religiös begründet und in die islamische Frühzeit verlegt. Der UNESCO-Bericht wurde nie veröffentlicht, sondern kursierte nur als internes Dokument.
Judenhass wird heute in der gesamten arabischen Welt von Schulen, Universitäten, Medien und Regierungen verbreitet und beeinflusst auch die Muslime Europas. Die Auswirkungen lassen sich am Beispiel Frankreichs gut beobachten.
Die gegenwärtige Situation in Frankreich
In Frankreich leben etwa 500 000 Juden (0,6 %) und fünf bis sechs Millionen überwiegend maghrebinische Muslime (8-10 %). Das ist jeweils die größte Gemeinde Europas. Die Mehrheit der Juden wurde seit 1945 aus Nordafrika nach Frankreich vertrieben.
Schon in den 1980er Jahren gab es wiederholt Mordanschläge auf jüdische Einrichtungen, die man zunächst Neonazis zuordnete, bevor arabische Täter identifiziert wurden. In den letzten Jahrzehnten wuchsen die Zahl und die Brutalität judenfeindlicher Anschläge. In der jüdischen Schule in Toulouse starben 2012 drei Kinder und ein Lehrer, im jüdischen Museum in Brüssel ermordete 2014 ein Franzose vier Besucher. Fast vergessen ist der Fall des 24-jährigen Parisers Ilan Halimi, der 2006 von einer Gang wochenlang zu Tode gefoltert wurde, „weil Juden reich sind“. Auch der Anschlag auf die Konzerthalle „Bataclan“ in Paris 2015 war teilweise antisemitisch motiviert, was deutsche Medien kaum erwähnten. Stets waren die Täter arabischstämmige Muslime. Bei der Ermordung Halimis stießen im Laufe der Zeit zahlreiche Nachbarn zu den Entführern, schauten zu oder folterten mit, am Ende wurden 20 Täter verurteilt. Kein Mitwisser hatte die Polizei gerufen. Im Vergleich zu diesen tödlichen Angriffen bleiben viele „kleinere“ Gewalttaten fast unbeachtet, so z. B. ein antisemitisch motivierter Raubüberfall auf ein jüdisches Paar mit Vergewaltigung der 19-jährigen Frau in ihrer Wohnung (Créteil, Dezember 2014).
Angesichts des Ausmaßes und vor allem der gesellschaftlichen Gesamtsituation verbietet es sich, von Einzelfällen zu sprechen. Laut dem Jahresbericht des „Service de Protection de la Communauté Juive“ (SPCJ) hat sich die Zahl antisemitischer Taten 2014 gegenüber 2013 auf 851 (davon 164 Gewalttaten) mehr als verdoppelt. Vor allem aber hat sich ihr Charakter geändert: weniger Bedrohungen und mehr Gewalt. Bei über der Hälfte aller rassistischen Taten im Land sind die 0,6 % Juden das Opfer, und 10 % von ihnen begegneten nach eigenen Angaben in den letzten fünf Jahren antisemitischer Gewalt oder ihrer Androhung. Dabei werden bis zu 75 % antisemitischer Vorfälle inklusive Gewalttaten nie angezeigt. Französische Rabbis raten seit Jahren vom sichtbaren Tragen der Kippa ab.
Islamisierung der Vorstädte und Judenpogrome
Die Reaktion eines Autofahrers während des eingangs geschilderten Spaziergangs von Zvika Klein verdeutlicht das Grundproblem. Er hält an und fragt Klein drohend: „Was suchen Sie hier? Man hat mir gesagt, dass Sie sich hier herumtreiben und Sie sind nicht von hier.“ Dies drückt aus, dass bestimmte Stadtteile nicht der Allgemeinheit gehören, sondern „terra islamica“ sind, wo der Islam bestimmt, wer sich frei bewegen kann und wer nicht.
Frankreichs Muslime leben heute konzentrierter als vor 25 Jahren, und sie sind religiöser. Der Soziologe Gilles Kepel hat kürzlich ein Jahr lang das Leben im Département Seine-Saint-Denis – dem symbolträchtigen Begräbnisort der französischen Könige – studiert und die Veränderungen in zwei Büchern beschrieben. Er notiert den Unterschied zwischen dem friedlichen Islam der älteren Einwanderer und der militant aggressiven, antifranzösischen und antisemitischen Religiosität der jüngeren, die eine „Halalisierung“ (Kepel) ihrer Wohngebiete durchsetzen. „Ein Teil der französischen Bevölkerung … hat das Gefühl, nicht zu diesem Land zu gehören … [Sie sagen:] ‚Mein Land, das ist Algerien … (oder Tunesien etc. …).‘“
Nur in Extremfällen geraten die Zustände in die nationalen Medien. Im Juli 2014 fanden in der Pariser Innenstadt antiisraelische Demonstrationen tausender Araber statt, die immer wieder „Tod den Juden!“ skandierten. Einige erklommen die Statue des Revolutionssymbols „Marianne“ und pinselten ein Hakenkreuz auf den Sockel. Die Polizei wandte sich ab: „Was sollen wir tun?“
Zwei Wochen zuvor waren 300 mit Eisenstangen, Hacken, palästinensischen, marokkanischen und türkischen Flaggen ausgerüstete Demonstranten durch das historische Judenviertel „Marais“ gezogen und hatten gerufen: „Alle Juden sind Terroristen!“, „Tod den Juden!“, „Hitler hatte recht!“, „Juden raus aus Frankreich!“ Nach kurzem Aufenthalt an einer leeren Synagoge zogen sie weiter zu einer, in der sich gerade 200 Gläubige mit dem Großrabbiner von Paris versammelt hatten. Es dauerte eine Stunde, bis die Polizei eingriff, um die verbarrikadierte Gemeinde zu befreien. In der Kleinstadt Sarcelles zogen zur selben Zeit Demonstranten durch die Straßen und zündeten jüdische Geschäfte und Wohnungen an.
Verbesserung ist nicht in Sicht. Nicht nur der jüdische Historiker Georges Bensoussan ist überzeugt, dass inzwischen weite Teile der arabischen Bevölkerung des Landes für Frankreich verloren sind. Zwar integrierten sich Einwanderer meist langsam. „Aber zum ersten Mal in der Geschichte beobachten wir einen Prozess der Desintegration bzw. Deassimiliation“, d. h. die Entwicklung geht rückwärts. Und immer häufiger treffe er auf Menschen aus der Mitte der Gesellschaft (Polizisten, Ärzte, Rettungssanitäter, Kommunalpolitiker), die vom kommenden „Bürgerkrieg“ sprächen.
Die muslimische Bildungsministerin Najat Vallaud-Belkacem kündigte nach den Januarmorden 2015 Schulreformen an: „Tage der Laizität“ und ein stärkeres disziplinarisches Durchgreifen sollen es richten. Es ist urfranzösisch, Terrorismus durch Schulreformen zu bekämpfen. Seit dem 19. Jahrhundert werden alle politischen und sozialen Kämpfe Frankreichs in der Schule ausgetragen.
Die Situation der Schule
Allerdings sind die Schulen selbst Teil des Problems. Schon 2002 hatte Georges Bensoussan Antisemitismus-Erfahrungsberichte von Lehrern und Eltern gesammelt. Er kam zu dem Schluss, dass die Schule nicht mehr die Bürgerschmiede der République sei, sondern dass gerade viele Schulen „für die Republik verlorene Gebiete“ seien. Die Vielzahl der dokumentierten Vorfälle reicht von systematischer Demütigung jüdischer Schüler, teilweise auch Lehrerinnen, bis zu körperlichen Angriffen, Vergewaltigungsdrohungen, Anspucken usw. Täter waren praktisch ausnahmslos muslimische Mitschüler. Eine Reihe der Berichte endet damit, dass Schüler (und Lehrerinnen!) die Schule wechseln, teils auf Anraten der Schulleitung. Berichtet wird außerdem von fehlender Solidarität und von Feigheit des Kollegiums gegenüber Provokationen, da man „nicht dem Front National in die Hände spielen wolle“, von Inaktivität höherer Behörden bis hin zu aktiv antisemitischen Einstellungen in der Lehrerschaft selbst. Selbst auf katholischen Schulen, „auf die sich die jüdischen Schüler flüchten“, sind sie nicht sicher. Bei den Tätern fehlt oft Schuldeinsicht: „Ich bin keine Rassistin, aber ich hasse die Juden“, versichert die 16-jährige Rachid. Die Mitschüler pflichten ihr bei: Judenhass ist Ansichtssache. Werden die Eltern von Gewalttätern vorgeladen, so leugnen oder entschuldigen sie die Vorfälle häufig und drohen bisweilen Lehrern und Eltern der Opfer mit Vergeltung – nicht immer bleibt es bei der Drohung. Im Übrigen ist der Antisemitismus nur eine Facette: Auch Christen kommen unter Druck – bis hin zu erzwungenen Konversionen zum Islam.
Diese Erfahrungsberichte wurden kurz darauf von einer Kommission des Bildungsministeriums bestätigt. Der „Rapport Obin“ stellte 2004 an vielen Schulen eine weit fortgeschrittene Auflösung der laïcité unter islamischem Druck fest. Das gelte nicht nur in der Pariser Banlieue, sondern komme im ganzen Land, selbst in ländlichen Regionen mit islamischer Präsenz vor. „Bestimmte Stadtteile wurden uns als ‚in die Hände der Religiösen und der von ihnen kontrollierten Vereine gefallen‘ beschrieben.“ Diese Viertel seien häufig ehemalige multiethnische Arbeiterstadtteile, aus denen in den 1990er Jahren die eingesessenen Europäer geflohen, manchmal auch durch gezielte Gewalt vertrieben worden seien. Die gegenwärtige ethnische Segregation sei also nicht auf natürlichem Wege entstanden, sondern teilweise das Ergebnis aktiver Politik islamischer Gruppen. Heute würden die betroffenen Viertel von den „Bärtigen“ und „älteren Brüdern“ beherrscht. Viele von ihnen hätten sich im Gefängnis bekehrt. In den islamischen Ghettos honorieren die Jugendlichen Frömmigkeit und Gefängniserfahrung mit Respekt.
Die „Islamisierung“ schlage dabei nur abgeschwächt auf die Schulen durch, die bisweilen aussähen wie Festungen. Aber selbst dort drinnen hätten Schüler und Moscheegemeinden neben den bekannten Maßnahmen wie Kleidervorschriften für Mädchen und Lehrerinnen, Fastenzwang, Unterrichtsverweigerung (Sexualkunde, Evolution, Holocaust) z. T. getrennte Waschbecken und Esstische für muslimische und andere Schüler durchgesetzt. Hauptleidtragende seien Juden. Beleidigungen, Drohungen und Gewalt seien häufig, gingen bis zur „Verfolgung“ und „in der Regel von maghrebinischen Mitschülern aus“. Wo es ihnen möglich sei, schlössen sich jüdische Schüler auf dem Schulweg zusammen. In einigen Schulen, so der Bericht, können sich jüdische Schüler und Lehrer nur bewegen, indem sie ihre Identität verheimlichen.
Obin zufolge ist in Frankreichs Schulen der Antisemitismus die bei Weitem dominierende Form des Rassismus. Und Juden seien die einzige Gruppe, die derart diskriminiert werde. Damit greift er wohlweislich Kritikern vor, die versuchen würden, die Ergebnisse durch Hinweis auf andere Minderheiten zu relativieren.
Schon 1996 hatte sich ein Schulleiter in Lyon gezwungen gesehen, seine letzten beiden jüdischen Schüler fortzuschicken, um sie vor muslimischen Mitschülern zu schützen. Heute besuchen 40 % der jüdischen Kinder jüdische, weitere 30 % katholische Schulen.
Die beschriebene Situation, so Obin, sei eher untertrieben, denn „die Informationen über diese Fragen fließen innerhalb der nationalen Bildungseinrichtungen kaum“; man müsse annehmen, dass „die beschriebenen Probleme noch größer“ seien. Viele Lehrer verheimlichten alles lieber. In allen Schulen sei das Treffen mit der Untersuchungskommission die erste offizielle Gelegenheit gewesen, sich darüber auszutauschen. Alle befragten Lehrer fühlten sich von offizieller Seite verlassen; viele, v. a. die jüngeren, seien komplett ratlos, hätten Angst und würden daher mit Stillschweigen und Ausweichen reagieren, bis sie die Schule wechseln können.
Obins Bericht wurde totgeschwiegen und erst ein Jahr später gegen massiven Regierungswiderstand vom Bildungsministerium veröffentlicht. Und heute? Im Januar 2015 berichteten Lehrer aus hunderten Schulen, dass muslimische Schüler die angeordnete Schweigeminute für die Opfer der Attentate gestört, die Opfer beleidigt und die Mörder gefeiert hatten. „Selbst integrierte Muslime verweigerten … den Attentatsopfern Respekt und Ehre.“
Muslime und Front National
Seit Jahren werden jüdische Einrichtungen sukzessive mit Sicherheitszäunen und Kameras ausgerüstet. Offiziell waren zwischen 2000 und 2011 die Mehrheit der gefassten antisemitischen Gewalttäter Muslime bzw. Araber, nicht Rechtsradikale. Seit 2012 wird dazu keine Statistik mehr veröffentlicht. Am Befund ändert das nichts. Auch die außerschulische Gewalt gegen Juden ist sehr selten rechtsradikal. In Frankreich hat der Front National unter Marine Le Pen mit der alten Garde und ihrer Pétain-Verehrung auch den Antisemitismus in den eigenen Reihen erfolgreich zurückgedrängt (Parteigründer Jean-Marie Le Pen wurde kürzlich deswegen ausgeschlossen).
Klare Worte finden die Betroffenen. „Der Front National ist eine Partei, … die heute keine Gewalt verübt. Man muss es klar sagen: Alle Gewalttaten werden heute von jungen Muslimen verübt.“ Als Roger Cukierman, Präsident des jüdischen Dachverbands Crif (Conseil Représentatif des Institutions Juives de France), dies am 24.2.2015 öffentlich sagte und die Muslime aufforderte, sich dagegen zu engagieren, boykottierte aus Protest der Rat der Muslime in Frankreich den Crif-Jahresempfang am selben Abend. Diese islamische Verweigerungshaltung ist Routine. Mit Erfolg: Antijüdische Gewalt unterhalb der Mordschwelle erregt in Frankreich kaum noch Aufmerksamkeit.
Im Januar 2015 erklärte Präsident Hollande im Parlament, man werde umfangreiche Sicherheitsmaßnahmen einführen, aber die Republik befinde sich nicht im Krieg mit einer Religion, sondern stehe fest zu Toleranz und Laizität. Die Abgeordneten applaudierten stehend und brachen spontan – wie zuletzt nach dem Waffenstillstand 1918 – in die Marseillaise aus, eine Hymne, deren Refrain lautet: „Zu den Waffen, ihr Bürger!“ Symbolträchtiger konnte man die Dramatik der Situation kaum ausdrücken. Die Frage, was man konkret tun könne, ist damit nicht beantwortet. „Der herkömmliche Antisemitismus ließ sich noch eindämmen. Ganz anders … mit dem importierten Antisemitismus. Weil die Problematik dieses neugeformten Judenhasses fast deckungsgleich ist mit der Problematik der muslimischen Einwanderung, wird sie tabuisiert. Die regierenden Sozialisten sind überfordert … und reagieren geradezu erleichtert, wenn für die Schändung jüdischer Friedhöfe junge Franzosen ohne Migrationshintergrund verantwortlich sind. Das Problem lässt sich kaum durch ein Arsenal an repressiven Maßnahmen lösen. Die Banlieues haben sich ohnehin von der Rechtsstaatlichkeit verabschiedet. Es droht ein rechtsstaatlicher Zusammenbruch. Der Antisemitismus ist bloß ein Menetekel.“
Andere Länder
Islamischer Antisemitismus ist ein gesamteuropäisches Problem, und das meiste, was hier für Frankreich beschrieben wurde, ist auch anderswo, inklusive in Deutschland, nachweisbar. Schwierig ist oft die Datenlage, weil wenig offizielles Interesse an Wissen besteht, das die islamische Minderheit weiter ins Zwielicht rückt.
Eine Studie in 15 EU-Staaten, im Auftrag der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) durchgeführt, fand 2002: „Physical attacks on Jews and the desecration and destruction of synagogues were acts mainly committed by young Muslim perpetrators mostly of an Arab descent in the monitoring period.“ Die auftraggebende EUMC wollte die Studie dann jedoch nicht publizieren.
Eine andere EU-Einrichtung befragte Juden in acht EU-Ländern 2012 nach ihren Erfahrungen. Auch hier eindeutig: Bei den Tätern lagen fast überall Muslime weit vorn, jeweils gefolgt von Linksextremisten. Bei Gewalt dominierten islamische Täter am stärksten. Neben Frankreich liegt Belgien in Europa weit vorn. Hauptproblem sind hier wie in Frankreich nicht allein Terroristen, sondern die alltäglichen Kleinangriffe, Beleidigungen und Demütigungen. Laut einer Studie der Uni Brüssel ist die Hälfte der muslimischen Schüler in Brüssel antisemitisch eingestellt, in Antwerpen sind es sogar 75 %. Eine Nebenentdeckung der Studie war die Differenz zwischen tatsächlichem und offiziellem Anteil muslimischer Schüler: „An den weiterführenden Schulen von Brüssel ist fast jeder zweite Schüler Muslim. Gewöhnlich wird die Zahl der Muslime unterschätzt, da sie– öfter als andere – bei Umfragen keine Antworten geben.“
Zur Reaktion auf die Studie sagte ihr Autor Elchardus: „Aus der muslimischen Gemeinschaft erhielten wir extrem negative Reaktionen … Einige sagten sogar, ich sei ein Rassist … Muslimische Organisationen sollten eine wichtige Rolle bei der Integration der Muslime in die Gesellschaft spielen. Es ist bedauerlich, dass keine dieser Organisationen Antisemitismus oder die sehr negativen Einstellungen gegenüber Homosexuellen verurteilt, die wir in unseren Studien in Antwerpen und Gent feststellten … Kurz gesagt: Muslimische Organisationen streiten entweder die Ergebnisse unserer Studien ab oder schweigen dazu.“
Reaktionsmuster
Der islamische Judenhass wurde lange Zeit öffentlich fast komplett ignoriert. Diese Zurückhaltung steht im Kontrast zur Holocaust-Gedenkkultur – das Schicksal der toten Juden erfährt mehr Aufmerksamkeit als das der lebenden. Dieses Schweigen resultiert aus drei miteinander verwobenen Reaktionsmustern: (a) Verdrängung, (b) Ablenkung („Rechtsextremismus“) und (c) Schuldumkehr („Islamophobie“). Diese sind nicht spezifisch französisch, sondern finden sich international.
a) Verdrängung. Die Beispiele der UNESCO-Studie 1968, der EUMC-Studie 2002 und des „Obin-Berichts“ 2004 zeigen ein wiederkehrendes Muster: Öffentliche Stellen versuchen, die Veröffentlichung von Studien zu verhindern, die muslimischen Antisemitismus aufdecken.
Einige Wissenschaftler bestreiten sogar, dass es einen nennenswerten eigenständigen islamischen Antisemitismus überhaupt gebe, da er nur den europäischen Antisemitismus reproduziere und an eine oberflächlich islamische Semantik anpasse. Sie werfen den Autoren entsprechender Forschungsergebnisse gerne Islamophobie vor.
Auch Massenmedien sind bei dem Thema oft schweigsam. Georges Bensoussans Buch über die Zustände in Frankreichs Schulen traf 2002 auf ein totales mediales Schweigen, das „Le Figaro“ rückblickend als „omertà“ (Schweigekartell der Mafia) bezeichnet. Käme es nicht als Selbstkritik von einer der größten Tageszeitungen Frankreichs selbst, riefe dies gewiss den Vorwurf der Verschwörungstheorie hervor.
Das Schweigen betrifft gelegentlich die Identität der Opfer. So trat bei den Januarmorden in Paris 2015 in der zeitgenössischen Berichterstattung und beim Jahresgedenken der jüdische Supermarkt hinter „Charlie Hebdo“ völlig in den Hintergrund. Am typischsten ist das Verdrängen der Täteridentität. Sie ist in fast allen Ländern und Medien von der BBC bis zum Lokalblatt die Regel. Als die Fédération Protestante de France die Vergewaltigung von Créteil (s. o.) verurteilte, erwähnte sie wie bei anderen antisemitischen Vorfällen zuvor die Religion der Täter mit keinem Wort. Französische Medien nennen die Täter „Jugendliche“, „junge Pariser“ oder sogar explizit verschleiernd „französische Jugendliche“. In Deutschland ist diese Praxis der journalistischen Selbstzensur sogar im Pressekodex vorgeschrieben. Um ethnische Spannungen nicht anzuheizen, sind Journalisten der Volkserziehung mehr verpflichtet als der Wahrheit. Die Praxis trägt auf Dauer zu einer Erosion gesellschaftlichen Vertrauens bei.
b) Ablenkung. Aufgrund der europäischen Geschichte konnotieren die meisten Menschen Antisemitismus logischerweise zuerst mit Rechtsextremismus. Schulen unterrichten, kirchliche Initiativen arbeiten in diesem Sinne. Das ist bewährt, konsensfähig und bedarf keines Mutes: Neonazis sind rar und allgemein geächtet, man kann sie mit Polizei und Justiz in Schach halten.
Aber es geht am Hauptproblem der Gegenwart vorbei. Judenfeindschaft und antijüdische Gewaltbereitschaft sind heute islamisch und umso wahrscheinlicher, je religiöser Menschen sind. Die Vorsitzenden der Juden in Belgien, Frankreich, Deutschland und Britannien haben sich alle bereits in diesem Sinne öffentlich geäußert. Sie wurden dafür angefeindet. Denn viele Menschen haben diese Veränderung noch nicht akzeptiert. Das Problem ist der Widerspruch zweier sinnstiftender Ideologien: Einsatz gegen Rassismus und Einsatz gegen Antisemitismus. Diese treten in Konflikt, wenn der Antisemitismus v. a. von Einwanderern ausgeht. Der Feind steht traditionell rechts und da soll er auch bleiben.
c) Schuldumkehr. Das wichtigste Reaktionsmuster ist der Verweis auf „Islamophobie“, wodurch die islamische Gemeinschaft sich selbst zu den wahren Opfern erklärt: „Wir müssen mutig zeigen, dass auch oder sogar vor allem wir die Opfer dieses Terrorismus sind.“ Die Angst vor dem Islamophobievorwurf bestimmt die öffentliche Diskussion in Europa.
Der Begriff wurde in den 1980er Jahren von britischen Muslimen in die Diskussion eingeführt. Popularisiert wurde er durch die Verwendung in der 1994 publizierten Antisemitismus-Studie des britischen Runnymede Trust (eine Stiftung zur Bekämpfung des Rassismus). Schon damals verteidigten sich die Autoren, als sie islamischen Antisemitismus thematisierten, vorsorglich gegen den Islamophobievorwurf.
„Islamophobie“ bezeichnet zunächst ein real vorhandenes Phänomen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Heute aber hat sich der Begriff zu einem effektiven Mittel der Kritikabwehr entwickelt. Offizielle islamische Distanzierungserklärungen nach Anschlägen enthalten nach Trauer und Nichtzuständigkeitserklärung („hat mit dem Islam nichts zu tun“) stets die Warnung vor erhöhter Islamophobie. Dabei rücken die realen jüdischen Opfer und die Motivation der muslimischen Täter aus dem Fokus und werden durch mögliche künftige muslimische Opfer ersetzt.
Aber nicht nur die Verwendung, sondern auch der Begriff selbst ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. 1. Er verlagert die Ursachen von Islamkritik aus dem Bereich der Realität in die Psyche. Nicht Fakten sind Thema, sondern die Befindlichkeit des Kritikers. Dessen „Angst“ gelte es zu überwinden. Eine sachlich angemessene, aus bürgerschaftlichem Engagement erwachsene Islamkritik mit diskutierbaren Inhalten ist kaum vorgesehen. 2. Eine „Phobie“ ist nicht einfach nur eine Furcht, sondern eine psychische Krankheit. Das Wort Islamophobie pathologisiert Islamkritik. 3. Es gibt sicher auch Angst vor dem Islam. Anders als die Angst vor Kernkraft, Waldsterben und Pegida gilt sie als illegitim. Das blendet aus, was Erfahrung lehrt: Es gibt Menschen, die Grund haben, den Islam zu fürchten, allen voran Juden, aber auch Homosexuelle, sexuell selbstbestimmte Frauen, Ex-Muslime, Karikaturisten und selbst sachliche Islamkritiker wie der Figaro-Journalist Robert Redeker, der seit Jahren im Verborgenen leben muss.
Der Islamophobiediskurs lenkt erfolgreich davon ab, dass islamische Organisationen fast nichts gegen den Antisemitismus in ihren Gemeinschaften unternehmen. Er ist Ausdruck „institutionalisierter Verharmlosung“. Als im Mai 2014 im jüdischen Museum Brüssel vier Menschen ermordet wurden, spekulierte Europas prominentester frankophoner islamischer Intellektueller Tariq Ramadan, dass die belgischen Behörden etwas verschwiegen. Es habe sich nicht um eine antisemitische Tat gehandelt, sondern die Ermordeten seien israelische Agenten gewesen. Weiter geschadet hat ihm dieser verschwörungstheoretische Unsinn nicht. Ramadan wird als Hoffnungsträger und Vordenker eines moderaten europäischen Islam hofiert.
Die Parallelisierung von Antisemitismus und Islamophobie ist unangemessen. Man muss vielmehr konstatieren, dass Europa seit Jahrzehnten angesichts wiederkehrender Wellen islamischer Terroranschläge bemerkenswert ruhig bleibt. Nie gab es Massendemonstrationen, auf denen Muslimen der Tod gewünscht wird, von Pogromen wie in Paris und Sarcelles oder jüdischen Terroranschlägen auf Muslime ganz zu schweigen.
Schluss
Die selbst angelegten Scheuklappen, der verschleiernde sprachliche Erfindungsreichtum sowie die Anklage gegen den vertrauten Feind auf der Rechten kaschieren Europas ratloses Erschrecken angesichts eines eingewanderten neuen Judenhasses. Nur wenige werden gewalttätig, aber die Einstellung ist keineswegs ein Randphänomen, sondern gehört oft zur „normalen“ islamischen Identität. Sie hat eine lange Tradition und theologische Wurzeln. Der Israelkonflikt ist eher Katalysator als Ursache.
Die französische Polizei spricht das Offensichtliche aus: Es ist ihr unmöglich, auch nur die Hälfte aller Syrienrückkehrer zu überwachen. Aber kann auf Dauer überhaupt die Polizei helfen, wenn sich der soziale Zusammenhalt, auf den die demokratische Gesellschaft angewiesen ist, zunehmend in kommunalistische Parallelwelten verflüchtigt? Kann man Hass wirklich mit „journées de la laïcité“, „British Values“-Unterricht und Integrationskursen bekämpfen?
Die Entwicklung bedroht das europäische Judentum. In vielen Ländern denken über 50 % der Juden über Emigration nach. In Antwerpen verschwindet unter islamischem Druck langsam das letzte orthodoxe „Schtetl“ Europas. In Schweden flüchten die Juden aus Malmö nach Stockholm. Der jüdische Chef der BBC, Danny Cohen, stellte im Dezember 2014 die Zukunft des britischen Judentums infrage, 45 % seiner Glaubensgeschwister stimmen ihm zu.
In Frankreich versicherten Politiker scharf, die Sicherheit sei gegeben, als Benjamin Netanyahu die französischen Juden zur Emigration aufforderte. Das machen israelische Staatschefs regelmäßig, aber selten fanden sie so viel Gehör. 2014 informierten sich 50 000 von einer halben Million französischer Juden über Auswanderung, und allein nach Israel gingen 7000 (1,5 %).
Und nun? Werden islamische Vertreter neben Lippenbekenntnissen plausible Vorschläge entwickeln, wie sie dem Antisemitismus in ihren Gemeinschaften wirksam begegnen wollen? In Frankreich müssen die vereinzelten Imame, die sich gegen Antisemitismus engagieren, rund um die Uhr von der Polizei geschützt werden. Werden staatlicherseits aussagekräftige Statistiken erstellt werden? Ein unerforschtes Problem verschwindet nicht, sondern wächst. Werden die Medien den Mut finden, ehrlich und regelmäßig zu berichten, statt sich selbst zu zensieren? Werden die seltsam schweigsamen Kirchen, die viel Energie in die Bekämpfung des Rechtsextremismus stecken, sich künftig ebenso beim islamischen Antisemitismus engagieren? Werden sie das Thema prominent und notfalls penetrant auf die Tagesordnung des christlich-islamischen Dialogs und in die Öffentlichkeit bringen?
Derzeit kommen Millionen nach Europa, in deren Heimatländern „Mein Kampf“ und „Die Protokolle der Weisen von Zion“ Bestseller sind. Dies wird die Situation der Juden Europas verschlechtern. Gerade in den Kirchen tendiert man dazu, jegliche Einwanderungskritik als „fremdenfeindlich“ oder „menschenverachtend“ in teilweise hetzerischer Sprache zu delegitimieren. Aber wer exklusiv für sich die „Menschlichkeit“ reklamiert, hat sich nicht von der Verantwortung für die Folgen exkulpiert.
Pessimistisch konstatiert der Schriftsteller Rafael Seligmann: „Europas Judentum ist bald nur Geschichte. Hitlers Lebensziel, ein ‚judenfreies Europa‘, droht knapp 70 Jahre nach dem Ende des Naziführers wahr zu werden.“ Sicher überspitzt, hat doch das europäische Judentum Pogrome, Diskriminierung und Massenmord überlebt und blieb dabei eine intellektuelle und gesellschaftsprägende Größe. Aber es gibt zu denken, wenn seit 1945 die seit Jahrtausenden in arabischen Ländern ansässigen Juden alle bis auf kleinste Reste verschwunden sind. Die islamische Welt ist fast „judenfrei“.
Derzeit ist es en vogue, Wählerstimmen heischend zu verkünden: „Der Islam gehört zu Europa“. Angesichts des Beschriebenen, angesichts der wenig erfolgreichen islamischen Integration und angesichts der Einwanderung sind solche Sätze zu befragen: Wird der logische Nachsatz dazu lauten: „… und das Judentum auf Dauer nicht“? Wer darauf keine plausible Antwort weiß, handelt nicht humanitär, sondern verantwortungslos. Er wird einst gefragt werden: Wie konntet ihr das zulassen?
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