Weltanschauung

Der philosophisch geprägte, kaum übersetzbare und assoziationsreiche Terminus Weltanschauung (zuerst geprägt durch I. Kant, sodann vielfältig aufgegriffen und interpretiert u. a. bei F. D. E. Schleiermacher, W. von Humboldt, E. Husserl und vor allem W. Dilthey) erinnert an den Sachverhalt, dass wissenschaftliche Theoriebildungen, philosophische Entwürfe, ethische Orientierungen und rituelle Praktiken in bestimmte Weltdeutungen eingebunden sind. Weltanschauliche Überzeugungssysteme „sind nicht etwas, was im Leben auftreten oder ausbleiben könnte, sondern eines seiner wesentlichen, faktisch niemals fehlenden Momente“ (E. Herms). Auch in säkularisierten und durch weltanschaulichen Pluralismus geprägten Gesellschaften, in denen christliche Traditionen und Lebensorientierungen ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt haben, setzen menschliches Handeln und Leben implizite oder explizite Lebensgewissheiten und Überzeugungen voraus. Weltanschauung kann dabei an die Stelle der Religion treten. Insofern verweist der Begriff auf die Emanzipation neuzeitlichen Denkens und Glaubens aus religiöser Umklammerung, auf Gestalten moderner Sinnsuche und ist Ausdruck neuzeitlicher Anthropozentrik und Subjektivität. Sowohl für das Individuum und seine Handlungsfähigkeit als auch für das gesellschaftliche Gesamtsystem haben weltanschauliche Überzeugungen eine fundamentale und maßgebliche Bedeutung.

Ausprägungen

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts entstand eine Reihe weltanschaulicher Bewegungen reaktiv und parallel zum Vorgang kultureller Säkularisierung. In geschichtlicher Perspektive vollzog sich dieser Prozess Hand in Hand mit einem rasanten wissenschaftlich-technischen Fortschritt, vor allem im Bereich der Naturwissenschaften. Manche Weltanschauungen lassen sich als Protest gegen ein säkulares, scientistisch und naturalistisch geprägtes Wirklichkeitsverständnis interpretieren. Sie sind durch „nichtsäkulare“, nicht selten „vormoderne“ Weltkonzeptionen bestimmt, die in ihrem Protest jedoch an die Determinanten der Moderne gebunden bleiben.

1848, im selben Jahr, als Karl Marx und Friedrich Engels das Kommunistische Manifest publizierten, entstand der moderne Spiritismus als einflussreiche weltanschauliche Strömung und als Massenphänomen, verbunden mit zahlreichen Gemeinschaftsbildungen. Er beruht auf der Voraussetzung und der Überzeugung, dass ein Kontakt mit der jenseitigen Geisterwelt und mit den Toten möglich und gewissermaßen empirisch demonstrierbar ist. 1875 gründeten Helena P. Blavatsky, Henry S. Olcott u. a. in New York die Theosophische Gesellschaft, aus der zahlreiche esoterische Gemeinschaftsbildungen hervorgingen (u. a. die Anthroposophie mit ihren reformerischen Aktivitäten in den Bereichen Erziehung, Medizin, Pharmakologie, Landwirtschaft, Architektur, Theater, Kunst).

Als Weltanschauungen gelten auch zahlreiche weitere Bewegungen, deren Ausrichtung unterschiedlich ist, z. B. Rosenkreuzervereinigungen, Freimaurer, Neuheiden, Hexen, ebenso UFO-Bewegungen, deren weltanschauliches Profil durch die Suche nach Einheit von Technik und Religion bestimmt ist. Die Mitgliederzahlen fester Gruppen innerhalb dieser Bewegungen sind begrenzt.

Während die großen säkularen Ideologien Marxismus und Nationalsozialismus, denen eine revolutionäre (politischer Messianismus) bzw. rassistische Weltbetrachtung zugrunde liegt, gescheitert sind und öffentliche Geltung eingebüßt haben, stellen die genannten „Okkultkonfessionen“ (K. Hutten) Spiritismus, Astrologie, esoterisch-gnostische Weltdeutungen und Ufologie einen Teil des heutigen weltanschaulichen Pluralismus und eine Herausforderung für Kirche und Gesellschaft dar. W. J. Hanegraaff hat an der so genannten „New-Age-Spiritualität“ gezeigt, dass sich in dieser ein neuer Typ säkularer Religion ausdrückt, für den die Verselbständigung der „Spiritualität“ gegenüber traditionellen Religionen und Weltanschauungen und die direkte Einbindung in die säkulare Kultur charakteristisch sind. Die eigene Lebensführung ist demnach spirituell geprägt, auch ohne konkrete Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft. Zugleich wirkt sich der moderne Konsumismus und Eklektizismus auch in weltanschaulicher Hinsicht aus. Vermehrt entstehen religiös-säkulare Mischphänomene, die marktförmig angeboten und kommerzialisiert werden. Religiöses erscheint in säkularem Gewand, beispielsweise als Entspannungstechnik oder Therapieangebot, Nichtreligiöses umgibt sich aus strategischen Gründen mit dem Schein des Religiösen. Es ist vor allem ein esoterisch, synkretistisch und individuell geprägter Typ von Weltanschauung, der gegenwärtig auf Resonanz stößt und der keineswegs nur ein außerkirchliches Phänomen darstellt.

Zahlreiche weltanschauliche Bewegungen sind darum bemüht, die im Rahmen kultureller Säkularisierung verlorengegangene Einheit von Weltbild und Religion, von Vernunft und Glaube wiederherzustellen. In ihrem Anspruch auf umfassende Sinndeutung und universale Geltung gleichen sie den Religionen. Differenzen bestehen insofern, als es neben religiösen Weltbetrachtungen (in Neuoffenbarungsgruppen, theosophischen Kreisen) auch dezidiert nichtreligiöse und christentumskritische gibt (im Freidenkertum), die nach 1989 teilweise an Bedeutung gewonnen haben. Der 1993 gegründete Humanistische Verband Deutschlands (HVD) versteht sich als Repräsentant einer humanistischen Weltanschauung und als Interessenvertretung der „Konfessionslosen“, vor allem im Zusammenhang seiner Angebote für Jugendweihe, Lebenskundeunterricht als Alternative zum Religionsunterricht, „humanistische Hochzeiten“ und seiner Plädoyers zu aktuellen ethischen Fragen (für radikale Selbstbestimmung am Lebensanfang und Lebensende). Ein aggressiv auftretender, neuer Atheismus naturalistischer Prägung („evolutionärer Humanismus“) umgibt sich mit dem Mantel der Wissenschaftlichkeit und suggeriert, dass naturwissenschaftliche Welterkenntnis vom Glauben weg und zum Atheismus hin führe. Der erklärte Wille zahlreicher Weltanschauungen, Glauben und Wissen miteinander zu versöhnen und ein alternatives Orientierungswissen zu begründen, geschieht durchweg um den Preis, zwischen wissenschaftlicher Rationalität und weltanschaulichem Interesse nicht mehr unterscheiden zu können.

Voraussetzungen weltanschaulicher Vielfalt

Grundlegende rechtliche Voraussetzung für weltanschauliche Pluralisierungsprozesse ist die durch die Verfassung garantierte Freiheit der individuellen und gemeinschaftlichen Religionsausübung, wobei Weltanschauungsgemeinschaften verfassungsrechtlich den zu schützenden Religionsgemeinschaften gleichgestellt sind. Der grundgesetzliche Schutz gilt allerdings nicht, wenn verfassungswidrige Ziele verfolgt werden oder das tatsächliche Verhalten zum Beispiel vorrangig politisch oder ökonomisch ausgerichtet ist.

Während in geschlossenen Gesellschaften für abweichende Weltanschauungen kein Raum gegeben ist, entwickelt sich in offenen, pluralistischen Gesellschaften eine Vielzahl religiös-weltanschaulicher Überzeugungssysteme. „Modernität vervielfacht Wahlmöglichkeiten und reduziert gleichzeitig den Umfang dessen, was als Schicksal oder Bestimmung erfahren wird“ (P. Berger). Allerdings ist der weltanschauliche Pluralismus einer demokratischen Kultur nicht voraussetzungslos. Er lebt von gemeinsamen Werten und einem gemeinsamen Rechtsbewusstsein, dessen Bewahrung nicht automatisch geschieht.

Beurteilungen

Da Weltanschauungen als Phänomen in unterschiedlichen religiösen wie nichtreligiösen Kontexten und Bezugssystemen vorkommen und sich vielgestaltig darstellen, können Verhältnisbestimmungen aus der Perspektive des christlichen Glaubens zu ihnen nicht pauschal, sondern nur bezogen auf konkrete Strömungen und Gruppen erfolgen.

Religiös-weltanschauliche Aufklärung ist eine wichtige praktische Aufgabe der christlichen Kirchen, die gleichermaßen analytisch wie hermeneutisch ausgerichtet ist. Information, Deutung und Aufklärung über religiös-weltanschauliche Gruppierungen und Strömungen aus der Perspektive des trinitarischen Gottesglaubens und des christlichen Verständnisses von Welt und Mensch haben sich in den evangelischen Landes- und Freikirchen wie in den katholischen Bistümern als übergemeindliches kirchliches Handlungsfeld etabliert. Dazu gehören Bildungs-, Informations- und Beratungsangebote, die der Gesamtkirche, Gemeinden, Einzelpersonen, darüber hinaus auch kommunalen Einrichtungen und der gesellschaftlichen Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Dabei geht es gleichermaßen um Dialog und Unterscheidung, Religions- bzw. Ideologiekritik und Darstellung des christlichen Wirklichkeitsverständnisses, das nach evangelischem Verständnis durch die Botschaft von der Rechtfertigung und das Bekenntnis zum Wirken des dreieinigen Gottes in Schöpfung, Versöhnung und Vollendung bestimmt ist. Die alltägliche Begegnung mit anderen Weltanschauungen fordert dazu heraus, den eigenen Glauben neu zu entdecken und auf andere, fremde Glaubensweisen zu beziehen (Hermeneutik des Fremden). Dabei geht es um ein kreatives Geschehen: die Artikulation christlicher Identität unter Einbeziehung ihres Gegenübers. Die christlichen Kirchen verbinden ihr eigenes Bekenntnis mit der Achtung fremder weltanschaulicher Orientierungen und treten für Religionsfreiheit und eine überzeugte Toleranz ein, die allerdings Unterscheidung und, wenn nötig, auch Abgrenzung einschließt. Verschmelzungswünsche und Harmonisierungsstrategien sind als Antwort auf die Situation weltanschaulicher Vielfalt ebenso untauglich wie fundamentalistische Abwehrreaktionen. Die Pluralität von unterschiedlichen Weltanschauungen ist in offenen Gesellschaften unaufhebbar. Religiöse Aufklärung muss angesichts der Vielfalt weltanschaulicher Orientierungen die Wahrnehmung für den fremden und den eigenen Glauben gleichermaßen schärfen.

Zum Protest und zum Widerspruch fordert die Begegnung mit Weltanschauungen u. a. dann heraus, wenn es zu einer Verharmlosung der Gebrochenheit und Begrenztheit menschlichen Lebens kommt, wenn die soziale und öffentliche Verantwortung des Menschen ignoriert wird, wenn bei beanspruchter Christlichkeit fundamentale Inhalte christlichen Glaubens geleugnet oder umgedeutet werden, wenn das Heil- und Ganzwerden des Menschen zur eigenen Sache gemacht wird, herstellbar z. B. durch therapeutische und spirituelle Techniken. Die Frage des Umgangs mit Begrenzungen, Schuld, Krankheit, Leiden und Tod ist ein zentrales Kriterium zur Beurteilung weltanschaulicher Bewegungen, ihrer Ansprüche auf Wahrheit und Glaubwürdigkeit.


Reinhard Hempelmann


Literatur

Art. Weltanschauung, in: J. Ritter / K. Gründer / G. Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Basel 2004, 454-460

Baer, Harald u. a. (Hg.), Lexikon neureligiöser Gruppen, Szenen und Weltanschauungen. Orientierung im religiösen Pluralismus, Freiburg i. Br. 2005

Berger, Peter L., Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1980

Hempelmann, Reinhard u. a. (Hg.), Panorama der neuen Religiosität, Gütersloh 22005

Herms, Eilert, Zusammenleben im Widerstreit der Weltanschauungen, Tübingen 2007

Hummel, Reinhart, Religiöser Pluralismus oder christliches Abendland? Darmstadt 1994

Mertesdorf, Christine, Weltanschauungsgemeinschaften: Eine verfassungsrechtliche Betrachtung mit Darstellung einzelner Gemeinschaften, Frankfurt a. M. u. a. 2007

Religionen, Religiosität und christlicher Glaube. Eine Studie, hg. im Auftrag der VELKD und der Arnoldshainer Konferenz, Gütersloh 1991