Arno Schilberg

Weltanschauungsgemeinschaften im Grundgesetz

Wenn der nicht juristisch vorgebildete Leser nach einem juristischen Grundlagenwerk zu Weltanschauungsgemeinschaften sucht, stößt er auf das umfangreiche Werk von Christine Mertesdorf mit 798 Seiten, das im folgenden Beitrag besprochen wird (Weltanschauungsgemeinschaften. Eine verfassungsrechtliche Betrachtung mit Darstellung einzelner Gemeinschaften, Schriften zum Staatskirchenrecht Bd. 39, Frankfurt a. M. 2008). Das Buch stammt aus dem Jahr 2008, ist aber immer noch die einzige umfangreiche juristische Abhandlung zu dem Thema. Gleichwohl ist zu berücksichtigten, dass es sich dabei um eine Dissertation handelt (bei Professor Dr. Gerhard Robbers, Trier), die sich der wissenschaftlichen Diskussion stellen will und soll. Dadurch bekommen Randprobleme (z. B. die Bewertung der invocatio dei in der Präambel des Grundgesetzes) einen Stellenwert, der einem Überblick nicht angemessen wäre. Aus diesem Grund stellt der Autor dieses Beitrags die Buchbesprechung in einen etwas größeren Zusammenhang, um die wesentlichen verfassungsrechtlichen Grundlagen und die Rahmenbedingungen darzustellen und die Weltanschauungsgemeinschaften im Kontext des Grundgesetzes einzuordnen. Auf das Buch von Mertesdorf wird an entsprechenden Stellen Bezug genommen und am Ende eine Bewertung vorgenommen.

 

Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen, werden Religionsgemeinschaften nach dem Grundgesetz gleichgestellt. Diese Aussage findet sich am Ende von Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 WRV, der im Übrigen das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften regelt. Um sich einer Norm zu nähern, gibt es vier klassische Auslegungsmethoden: den Wortlaut, die Systematik, die Entstehungsgeschichte und die teleologische Auslegung, also die Frage nach dem Sinn und Zweck.

Nach dem Wortlaut sollen Weltanschauungsgemeinschaften so behandelt werden wie Religionsgesellschaften. Dazu muss man wissen, wie Religionsgemeinschaften behandelt werden. Die Antwort auf diese Frage ergibt sich auch aus der Systematik, wenn man die vorhergehenden Absätze betrachtet, denn dort wird gerade dies geregelt. Im Wesentlichen sind vier wichtige Aspekte zu berücksichtigen: 1. Es besteht keine Staatskirche (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 1 WRV). 2. Jede Religionsgemeinschaft ordnet und verwaltet ihre eigenen Angelegenheiten selbstständig im Rahmen des für alle geltenden Gesetzes (Selbstbestimmungsrecht nach Art. 137 Abs. 3 WRV). 3. Die Religionsgemeinschaften können Körperschaften öffentlichen Rechts eigener Art nach Art. 137 Abs. 5 WRV werden (Körperschaftsstatus). 4. Das Fundament für diese Regelungen bildet die Religions- und Weltanschauungsfreiheit von Einzelnen und Gruppen im Grundrechtssteil der Grundgesetzes, konkret in Art. 4 Abs. 1 GG.

Das Religionsverfassungsrecht ist geprägt von diesen vier „Säulen“. Dazu gibt es aber eine Fülle weiterer Rechtsquellen (im Grundgesetz z. B. Art. 3, 7, 33 und Art. 140 i.V.m. Art. 136, 138, 139 und 141 WRV, Landesverfassungsrecht, religionsverfassungsrechtliche Verträge, einfaches Gesetzesrecht, Europarecht und Völkerrecht) und Materien (Anstaltsseelsorge, Religionsunterricht, theologische Fakultäten, Religionsgut, Staatsleistungen u.v.m.). Zu diesen Themenkomplexen findet sich umfangreiche Spezialliteratur, aber auch mehrere Lehrbücher zum Religionsverfassungsrecht oder Staatskirchenrecht.1 Daneben gibt es Lexikonartikel und Kommentare zum Grundgesetz. In diesen Werken geht es vornehmlich um Religionsgemeinschaften.

Weltanschauungsgemeinschaften kommen nur am Rande vor. Sie werden vor allem vor dem Hintergrund des Verfassungsrechts im Hinblick auf die Religionsgemeinschaften behandelt und führen somit ein Schattendasein. Morlok merkt an, dass „nur mit Klügelei“ Religion und Weltanschauung sowie die einzelnen Teile voneinander abzugrenzen seien.2

Begriff „Weltanschauungsgemeinschaft“

Weltanschauungsgemeinschaften sind „Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen“ (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 7 WRV), also Vereinigungen, die durch ihre Lehren eine nicht-religiöse wertende Stellungnahme zum Ganzen der Welt bieten und damit eine Antwort auf Fragen nach Ursprung, Sinn und Ziel der Welt und des Lebens des Menschen geben wollen.3 Eine Weltanschauungsgemeinschaft muss, um über den rein spirituellen Zusammenhalt hinaus als säkulare Gemeinschaft bestehen zu können, ein Minimum an organisatorischer Struktur aufweisen.4

Abgrenzungsprobleme ergeben sich gegenüber Psychologie, Meditation u. Ä., wenn es nicht nur um die Anwendung bestimmter Methoden geht, sondern auch um gemeinschaftliche Sinngebung. Ferner ist die Abgrenzung zu Vereinigungen schwierig, die bestimmte weltanschauliche Momente aufweisen, aber keinen gemeinsamen umfassenden Grundkonsens fordern. Angesichts der Definitionsnot des neutralen Staates können nach Hollerbach am ehesten die Kategorien von „Transzendenz“ und „Immanenz“ Anhaltspunkte für Abgrenzungen bieten, da weltanschauliche Doktrinen in spezifischer Weise von innerweltlichen, immanenten Bezügen geprägt sind. Im Übrigen ist auf das Selbstverständnis der Weltanschauungsgemeinschaften abzustellen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass von Weltanschauungsgemeinschaften ein höherer Erklärungsgrad zu erwarten ist als von persönlichen Weltanschauungen. Gegenüber Religion kann die Abgrenzung in der Regel dahinstehen, weil Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zumindest in Art. 4 GG gleichgestellt sind. Angesichts dieser Sachlage spricht vieles
dafür, dem Begriff im verfassungsrechtlichen Sinn eine „Ergänzungsfunktion“ zuzuerkennen.5 Eine Unterscheidung ist in einfachgesetzlichen Regelungen wie z. B. nach § 11 Abs. 1 WPflG und § 10 Abs. 1 ZDG notwendig, da das sogenannte Geistlichenprivileg nur für solche Gemeinschaften gilt, die einen religiös-gottesdienstlichen Kult pflegen und Seelsorge üben.6

Angesichts der überschaubaren Literatur und Rechtsprechung zu Weltanschauungen geht Mertesdorf im zweiten Kapitel ihrer Arbeit zunächst auf die Begriffe Religion und Religionsgemeinschaften ein und grenzt sie von denen der Weltanschauung und der Weltanschauungsgemeinschaft ab (86-254). Um zu einer eigenen Definition von Weltanschauungsgemeinschaft zu gelangen, untersucht sie zunächst ausführlich den Begriff der Weltanschauung in Abgrenzung zum Begriff Religion mit dem Unterscheidungskriterium „Transzendenz“ (= Religion) und „Immanenz“ (= Weltanschauung). Dann fragt sie nach dem Abgrenzungserfordernis zwischen Weltanschauungsgemeinschaft und Religionsgemeinschaft, also ob eine Definition nötig ist, und bejaht die Frage. Eine „Wahlfeststellung“, wie von Kästner7 vorgeschlagen, komme nur für wirkliche Grenzfälle infrage (168).

In einem nächsten Schritt prüft Mertesdorf, wie Weltanschauungsgemeinschaften definiert werden können. Nachdem sie bereits festgestellt hat, wie sie Weltanschauung beschreibt, untersucht sie ausführlich den Begriff der Gemeinschaft anhand einzelner Elemente wie personales Substrat, verbindender Konsens, Organisation, Relevanz organisatorischer Verschränkungen für den Status einer Gemeinschaft, Umfang der Zielsetzung, Teilaspekte des Lebens u. a. und weiterer Definitionsmerkmale wie wirtschaftliche Betätigung, Zulässigkeit politischer Betätigung. Letztlich definiert Mertesdorf den Begriff wie folgt: „Weltanschauungsgemeinschaft ist ein Zusammenschluss von Personen, die ein Minimum an organisatorischer Binnenstruktur aufweist, im Sinne der Gewähr der Ernsthaftigkeit auf Dauer angelegt ist und von einem sich nach außen manifestierenden gemeinsamen und umfassenden weltanschaulichen Konsens der Mitglieder getragen und dieser Konsens – soweit es um die Gemeinschaft als solche geht – nach außen bezeigt wird“ (243, vgl. 254). Diese Definition kann nachvollzogen werden, sie löst das Problem der unbestimmten Rechtsbegriffe allerdings auch nicht.

Gleichstellung von Weltanschauungs- und Religionsgemeinschaften

Die Formulierung in Art. 137 Abs. 7 WRV „Den Religionsgesellschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die ...“ stellt keinen Programmsatz dar, sondern gilt unmittelbar, da sich der religiös-weltanschaulich neutrale Staat entsprechender Bewertungen enthält. Die gleichstellende Einbeziehung der Weltanschauungsgemeinschaften in den Komplex der staatskirchenrechtlichen Grundnormen war ein wesentliches Element des staatskirchenpolitischen Kompromisses der Weimarer Reichsverfassung.8 Im Grundgesetz findet sich eine entsprechende Regelung im Grundrecht nach Art. 4 Abs.1 GG, das sowohl die Freiheit religiösen Bekenntnisses gewährleistet als auch die des weltanschaulichen Bekenntnisses. Auch im Hinblick auf das Diskriminierungsverbot in Art. 33 Abs. 1 S. 2 GG werden Bekenntnis und Weltanschauung gleichbehandelt.

Die Gleichstellung von Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsgemeinschaften betrifft auch alle durch Art. 140 GG geschützten Rechte, z. B. das Recht der Selbstordnung und -verwaltung in eigenen Angelegenheiten im Rahmen des für alle geltenden Gesetzes (Art. 137 Abs. 3 WRV). Auch einer Weltanschauungsgemeinschaft kann der Rechtscharakter einer Körperschaft des öffentlichen Rechts nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV verliehen werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Religionsgemeinschaften muss eine Vereinigung Gewähr für die Dauerhaftigkeit ihres Bestandes bieten. Dies hängt von ihrer „Verfassung“ im Sinne von tatsächlichem Zustand und von ihrem Mitgliederbestand ab (BVerfGE 102, 370). Auf eine Organisation als rechtsfähiger Verein o. Ä. kommt es nicht an. Auch ein Mindestmaß an „Amtlichkeit“ kann nicht verlangt werden, da gerade dies eine Frage des religiösen Selbstverständnisses sein kann. Außerdem muss die Vereinigung zumindest im Grundsatz bereit sein, Recht und Gesetz zu achten, darf nicht die Grundrechte Dritter in einem Maße beeinträchtigen, die zu einem staatlichen Eingreifen berechtigen oder gar verpflichten. Sie muss schließlich Gewähr dafür bieten, dass das Verbot einer Staatskirche sowie die Prinzipien von Neutralität und Parität unangetastet bleiben. Dagegen ist weder eine demokratische Binnenstruktur noch eine weitergehende Loyalität gegenüber dem Staat notwendig.9 Auch Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950, der die Bundesrepublik Deutschland beigetreten ist, wie auch Art. 9 der UN-Deklaration der Menschenrechte garantieren einen Schutz der weltanschaulichen Überzeugung.

Zur Gleichstellung von Weltanschauungsgemeinschaften und Religionsgemeinschaften stellt Mertesdorf zunächst die religionsverfassungsrechtliche Literatur dar (viertes Kapitel, 465-554). Ob die sehr schulmäßig dargestellten Meinungsunterschiede in der Literatur im Einzelnen tatsächlich so differieren, kann man fragen (z. B. beim sachlichen Geltungsbereich der Gleichstellungsnorm des Art. 137 Abs. 7 WRV benennt die Autorin sieben unterschiedliche Meinungen). Im Ergebnis spricht Mertesdorf sich dafür aus, die Gleichstellung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften auf das gesamte Religionsverfassungsrecht zu erstrecken. Dagegen sprechen jedoch Entstehungsgeschichte und Systematik. Abs. 7 bezieht sich offensichtlich auf die vorhergehenden Absätze des Art. 137 WRV. Aus ihrer Sicht sprechen aber die „tragenden Grundsätze des Staatskirchenrechts“ (484) dafür, Weltanschauungsgemeinschaften rechtlich immer wie Religionsgemeinschaften zu behandeln. Insbesondere dürften die „Grundsätze der Parität, Neutralität und Toleranz, die das heutige Staatskirchenrecht prägen, nicht außer Acht gelassen werden“. Dies führt die Verfasserin dann auf den nächsten vier (!) Seiten aus. Angesichts der Länge der Arbeit insgesamt ist die Aussage für den Angelpunkt der Arbeit recht kurz. Die Ausführungen entsprechen in der Tat der überwiegenden Meinung im Schrifttum. Fraglich ist jedoch, ob dies ausreicht, um eine Gleichstellung angesichts der historischen und systematischen Auslegung zu rechtfertigen. Mertesdorf argumentiert mit dem „Wandel hin zu einer verstärkt pluralistisch religiös bzw. weltanschaulichen orientierten Wertordnung“ und einer „zeitgemäßen Interpretation dieser Normen“ (499). Das kann politisch durchaus nachvollzogen werden, wenn sich die Umorientierung aus den von ihr dargelegten Grundsätzen ergibt. Eine schlüssige Ableitung im juristischen Sinne erfolgt jedoch nicht. Anders ist es bei Art. 4 GG, wo eine Differenzierung zwischen religiösem und weltanschaulichem Bekenntnis schon aufgrund des Wortlauts nicht möglich ist.10 Es spricht also vieles dafür, statt einer allgemeinen Gleichstellung (abgesehen von Art. 4 GG) eine Prüfung im Einzelfall vorzunehmen und dabei den Gleichbehandlungsgrundsatz zu beachten. Dies wird auch durch die nachfolgenden ausgesuchten Einzelfälle deutlich. Es sind Urteile von Verfassungs- und Verwaltungsgerichten aus verschiedenen Bundesländern. Die Stellung von Weltanschauungsgemeinschaften und Weltanschauungen in den Landesverfassungen untersucht Mertesdorf sehr ausführlich im fünften Kapitel ihrer Arbeit (555-712).

Einzelfälle aus der Rechtsprechungspraxis

Die Frage der Gleichstellung hat durchaus auch praktische Bedeutung. Wenn ein Bundesland den Kirchen und Religionsgemeinschaften das Recht einräumt, Schülerinnen und Schüler in allen Schulformen und Schulstufen in den Räumen der Schule in Übereinstimmung mit ihren Grundsätzen zu unterrichten (Religionsunterricht), haben Weltanschauungsgemeinschaften nach Ansicht des Verfassungsgerichts Brandenburg das gleiche Recht. Dies hat das Verfassungsgericht Brandenburg bzgl. der Verfassungsmäßigkeit von § 9 Abs. 2 Satz 1 BbgSchulG festgestellt und § 9 Abs. 2 Satz 1 BbgSchulG in der 2005 geltenden Fassung mit der Verfassung des Landes Brandenburg für unvereinbar erklärt.11 Mittlerweile werden in § 9 Abs. 8 „Vereinigungen zur gemeinschaftlichen Pflege einer Weltanschauung“ den Religionsgemeinschaften gleichgestellt.

Ein Anspruch auf Einführung von Weltanschauungsunterricht als ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen des Landes Nordrhein-Westfalen besteht dagegen nicht. Eine entsprechende Klage des Humanistischen Verbandes Nordrhein-Westfalen (Körperschaft des öffentlichen Rechts) gegen das Land Nordrhein-Westfalen hat das Verwaltungsgericht Düsseldorf abgelehnt. Aus der Glaubens-, Gewissens- und weltanschaulichen Bekenntnisfreiheit gemäß Art. 4 GG könne der Anspruch nicht hergeleitet werden, weil das Grundrecht weder ein bestimmtes Forum – die Schule – für eine Kundgabe von Überzeugung gewährleiste noch die Einrichtung eines bestimmten und einflussversprechenden Forums im Fächerkanon öffentlicher Schulen. Der Anspruch ergebe sich auch nicht aus Art. 7 Abs. 3 GG, wonach Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach sei. Denn Kooperationspartner des Staates im Sinne des Art. 7 Abs. 3 GG könne nur eine Religionsgemeinschaft, nicht hingegen eine Weltanschauungsgemeinschaft sein (vgl. Wortlaut: „Religionsgemeinschaften“). Das Grundgesetz privilegiere insoweit Religionsgemeinschaften und grenze demgegenüber Weltanschauungsgemeinschaften als Einflussfaktor im Bereich öffentlicher Schulen aus.12

Es besteht auch kein Anspruch auf Einführung von Ethikunterricht als Schulfach an der Grundschule in Baden-Württemberg. Eine entsprechende Klage hat der VGH Baden-Württemberg abgelehnt. Ein solcher Anspruch ergebe sich weder aus dem Grundgesetz noch aus der Verfassung des Landes Baden-Württemberg oder aus der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und ihres Zusatzprotokolls. Es falle in den Gestaltungsspielraum des Staates, inwieweit er es in Verwirklichung seines Erziehungsauftrags für erforderlich hält, Ethikunterricht anzubieten.13 Aus Art. 137 Abs. 7 WRV sowie dem sich aus Art. 4 und Art. 2 sowie Art. 4 LVerf ergebenden Prinzip der religiösen und weltanschaulichen Neutralität staatlichen Handelns sei im Grundsatz auch Weltanschauungsgemeinschaften unter den für Religionsgemeinschaften geltenden Voraussetzungen die Möglichkeit zu geben, bekenntnisgebundenen Weltanschauungsunterricht an den staatlichen Schulen zu erteilen. Dies gelte insbesondere, weil die Abgrenzung zwischen Religion und Weltanschauung im Einzelfall schwierig sein könne. Der Staat habe auf eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu achten und dürfe sich nicht mit einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft identifizieren. Allerdings müsse eine Weltanschauungsgemeinschaft, die bekenntnisgebundenen Unterricht erteilen will, vergleichbare Voraussetzungen aufweisen wie Religionsgemeinschaften. Es müsse insbesondere ebenfalls ein Zusammenschluss vorliegen, für den ein umfassender inhaltlicher Grundkonsens oder ein Bekenntnis wesentlich ist. Diese Maßstäbe lagen bei der Klägerin nicht vor. Beim Ethikunterricht handele es sich nicht um einen bekenntnisgebundenen Religions- oder Weltanschauungsunterricht, sondern um einen bekenntnisneutralen, inhaltlich vom Staat und nicht einer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft verantworteten Unterricht. Damit sei es im konkreten Fall auch irrelevant, ob die Klägerin einer Weltanschauungsgemeinschaft angehört und ob sie als Mitglied einer solchen – neben der Gemeinschaft – nach Art. 7 Abs. 3 GG und Art. 18 LVerf die Einführung von Weltanschauungsunterricht für ihr Kind verlangen könnte.

Der Bund für Geistesfreiheit Bayern (Weltanschauungsgemeinschaft und Körperschaft des öffentlichen Rechts) hat keinen Anspruch darauf, im Radioprogramm des Bayerischen Rundfunks häufiger als bisher und auf einem günstigeren Sendeplatz zu Wort zu kommen.14 Das Gericht hatte zu prüfen, ob die bestehende Regelung der rundfunkgesetzlichen Verpflichtung zur Einräumung „angemessener Sendezeiten“ für Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften rechtlich zutreffend ist. Die Angemessenheit der Sendezeit hänge von der gesellschaftlichen Bedeutung der einzelnen Gemeinschaft ab, wobei vorrangig auf den aktuellen Mitgliederbestand abzustellen sei. Angesichts der derzeitigen Mitgliederzahl von weniger als 5000 Personen (ca. 0,04 Prozent der bayerischen Bevölkerung) werde eine Gesamtdauer von 120 Sendeminuten im Jahr der gesellschaftlichen Bedeutung der Weltanschauungsgemeinschaft in jedem Falle gerecht. Die Wahl des Sendeplatzes sowie des konkret zugewiesenen Termins erachtet das Gericht ebenfalls als angemessen.

Fazit

Mertesdorf hat das Thema „Weltanschauungsgemeinschaften“ umfassend abgehandelt. Angesichts des Umfangs kann das Buch als Nachschlagewerk dienen. Die Autorin kommt zu folgendem rechtspolitischem Ergebnis: Aus den allgemeinen Gedanken des Staatskirchenrechts der Parität, Neutralität, Toleranz und Offenheit sind den Weltanschauungsgemeinschaften gleiche Rechte wie den Kirchen und Religionsgemeinschaften zuzubilligen. Den Schluss leitet sie aus „der multikonfessionellen Wirklichkeit der Gesellschaft“ ab. Diese rechtspolitische Forderung wird aber von Mertesdorf nur eingeschränkt rechtsdogmatisch entfaltet.

Während durch die Religionsfreiheit nach Art. 4 GG eine Gleichbehandlung von Religion und Weltanschauung erfolgt, bietet sich im Übrigen als Alternative eine Entscheidung im Einzelfall unter der Berücksichtigung des Gleichbehandlungsgebotes an. Dafür sprechen die o. g. verschiedenartigen Fallgestaltungen. Im übrigen Verfassungsrecht werden dadurch die Differenziertheit der konkreten Strömungen und Gruppen und die Vielfalt weltanschaulicher Orientierungen berücksichtigt.


Arno Schilberg, Detmold


Anmerkungen

  1. Evangelisches Staatslexikon, hg. von Werner Heun u. a., Stuttgart 42006 (einschlägige Artikel); Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht, hg. von Axel Freiherr von Campenhausen u. a., drei Bde., Paderborn 2000/2002/2004; Axel Freiherr von Campenhausen/Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht. Eine systematische Darstellung des Religionsverfassungsrechts in Deutschland und Europa, München 42006; Bernd Jeand‘Heur/Stefan Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, Stuttgart u. a. 2000; Jörg Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung mit kirchenrechtlichen Exkursen, Neuwied 22008; Peter Unruh, Religionsverfassungsrecht, Baden-Baden 22012; Joseph Listl/Dietrich Pirson (Hg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, zwei Bde., Berlin 21994/1995.
  2. Martin Morlok, Kommentierung zu Art. 4, in: Horst Dreier (Hg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1 Präambel, Artikel 1-19, Tübingen 22004, Art. 4 Rn. 54.
  3. Vgl. Reinhard Hempelmann, Weltanschauung, in: MD 12/2008, 471-474.
  4. BVerwG NJW 1992, 2496.
  5. Alexander Hollerbach, Weltanschauungsgemeinschaften, in: Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. 5, 927.
  6. BVerwGE 61, 152. Die faktische Bedeutung der Gesetze hat sich durch das Wehrrechtsänderungsgesetz 2010 deutlich verändert.
  7. Karl-Hermann Kästner in: ZevKR 34 (1989), 260 (267ff).
  8. Verankerung von Weltanschauungsgemeinschaft und Weltanschauung in ihrer historischen Dimension unter Berücksichtigung der gesellschaftspolitischen Determinanten bei Mertesdorf 47-84.
  9. Im dritten Kapitel werden bei Mertesdorf Weltanschauungen und Weltanschauungsgemeinschaften dargestellt (256-465). Es finden sich 51 Untergliederungspunkte von A wie Anthroposophie und Anthroposophische Gesellschaft bis Z wie Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung. Die Verfasserin untersucht, ob es sich jeweils um eine Weltanschauung bzw. eine Weltanschauungsgemeinschaft im Sinne ihrer Definitionen handelt. Insofern ist das Kapitel nachvollziehbar. Angesichts der Dynamik in einzelnen Feldern könnte es allerdings sinnvoll sein, sich über den aktuellen Stand im Internet zu informieren. Vgl. auch zu einzelnen Weltanschauungen: Hans Gasper / Joachim Müller / Friederike Valentin (Hg.), Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen, Freiburg i. Br. 61999; Reinhard Hempelmann u. a. (Hg.), Panorama der neuen Religiosität, Gütersloh 22005; Helmut Obst, Apostel und Propheten der Neuzeit, Göttingen 42000; Hans Krech / Matthias Kleiminger (Hg.), Handbuch Religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen, Gütersloh 62006.
  10. Jörg Winter, Staatskirchenrecht, a.a.O., 252.
  11. Urteil des VerfG Brandenburg vom 15.12.2005, NJW 2006, 3133 (Ls.); DVBl 2006, 267 (Ls.); DÖV 2006, 258; NVwZ 2006, 1052.
  12. Urteil des VG Düsseldorf vom 2.2.2011, Az.: 18 K 5288/07, NRWE (Rechtsprechungsdatenbank NRW).
  13. VGH BW, Urteil vom 23.1.2013 – 9 S 2180/12, DVBl. 2013, 519. Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Beschluss vom 3.7.2013 (BVerwG 6 B 17.13) die Entscheidung des VGH über die Nichtzulassung der Revision gegen sein Urteil aufgehoben und die Revision zugelassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, vgl. www.bverwg.de .
  14. VGH Bayern, Urteil vom 29.1.2007 (7 BV 06.764), www.VGH.Bayern.de .