Weltethos

Das „Projekt Weltethos“ ist eng mit dem Namen Hans Küng (geb. 1928 in Sursee/Schweiz) verbunden, der im globalen Kontext einer der bekanntesten deutschsprachigen christlichen Gegenwartstheologen ist. Angesichts des Mangels an ethischen Orientierungen und sozialen Bindungen und Werten entwickelt Küng einen „moralischen Kompass“: das „Projekt eines elementaren gemeinsamen Kernethos, eines Menschheitsethos, eines Weltethos“.1 Es knüpft an die hellenistische Tugendlehre an, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung (1776), die Ideale der Französischen Revolution (1789) und an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen (1948).

Der Blick kann freilich noch weiter zurückgehen. Nach Küng lassen sich bereits 500 Jahre vor unserer Zeitrechnung Impulse in der konfuzianischen Tradition finden: das Humanitätsprinzip (jeder Mensch soll wahrhaft menschlich behandelt werden) und das Prinzip der Gegenseitigkeit. „Die Idee eines gemeinsamen Menschheitsethos stellt ein modernes Echo besonders auf die alten Weisheiten Chinas dar.“2 Sofern die Ethik der Religionen und Kulturen dem Humanen dienlich ist, soll sie universal verbindlich sein.

Anliegen

Im „Projekt Weltethos“ wird den Religionen eine zentrale Bedeutung für die Stärkung interkultureller und interreligiöser Verständigung beigemessen. Ebenso wird der Beitrag eines Weltethos zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung hervorgehoben. Dabei geht Küng von einem hohen Maß an Gemeinsamkeit zwischen den Religionen aus und weist ihnen für die Ausbildung eines Weltethos eine zentrale Rolle zu: „Kein menschliches Zusammenleben ohne ein Weltethos der Nationen“. Die Fortsetzung dieser Programmatik lautet „Kein Weltfriede ohne Religionsfriede“ und ist in einem dritten Schritt verbunden mit einem entschiedenen Plädoyer für den Dialog der Religionen. „Religionen können auch im Positiven, im Aufbauenden unendlich viel leisten und haben viel geleistet. Sie können durch Individuen, religiöse Gruppen oder auch ganze Religionsgemeinschaften in nachhaltiger Weise für Frieden, soziale Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit und Nächstenliebe in der Welt eintreten. Sie können Grundhaltungen wie Friedfertigkeit, Machtverzicht und Toleranz propagieren und aktivieren.“3 Küngs Projekt ist 1993 mit der Deklaration des Parlaments der Weltreligionen (gegründet 1893 in Chicago als Forum der Religionsbegegnung) aufgegriffen worden, die sich auf vier Grundgebote konzentrierte: Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben, Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Weltwirtschaftsordnung, Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit, Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und Partnerschaft von Mann und Frau.4 Ebenso kann Küngs Weltethos anknüpfen an zentrale Anliegen der 1970 gegründeten „Weltkonferenz der Religionen für den Frieden“ (WCRP). Die Weltethoserklärung unterstreicht und ergänzt den Katalog der Menschenrechte durch verbindliche Menschenpflichten, die auch für alle nichtreligiösen Menschen gelten.

Wirkungen

1995 wurde von Küng die Stiftung Weltethos für interkulturelle und interreligiöse Forschung, Bildung und Begegnung gegründet. Diese wurde gefördert durch den Unternehmer Karl Konrad Graf von der Groeben, der das von Küng geschriebene Buch „Projekt Weltethos“ „mit Begeisterung gelesen hatte und sich dann entschloss, für die Unterstützung und Verbreitung der Weltethos-Idee eine namhafte Summe bereitzustellen“5. Die Stiftung möchte ethische und interkulturelle Kompetenz vermitteln. Vergleichbare Initiativen gibt es auch in Österreich, in der Schweiz, ebenso in weiteren Ländern, u. a. in Peking.

Internationale und interdisziplinäre Rezeptionen und kontroverse Diskussionen zum Weltethos gibt es u. a. im Bereich philosophischer Ethik im Blick auf die Frage der Begründung einer universalen Ethik, ebenso im Kontext von Friedenspolitik und im Bereich der Erziehungswissenschaften (interreligiöses und interkulturelles Lernen). In der Religionspädagogik fand das Weltethos besondere Beachtung. Johannes Lähnemann versteht es als zentrale pädagogische Herausforderung und unterstreicht: „Keine Bemühung um den Frieden zwischen den Religionen, um den Dialog der Religionen und die nötige Grundlagenarbeit in den Religionen ohne interreligiöses und ethisches Lernen.“6

Das Projekt Weltethos ist teilweise mit Grundorientierungen der pluralistischen Religionstheologie verknüpft, in denen dafür plädiert wird, eine göttliche Wirklichkeit hinter den verschiedenen Religionen und ihren sehr unterschiedlichen Symbolsystemen und lehrhaften Ausprägungen zu sehen. Die Konzentration religiöser Traditionen auf ethische Handlungsimpulse kann allerdings auch unabhängig von religionstheologischen Perspektiven zur Geltung gebracht werden.

Um den Bewusstseinswandel im Ethos auf allen Ebenen der Gesellschaft und in allen Regionen der Erde voranzutreiben, führt die Stiftung Weltethos weltweit unterschiedlichste Projekte durch. 2012 wurde in Kooperation mit der Universität Tübingen das Weltethos-Institut gegründet, das u. a. wirtschaftsethische Themen in globaler Perspektive schwerpunktmäßig behandelt.

Zahlreiche Politiker und Personen des öffentlichen Lebens haben in der Aula der Tübinger Universität Weltethos-Reden gehalten und damit ihre Unterstützung des Projekts zum Ausdruck gebracht: u. a. Tony Blair, Mary Robinson, Kofi Annan, Horst Köhler, Jacques Rogge, Helmut Schmidt, Desmond Tutu, Paul Kirchhof, Winfried Kretschmann.

Einschätzungen

Das Projekt Weltethos ist formuliert als Antwort auf die Wahrnehmung von Krisen: Ambivalenz technisch-wissenschaftlicher Errungenschaften, Zusammenbruch eines Fortschrittsglaubens, „Grenzerfahrungen des Machbaren“.7 Es scheint nahezuliegen, angesichts einer globalen Wirtschaft auch ein globales Ethos zu fordern. Einem Weltethos fehlen allerdings ein konkretes Subjekt und ein korrespondierendes Recht, das seine Durchsetzung ermöglicht. Friedenserklärungen von Religionsführern dürfen in ihrer politischen Bedeutung nicht überschätzt werden. Der Dialog der Religionen ist in pluralistischen Gesellschaften fraglos ein Gebot der Stunde, zugleich jedoch kein Allheilmittel zur Pazifizierung von Religionskonflikten. Ein globales Ethos setzt mehr oder weniger einen moralischen Enthusiasmus voraus, der denjenigen zu wenig in den Blick nimmt, der universale Verantwortung übernehmen soll, den Menschen in seiner Ambivalenz, seiner Fähigkeit zur Liebe und zum Hass, zum Frieden und zur gewaltsamen Durchsetzung von Interessen, zur Großzügigkeit und zur Rücksichtslosigkeit.

Damit wird eine Zusammenschau und Verbindung von Religion und Ethik nicht bestritten. Sie besteht darin, dass Religionen Grundüberzeugungen und Orientierungen ins Spiel bringen, die ethisches Handeln begründen und legitimieren. Gerade das kommt in dem Küng‘schen Konzept aber zu kurz. „Das ‚Projekt Weltethos’ interessiert sich, jedenfalls dem Anschein nach, mehr für die moralischen Früchte als für den Baum und dessen Wurzeln, aus denen heraus diese Früchte freilich erst erwachsen ... Müsste das Projekt Weltethos nicht konsequenterweise, statt jener ‚vier unverrückbaren Weisungen’, gerade die Glaubensweisen, die Gottesbeziehungen und Manifestationen des Heiligen in den Vordergrund rücken bzw. sie als das bezeichnen, worauf die Menschen sich zurückbesinnen sollten?“8 Die ethische Orientierungskraft der Religionen bleibt ja nur in dem Maße erhalten, in dem es gestaltetes und den Alltag bestimmendes religiöses Leben gibt. Dieser zentrale Sachverhalt wird im Projekt Weltethos nicht hinreichend berücksichtigt. Zwar wird festgestellt, dass mit dem Projekt Weltethos „keine einheitliche Weltreligion“, auch nicht eine Ablösung der Weltreligionen durch Ethik beabsichtigt sei. Aber müsste das Projekt Weltethos nicht angesichts zahlreicher krisenhafter Entwicklungen deutlicher die Glaubensweisen, die Manifestationen des Heiligen ins Zentrum rücken? Die Krise der Ethik wird kaum mit weiteren ethischen Appellen überwunden werden können.

Die Suche nach kultur- und religionsübergreifenden Prinzipien ist eine Stärke des Projekts. Es leuchtet ein, wenn Küng dabei auf die Goldene Regel der Menschlichkeit zurückgreift, die offenbar tief im Rechtsbewusstsein der Völker verankert ist und sich in unterschiedlichen religiösen und ethisch-philosophischen Traditionen findet: „Was du selbst nicht wünschst, das tue auch nicht anderen Menschen an“ (Konfuzius). Im Munde Jesu von Nazareth findet sich die positive Formulierung: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch“ (Mt 7,12). Reziprozität, Wechselseitigkeit ist eine Grundfigur der Sozialität. Sie begründet ein Gemeinschaftsverhältnis und ist bestimmend als Handlungsmaxime, auch in einer gewissen Unabhängigkeit von religiösen Traditionen. Die Goldene Regel ist gewissermaßen Menschheitsethos, freilich eine formale Orientierung, die der konkreten Inhaltlichkeit noch bedarf und die es ganz unabhängig vom Projekt Weltethos gibt. Für ein friedliches Zusammenleben der Menschen ist eine „aufgeschlossene Gutwilligkeit“ nötig, die sich in dem Satz zusammenfassen lässt: „Beachte, dass die anderen bedürftige Menschen sind wie du selbst, und handle demgemäß!“9 Auch wenn eine genaue Ausformulierung erst später erfolgte, lässt sich diese Regel lebensfördernder Wechselseitigkeit in verschiedenen Lebensbereichen (Recht, Familie, Wirtschaft, Politik) erkennen.

Insofern Küngs Projekt diesem weisheitlichen Menschheitsethos auf der Spur ist, ist ihm zuzustimmen. Seine Verbindlichkeit gewinnt ein „Weltethos“ allerdings erst im Zusammenhang mit dem Wahrheitsbewusstsein konkreter religiöser Traditionen. Als globales Konzept, das zur Verständigung zwischen Religionen und Kulturen beitragen will, stellt es eher eine Problemanzeige als eine Problemlösung dar und bleibt hinter seinem Anspruch zurück.


Reinhard Hempelmann


Anmerkungen

1 Küng 2013, 440.
2 Küng 2013, 441.
3 Küng 1990, 100.
4 Vgl. Küng 1997, 155f.
5 www.weltethos.org/die%20stiftung (abgerufen am 2.4.2017).
6 Lähnemann 2015.
7 Vgl. Küng 1990, 31-35.
8 Gestrich 2000, 51.
9 Wilhelm Kamlah, Philosophische Anthropologie, Mannheim 1973, 95f.


Literatur

Christof Gestrich, Gesichtspunkte evangelischer Theologie zum „Projekt Weltethos“, in: ders. (Hg.), Moral und Weltreligionen, BThZ, Beiheft 2000, 49-57
Hans Küng, Projekt Weltethos, München 1990
Hans Küng, Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft, München 1997
Hans Küng, Erlebte Menschlichkeit. Erinnerungen, München/Zürich 2013, 442-508
Hans Küng/Karl-Josef Kuschel, Wissenschaft und Weltethos, München/Zürich 1998
Hans Küng/Angela Rinn-Maurer, Weltethos christlich verstanden, Freiburg i. Br. u. a. 2005
Johannes Lähnemann (Hg.), „Das Projekt Weltethos“ in der Erziehung, Hamburg 1995
Johannes Lähnemann, Weltethos, 2015, www.bibelwissenschaft.de/wirelex/das-wissenschaftlich-religionspaedagogische-lexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/weltethos/ch/d16cef06a57e4e750c2059d74dd9b829