Joachim Kahl

Weltlicher Humanismus. Eine Philosophie für unsere Zeit

Joachim Kahl, Weltlicher Humanismus. Eine Philosophie für unsere Zeit, Lit Verlag, Berlin 42009, 260 Seiten, 18,90 Euro.


Joachim Kahls „Weltlicher Humanismus“ hat innerhalb von drei Jahren vier Auflagen erlebt. Das lässt aufhorchen. Wie erklärt es sich, dass sein Buch so gut ankommt? Wer sind die Leserinnen und Leser, die sich für das interessieren, was er schreibt? Er weiß, dass wir Menschen „sinnbedürftige und sinnfähige Wesen“ sind (123), und empfiehlt „nachdenkliche Distanz zu sich selbst und zur Welt“ (15). Er vertritt eine „skeptische Vision“, die eine Perspektive aufzeige „für dieses eine Leben im Schoße dieser einen Menschheit in dieser einen Welt auf diesem einen Erdball mit Hilfe dieser einen Vernunft“ (30). Er wiederholt zwar einige der üblichen Argumente für den Atheismus – es existiere kein Gott, „der die Welt geschaffen hat“ oder „Tiere und Menschen aus ihrem Leben erlöst“ (106). Er bekennt sich aber zu einem Naturalismus, dem der blanke Materialismus zu eng ist und der in der Diskussion mit Evolutionstheorie und Hirnforschung entfaltet wird. Diese Position erlaube ein „wohldurchdachtes Ja zu Metaphysik“ und ein ebenso „wohldurchdachtes Nein zu Religion“ (66ff, 85ff). Das Absolute, von dem auch Kahl spricht, gewähre „Halt, aber kein Heil“ (76ff). Die noch immer verführerische Kraft der Religion begegnet dem humanistischen Philosophen im 23. Psalm oder in Bonhoeffers Zeilen „Von guten Mächten wunderbar geborgen“. Er habe aber „seit langem begriffen“, dass dies „ein Exempel für autosuggestives Wunschdenken“ ist (90f). Er wendet sich gegen die Vorstellung, der Mensch könne ohne Religion nicht gedacht werden. Aber „Religion ist und bleibt nur eine menschliche Möglichkeit ... Die Freiheit von Religion tritt gleichrangig neben die Freiheit zu Religion“ (89). Das heute Europa bestimmende säkulare Bewusstsein könne sich „in einer ehrwürdigen Tradition der Religionsindifferenz, Religionskritik, Religionslosigkeit“ wissen (88).

Er lehnt Religion ab, bejaht aber Spiritualität; er versucht, beides klar voneinander zu trennen. Religion sei durch die Koordinaten „Gläubigkeit“ und „Heiligkeit“ zu bestimmen; mit der Spiritualität aber verhalte es sich ganz anders; „philosophische Spiritualität“ sei „... – ganz unreligiös – eine vernunftgemäße Einsicht ..., die gemüthaft vertieft, emotional verwurzelt und insofern lebbar ist: die Einheit von Verstandestätigkeit und Herzensbildung“. Er beruft sich auf Pascals „Logik des Herzens“(4). „Spiritualität“ sei von christlicher Frömmigkeit usurpiert; Kahl will sie „weltlich-humanistisch aneignen, retten, reinigen, positiv besetzen ...“ Jeder Mensch habe spirituelle Bedürfnisse, aber es sei „unredlich, bereits diese Bedürfnisse selbst zu vereinnahmen“ und „mit Hilfe eines weit gefassten, funktionalistischen Religionsbegriffs jeden Sinnsucher zum Gottsucher zu mystifizieren“ (94f). Das Ganze mündet in eine wohltemperierte humanistische Ethik, die sich im „Gentleman-Ideal“ ausspricht, aber auch den Dekalog, jedenfalls in seiner zweiten Tafel, würdigen und sinnvolle Detail-Vorschläge machen kann (194ff, 183ff). So wird beispielsweise eine verpflichtende „Elternschulung und Elternfortbildung“ empfohlen (211).

Das Christentum, von dem Kahl sich vor Jahren unmittelbar nach seiner theologischen Promotion losgesagt hat, kommt bei alledem nicht gut weg. Jesus mit seinem aufgeblähten Missionsbefehl „schrumpft zusammen zu einer tragikomischen Figur aus dem Lande Liliput“ (83). Kahls Polemik bewegt sich m. E. gelegentlich unter seinem Niveau. Muezzinruf und Glockenläuten sind ihm „viel Lärm um nichts“ (121).

Warum kommt das Buch gut an? Es ist in einem beinahe seelsorglichen Ton geschrieben. Es lädt beschwörend ein: „Komm mit ins Land der Philosophie“ (1ff). Es wendet sich an Menschen mit christlichem oder jedenfalls religiösem Hintergrund, die nach Sinn fragen, ihn aber beispielsweise in den Kirchen nicht finden. Es bedient die Sehnsucht von Menschen, die in die Areligiosität abgleiten und doch nicht in ihr versinken wollen. Joachim Kahl – ein „philosophischer Anselm Grün“. Er nimmt die Fragen, wie sie heute ganz selbstverständlich gestellt werden, ernst. Sein Buch sollte auch die seiner Meinung nach im Umdeuten von Glaubenssätzen erfinderischen „besoldeten Diener und Dienerinnen des Herrn“ (83) interessieren, sofern sie verstehen wollen, in welchem Niemandsland sich viele Zeitgenossen heute bewegen und wie sie sich philosophisch und spirituell zu helfen wissen.


Hans-Martin Barth, Marburg