Wer bestimmt den Kurs?

Ein Interview mit Hans-Jürgen Twisselmann über die „Leitende Körperschaft“ der Zeugen Jehovas

1958 gründete Hans-Jürgen Twisselmann (Jg. 1931) in Zusammenarbeit mit einigen anderen ehemaligen Zeugen Jehovas den „Bruderdienst Missionsverlag“. Zuvor war er fünf Jahre lang aktives Mitglied der Zeugen Jehovas gewesen. Nach seinem Ausstieg studierte er evangelische Theologie und war als Gemeindepastor, später im Rahmen eines Dienstauftrags der Nordelbischen Kirche in der Sektenberatung tätig. Seit seiner Pensionierung engagiert sich Twisselmann weiterhin im „Bruderdienst“. Das überkonfessionelle Werk gibt seit über 50 Jahren die Zeitschrift „Brücke zum Menschen“ heraus (vgl. MD 12/2008, 469f), bietet Beratungsgespräche an und betreibt seit 2010 zwei informative Internetseiten, die zu den meistbesuchten Portalen über die Zeugen Jehovas im deutschsprachigen Raum zählen (www.bruderinfo.de; www.bruderinfo-aktuell.de). Für Mitglieder von geschlossenen religiösen Gruppen ist das Internet oft die einzige Möglichkeit, externe Meinungen und Erfahrungen über die eigene Gemeinschaft zu erhalten. Wir dokumentieren im folgenden Text Ausschnitte eines Interviews, das mit Hans-Jürgen Twisselmann geführt wurde.


Frage: Nach Ihrem Ausstieg aus der Religionsgemeinschaft Jehovas Zeugen (ZJ) haben Sie in Ihren Publikationen von einem dramatischen Machtwechsel innerhalb der Organisation berichtet. Hat sich dadurch bei den ZJ Wesentliches verändert?

Twisselmann: Ja und nein. Ursprünglich stand an der Spitze der amerikanischen „Watch Tower Bible and Tract Society“ (Wachtturm-Gesellschaft oder WTG) ein Präsident, der die Organisation als Alleinherrscher regierte. 1976 wurde die Leitung nach internen Machtkämpfen an die „Leitende Körperschaft“ übergeben. Wer jedoch von diesem Machtwechsel eine Demokratisierung und Liberalisierung erwartet hatte, sah sich getäuscht. Denn erstens besteht die Leitende Körperschaft aus Schülern der früheren WTG-Präsidenten Joseph F. Rutherford und Nathan H. Knorr. Zweitens ist sie nicht auf dem Wege freier und demokratischer Wahlen in ihr Amt gekommen. Und drittens trat an die Stelle des früheren Einmannsystems ein bürokratischer Apparat, der in ähnlicher Weise Kontrolle ausübt.

Wir haben es auch nach dem Ende des Einmannsystems noch mit einer Diktatur zu tun?

Ja! Das hat auch historische Gründe. Während der Präsidentschaft Charles T. Russells nannten sich dessen Anhänger bekanntlich „Ernste Bibelforscher“, was ja für suchende Menschen individuelle Freiheit und selbstständige Schriftforschung vermuten ließ und daher auch ein relativ schnelles Anwachsen dieser Gemeinschaft begünstigte. Der Nachteil: Weil jede(r) meinte, nach eigenem Gusto die Bibel auslegen zu können, kam es immer wieder zum Streit um die richtige Auslegung oder „die reine Lehre“. Als Russell 1916 starb, ohne dass sich seine Weltende-Prognosen im Jahr 1914 oder in der Folgezeit erfüllt hätten, wurde erst recht der Ruf nach einem „starken Mann“ laut. Russells Amtsnachfolger Rutherford hat diese Erwartungen erfüllt, aber auf Kosten der Freiheit. Unter seinem autoritären Regime wurde innerhalb weniger Jahre aus der ursprünglich freiheitlichen Gemeinschaft eine totalitäre Organisation. Immerhin gehören die erwähnten Zustände der Russell-Ära seither der Vergangenheit an, und auch die Leitende Körperschaft möchte offensichtlich einen Rückfall in jene Zustände verhindern. Ein nachhaltiger geistlicher Neuanfang sieht jedoch anders aus.

Sie haben von einem internen Machtkampf bei der WTG gesprochen, in einem Werk also, das sich als das einzige wahrhaft christliche versteht. Wie konnte es denn dazu kommen?

Zum besseren Verständnis dieser Vorgänge werfen wir am besten einen Blick auf die Entstehungsgeschichte der Leitenden Körperschaft. Sie verlief in drei Phasen:

Die erste Phase: Bald nach Beginn seiner Präsidentschaft (1942) ließ Nathan H. Knorr im „Wachtturm“ immer wieder verlauten, an der Spitze der „Theokratischen Organisation“ stehe eine Leitende Körperschaft. Später hieß es sogar, die WTG sei nur ein Verwaltungsorgan, das der Leitenden Körperschaft „vorübergehend nützliche Dienste leisten“ solle. Es ist anzunehmen, dass Knorr nach bitteren Erfahrungen während Rutherfords Einmanndiktatur tatsächlich von einer solchen kollektiven Leitung geträumt hat. Faktisch aber blieb es fast 30 Jahre lang bei den verbalen Beteuerungen. Ungezählte ZJ aber werden sich – wie auch ich selbst – immer wieder gefragt haben, wo und seit wann denn eine derartige Einrichtung überhaupt existierte. Präsident Knorr sah sich daher genötigt, die Wirklichkeit an die 30 Jahre lang den ZJ vorgegaukelte Theorie „anzupassen“.

Die zweite Phase: 1971 wurde durch das Aufstocken des völlig unbedeutenden Direktoriums der WTG tatsächlich ein Gremium geschaffen, das man „leitende Körperschaft“ nannte. Im Rückblick auf dieses Ereignis verkündete der Wachtturm vom 1.4.1972: „Die Tatsachen sprechen lauter als Worte. Die leitende Körperschaft ist vorhanden. Dankbar und mit Überzeugung erklären Jehovas christliche Zeugen, dass ihre Organisation kein Einmannsystem ist.“ Raymond Franz, Neffe des damaligen WTG-Vizepräsidenten, der bis zu seinem Bruch mit der WTG diesem Gremium angehörte, sagte jedoch in seinem Buch „Der Gewissenskonflikt“, das sei „einfach nicht wahr“, denn die sogenannte Leitende Körperschaft habe über keinerlei Leitungskompetenzen verfügt. Ihre Mitglieder hätten sich daher gefragt, wer denn nun für wen „vorübergehend nützliche Dienste leisten“ müsse.

Die dritte Phase: Tatsächlich kam es in der Leitenden Körperschaft in Anwesenheit des Präsidenten Knorr und seines „Vize“ zu einem regelrechten Aufstand. Grant Suiter, Sekretärkassierer der WTG und Mitglied der Leitenden Körperschaft, brachte seine Empörung über das unseriöse Spiel der WTG zum Ausdruck, und mit rotem Kopf erklärte er abschließend: „Wenn wir jetzt eine leitende Körperschaft sein sollen, dann soll es aber auch losgehen mit dem Leiten! Ich habe bisher jedenfalls noch nichts zu leiten gehabt.“ Unter dem Eindruck dieser Rede raffte sich Knorr zu einer Erklärung auf, in der er vorschlug, einen Plan aufzustellen mit dem Ziel, dass „die leitende Körperschaft die Führung unter den Zeugen Jehovas übernimmt. Ich werde mich weder dafür noch dagegen äußern.“ In der Folgezeit suchte er die Verwirklichung dieses Plans zu verhindern, sodass es zu dem erwähnten Machtkampf kam, an dessen Ende die WTG ihr Führungsmonopol tatsächlich an die Leitende Körperschaft abgeben musste.1 Die Umorganisation trat ab 1.1.1976 offiziell in Kraft.

In einem Ihrer Bücher haben Sie darauf hingewiesen, dass die ZJ-Führung es meisterhaft verstehe, Ängste und Sehnsüchte der Menschen, aber auch ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft für sich zu nutzen.

Ja, das stimmt. Um nur ein Beispiel aus der Zeit der WTG-Präsidenten zu nennen: In der Zeitschrift „Erwachet!“ vom 1.4.1969 veröffentlichte die WTG den Werbespot „Sichere dir eine schöne Zukunft!“ und verhieß damit etwas, von dem ihr selbst klar sein musste, dass sie es nicht realisieren konnte. Die Menschen, die sich auf die Versprechen der WTG verlassen haben und für die ZJ missionieren, sollten wir nicht als Täter, sondern als Opfer betrachten. Wenn Zeugen Jehovas andere Menschen zum Konvertieren verführen, dann nur deshalb, weil sie selbst verführte Verführer sind – ideologisierte Marionetten.

Bestehen Ihrer Meinung nach Parallelen zu politischen Ideologien?

Durchaus! Ich sehe – bei aller notwendigen Unterscheidung – besonders an zwei Stellen gefährliche Gemeinsamkeiten: Erstens setzen sie alle ihr System absolut. Sie maßen sich an, darüber zu bestimmen, was in ihrem Herrschaftsbereich als Wahrheit bzw. als ethisches Handeln zu gelten hat. Zweitens ist für Andersdenkende in ihrem „Arbeiter- und Bauern-Paradies“, „Reich“ oder „Königreich“ kein Platz. Selbst ihre linientreuen Anhänger müssen gestehen: „Wehe denen, die sich gegen unser System auflehnen!“ Kritik wagende Mitglieder werden als Verräter gebrandmarkt und zur Rechenschaft gezogen.2 Gleichwohl sprechen diese Ideologen von Freiheit – Freiheit, die sie meinen.


01.12.2015

 

Anmerkungen

  1. Ausführlich berichtet in: Raymond Franz, Der Gewissenskonflikt, Bruderdienst-Missionsverlag, Hamburg 42006, 90ff.
  2. In jüngster Zeit erfährt die Leitende Körperschaft in zunehmendem Maße deutliche Kritik aus den Reihen der ZJ. Als Ursache sind zwei Faktoren zu nennen: 1. das im Vergleich zum vorigen Jahrhundert deutlich höhere Bildungsniveau in der westlichen Welt, das sich auch bei den ZJ ausgewirkt hat (was zum Beispiel Kritikfähigkeit betrifft). 2. Die Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten, die das Internet bietet, werden von den ZJ genutzt. Offen bleibt die Frage, wie die Leitende Körperschaft jetzt und künftig auf ihre internen Kritiker und deren Mahnungen reagiert.