Wer Hexe ist, bestimme ich. Zur Konstruktion von Wirklichkeit im Wicca-Kult
Oliver Ohanecian, Wer Hexe ist, bestimme ich. Zur Konstruktion von Wirklichkeit im Wicca-Kult, EB-Verlag, Schenefeld 2005, 196 Seiten, 14,80 Euro.
Die Selbstbezeichnung von Menschen, eine „Hexe“ zu sein, erlebt im Kontext neuer Religiosität eine neue Konjunktur. Anleitungsbücher und Ritualratgeber für die individuelle Hexenpraxis gibt es viele, kritische Beiträge zu diesem Phänomen sind eher eine Rarität. Wie der Titel des vorliegenden Buches anzeigt, begreift der Verfasser den Wicca-Kult als stark individualisierte Religiosität. Bei seinem Beitrag handelt es sich um die überarbeitete Fassung einer Magisterarbeit, die der Verfasser an der Universität Göttingen im Fach Ethnologie eingereicht hat. Er geht besonders der religiösen Praxis des neuheidnischen Wicca-Kultes nach. Dabei stützt er sich nicht nur auf vorliegende zumeist englische Quellenliteratur aus der Hexen-Szene, sondern bezieht auch eigene Feldforschungen in seine Überlegungen mit ein.
Demnach begreift Wicca sich als Gegenentwurf zu einer disharmonischen und „aus dem Gleichgewicht geratenen Kultur“ (12). Nach methodologischen Vorklärungen (9-22) wird eine „konventionelle Perspektive“ auf den Hexenkult (23-62) eröffnet. Der Verfasser nimmt etymologische und begriffsgeschichtliche Klärungen vor und hebt den Wicca-Kult vom gängigen, meist mythologisch unterfütterten Hexen-Begriff ab. Ebenso kritisch setzt er sich mit dem Selbstverständnis des Wicca-Kultes als ur-schamanische Praxis auseinander. Demgegenüber sieht Ohanecian den Wicca-Kult von verschiedenen geistesgeschichtlichen und religiös-weltanschaulichen Ideen (Romantik, Theosophie, Germanen- und Kelten-Renaissance) des frühen 19. Jahrhunderts beeinflusst. Spuren dieser „heidnischen Renaissance“ spiegeln sich in den Hexen-„Konzepten“ des Hobby-Ethnologen Charles Geoffrey Leland („Aradia“) und der englischen Ägyptologin Margaret Alice Murray wider. Beide Konzepte gehen von der wissenschaftlich nicht haltbaren These aus, dass sich Reste eines vorchristlichen Hexenkultes in Europa in „geheimen“ Überlieferungen bzw. in der Literatur der Hexenverfolger finden ließen. Prägende Einflüsse auf die Wicca-Bewegung übten auch die Ideen des Okkultisten Aleister Crowley aus, die sich vor allem bei Gerald Brosseau Gardner, dem Begründer des britischen sog. Gardnerianischen Wicca-Kultes, finden ließen.
Den eigentlichen Beginn der Neuen-Hexen-Bewegung sieht Ohanecian im Aufkommen der Frauenbewegung Ende der 1970er Jahre in Italien und kurz darauf auch in Deutschland. 1990 schuf Vivianne Crowley mit der Gründung des Pan-European Wiccan Convention (PEWC) ein internationales Netzwerk für Wicca-Anhänger.
Mit „Mythos, Selbstverständnis und Ritual im Wicca-Kult“ befasst sich der vierte Abschnitt des Buches (63-117). Hier verschmelzen Sachinformationen mit persönlichen Erfahrungen im Zuge der teilnehmenden Beobachtung bei Wicca-Ritualen, insbesondere den darin praktizierten drei Initiationsgraden. Hier finden sich auch interessante Detailinformationen über gebräuchliche magische Utensilien (Robe, Athame), Symbolik und den „Festkalender“. Darin eingestreut sind auch die wichtigsten weltanschaulichen Grundlagen des Wicca-Kultes. Ohanecian arbeitet die damit verbundenen ethischen Implikationen wie Macht, Individualität und Autonomie des Wicca-Kultes heraus und folgert: „Die Ethik ist (...) im Grunde eine Pseudoethik: Da es keine allgemein verbindlichen Regeln geben darf, kann es auch keine Ethik geben.“ (117) Der sich daran anschließende analytische Teil steht unter der Überschrift „Das hässlich Eigene, das schöne Fremde und die Hexe als das Fremde im Eigenen“ (118ff).
Wichtige Grundelemente im Wicca-Kult sind nach Meinung des Verfassers der Geschichtsmythos, der Begriff der Hexe, der aus diesem Mythos gewonnen wird, und die Initiation. Damit verbunden sind Individualität und Exklusivität: „So besteht die Macht der Wicca-Hexe vor allem darin, dass sie die individuelle Definitionsmacht über die für sie wichtigen weltanschaulichen Begriffe übernimmt.“ (123) In eklektischer Weise bedient sich der Wicca-Kult schamanistischer Elemente, wobei der Gemeinschaftsbezug völlig verloren geht. Faktisch wird dem Wicca-Praktizierenden der Weg zum „Rückzug aus einer als feindlich verstandenen sozialen Umwelt“ (128) geebnet. Im Zentrum steht ein typisch (post)moderner individueller Heilungs- und Heilsweg. Gerade in der Überbetonung und Aufblähung des Ego konstatiert Ohanecian im Schlusskapitel „interessante Parallelen“ zu satanistischen Konzepten. Der Wicca-Kult übe im Unterschied zu jenen aber mit dem schillernden Begriff „Hexe“ auf viele einen besonderen Reiz aus, weil er nicht auf Grausamkeit und Aggressivität setze. In einem verhältnismäßig umfangreichen Anhang (143-180) werden Texte und Beiträge aus Internetforen dokumentiert.
Ohanecians Buch ist – besonders im darstellenden und analytischen Teil – informativ und gut lesbar. Eine vergleichende Gesamtschau bzw. Differenzierung der Neuen-Hexen-Bewegung sowie weitere vertiefende Analysen des weltanschaulichen Hintergrundes hätten bestimmt noch weitere wichtige Aspekte für die kritische Bewertung zutage fördern können. Dennoch bietet seine Studie interessante Detailinformationen, bemerkenswert sind hierbei auch seine aus eigener „Feldforschung“ gewonnenen Erkenntnisse über die Praxis des zeitgenössischen Wicca-Kultes, die man in der kritischen Hexenliteratur zumeist vergeblich sucht.
Matthias Pöhlmann