Andreas Fincke

Werk Gottes in der Vollendungszeit?

Die Neuapostolische Kirche heute


Gewidmet meinem verehrten Lehrer Helmut Obst zum 65. Geburtstag

Es war eine kleine Sensation. Am 20. April 2005 gratulierte Richard Fehr, zu dieser Zeit noch Stammapostel der Neuapostolischen Kirche (NAK), dem neu gewählten Papst. Das Schreiben endete mit der Versicherung: „Wir neuapostolische Christen schließen Sie in unsere Gebete ein.“ Papst Benedikt XVI. hat gewiss zahlreiche Schreiben dieser Art bekommen, aber dennoch war dieses etwas Besonderes. Denn hier gratulierte eine Gemeinschaft, die aus Sicht des Vatikans vermutlich als „Sekte“ wahrgenommen wird. Bemerkenswert ist die Tatsache des Schreibens als solche: Früher hätte sich die NAK für eine Papstwahl kaum interessiert, nun aber nimmt man Anteil am Geschehen in der weltweiten Christenheit. So hatte man bereits zum Ableben von Johannes Paul II. kondoliert. Aus Hannover richtete der Bezirksapostel Wilfried Klingler seine Beileidsschreiben an alle katholischen Bischöfe, die in seinem Zuständigkeitsbereich in Mitteldeutschland residieren. Darin würdigte er den Verstorbenen als „großen Mann Gottes“, dessen Pontifikat man „mit Hochachtung und Bewunderung“ verfolgt habe. Solche Töne lassen aufhorchen bei einer Gemeinschaft, die sich als exklusiv versteht und wahre Gotteskindschaft nur in den eigenen Reihen sieht.

In Deutschland hat die NAK rund 380.000 Mitglieder, in der Schweiz 35.000 und in Österreich 5.000. Weltweit zählt die NAK derzeit knapp 11 Millionen Glieder. Rasant ist das Wachstum in einigen Ländern Afrikas. Rege Missionsbemühungen sind auch in Osteuropa zu beobachten. Gemessen an dieser Größe, gerät die NAK jedoch nur selten in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses.

Die NAK hat eine komplizierte Entstehungsgeschichte. Ihre Gründung geht nicht auf eine charismatische religiöse Führergestalt zurück, sondern ist das Ergebnis unterschiedlicher religiöser Erneuerungsbewegungen: In England und Schottland entstanden im 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund sozialer und gesellschaftlicher Umbrüche (Französische Revolution, industrieller Aufschwung) vielerorts Gemeinschaften, in denen auf biblischer Grundlage und im Gebet um einen neuen geistigen Weg gerungen wurde. Ab 1826 trafen sich Vertreter erweckter Kreise in Albury Park, dem Landsitz eines Londoner Bankiers. Zwischen 1832 und 1835 wurden in solchen Versammlungen zwölf Apostel durch prophetisches Wort berufen. Diesen durch göttliche Eingebung ausgezeichneten Männern kam eine entscheidende eschatologische, aber auch ökumenische Bedeutung zu. Man wollte unter ihrer Leitung die wahre Kirche Christi errichten und die Christenheit einer neuen Einheit zuführen. Man erwartete die baldige Wiederkunft Christi und war davon überzeugt, dass die Kirche wieder von Aposteln geleitet werden sollte. 1855 verstarben drei der Apostel, was einen herben Schlag für die Bewegung bedeutete. Man beschloss, keine Nachfolger in das Apostelamt zu berufen – eine in der Sache konsequente und ehrenhafte Entscheidung, die jedoch bald Streit und Widerspruch auslöste. Wie so oft in der Kirchengeschichte wurde die ersehnte Einheit nicht gewonnen – es entstanden vielmehr weitere christliche Splittergruppen. Was folgte, kann hier nicht genauer dargestellt werden. Wichtig ist, dass es 1863 zu einer Abspaltung in Hamburg kam, aus deren Umfeld später die NAK entstanden ist. Als Geburtsstunde der NAK gilt zumeist Pfingsten 1897, als der Apostel Friedrich Krebs zum ersten Stammapostel berufen wurde. Den Begriff „Stammapostel“ gab es bereits, er meinte in ganz unmittelbarem Sinne Apostel für eine bestimmte Region, für ein Gebiet und seine angestammte Bevölkerung. Nun aber wurde daraus „das sichtbare Haupt des Werkes Gottes“.1 Mit dieser Überhöhung endete die Gleichberechtigung unter den Aposteln. Es entstand eine zentralistische Organisation. Krebs gab der Bewegung ein exklusives Glaubens- und Selbstverständnis. All diese Schritte markierten eine entschiedene Abkehr von den eigenen Wurzeln.

Die Geschichte der NAK wurde seit ihren Anfängen von Lehrstreitigkeiten, aber auch vom Profil starker Persönlichkeiten geprägt. Keine andere christliche Sondergemeinschaft hat eine solche Fülle von Abspaltungen erlebt. Immer wieder trennten sich Gruppen und Gemeinden von der NAK, um ihren von den jeweiligen Stammaposteln abgesetzten und aus der Kirche ausgeschlossenen Aposteln „ins Exil“ zu folgen. Einige Dutzend solcher Gemeinschaften sind in der Fachliteratur beschrieben. Das Verhältnis der apostolischen Gemeinschaften untereinander war lange Zeit kühl und distanziert; in den letzten Jahren gab es jedoch vereinzelt Gespräche unter denen, die sich näher stehen. Die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten. Der NAK kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zu: Sie ist die „Mutter“ vieler Abspaltungen und mit Abstand die größte und einflussreichste der apostolischen Gemeinschaften.

Die Glaubensfamilie

Wenn man einen Gottesdienst der NAK besucht, dann merkt man schnell, worin die Stärke dieser Kirche besteht: Sie umschließt eine Glaubensfamilie. Man begrüßt einander herzlich, jeder kennt jeden, Fremde fallen auf. So erscheint die zweimal monatlich in zahlreichen Sprachen aufgelegte Zeitschrift auch folgerichtig unter dem Titel: „Unsere Familie“. Hier war vor Jahren zu lesen: „Darin unterscheiden wir uns von den übrigen Christen, dass wir eine große Familie darstellen, wo eben der Jüngste so denkt wie der Älteste.“ Aussagen wie diese standen viele Jahrzehnte für das neuapostolische Selbstverständnis. Heute geht man auf vorsichtige Distanz zu solchen Vorstellungen, denn diese allzu große Nähe birgt zugleich ein erhebliches Konfliktpotential. Kritiker, nicht zuletzt aus den eigenen Reihen, haben sich in den letzten Jahren immer wieder zu Wort gemeldet und berichtet, dass die NAK ihre Mitglieder „überwacht, kontrolliert oder unterdrückt“. Der „familiäre“ Charakter der NAK wird offensichtlich unterschiedlich erlebt: positiv als christliche Gemeinschaft und Verbindlichkeit, negativ als Kontrolle und autoritärer Druck.

Eine Kirche mit Aposteln

Für die NAK ist die wahre Kirche Christi an das Amt des Apostels gebunden. Dieser Apostel ist „der von Gott erwählte Bevollmächtigte Jesu Christi in seiner Kirche“. Im Glaubensbekenntnis heißt es: „Ich glaube, dass der Herr Jesus seine Kirche durch lebende Apostel regiert bis zu seinem Wiederkommen, dass er seine Apostel gesandt hat und noch sendet mit dem Auftrag, zu lehren, in seinem Namen Sünden zu vergeben und mit Wasser und dem Heiligen Geist zu taufen.“ In dem katechismusartigen Büchlein „Fragen und Antworten über den neuapostolischen Glauben“ von 1992 sind sogar die Geistesgaben dem Apostelamt untergeordnet. In dieser Schrift heißt es auch, dass in der NAK „das von Jesu begonnene Erlösungswerk durch die von ihm gesandten Apostel vollendet“2 wird. Nach dieser Logik ist Kirche im Vollsinn nur da möglich, wo Apostel sind. Dieser Befund ist für das Selbstverständnis der NAK grundlegend – und kann von den ökumenischen Kirchen nicht akzeptiert werden, für die das biblische Apostelamt an die Beauftragung durch Jesus Christus gebunden ist.

Weltweit amtieren derzeit rund 360 Apostel. Das Apostelkollegium ist streng hierarchisch aufgebaut: An der Spitze steht der sog. „Stammapostel“ mit Sitz in Zürich. Er gilt als „oberster geistlicher Repräsentant“. Als „Haupt der Kirche“ wird seit 1997 Jesus Christus bezeichnet. Der Stammapostel „entscheidet über alle Angelegenheiten, welche die Gesamtkirche betreffen, vornehmlich in Fragen der Lehre und Seelsorge. Zur Entscheidungsfindung bedient er sich der Bezirksapostelversammlung oder anderer von ihm eingesetzter Gremien.“3

Viele Jahrzehnte wurde der Stammapostel als „Repräsentant des Herren auf Erden” angesehen. Neuerdings wird diese Bezeichnung nicht mehr verwendet, stattdessen bemüht man sich um eine vorsichtig differenzierte Beschreibung dieses Amtes. Dennoch hat Bezirksapostel Brinkmann im Sommer 2005 in Bochum erneut festgestellt, dass das Petrusamt in das Stammapostelamt aufgegangen sei. Wie man hört, soll das erwähnte Büchlein „Fragen und Antworten“ durch einen umfassenden Katechismus ersetzt werden. Spätestens dann muss entschieden sein, wie die NAK das Amt des Stammapostels genau definiert. Vorerst jedoch ist man als Außenstehender in einer schwierigen Lage: Zitiert man weiterhin aus „Fragen und Antworten“, wird man freundlich darauf hingewiesen, dass „wir das so nicht mehr sagen“. In Ermangelung eines neuen Dokumentes bleibt jedoch unklar, welche Überzeugungen gegenwärtig als verbindlich gelten. Vieles spricht dafür, dass in den NAK-Gemeinden nach wie vor geglaubt wird, was zu den traditionellen Glaubensvorstellungen gehört. Es wäre auch eigenartig, wenn sich Neuerungen so leicht durchsetzen ließen – und würde Kritikern Recht geben, die der NAK nach wie vor einen autoritären Charakter bescheinigen.

Unbeschadet dieser Fragen genießt das Wort und das Amt des Stammapostels nach wie vor höchstes Ansehen. Die herausragende Stellung des Stammapostels wird bei der Lektüre der Zeitschrift „Unsere Familie“ immer wieder deutlich: Im Zentrum eines jeden Hefts steht der Bericht über einen Gottesdienst, den der Stammapostel irgendwo in seiner weltweiten Kirche gehalten hat. Die Predigt ist abgedruckt, ebenso die sie flankierenden Worte der lokalen Amtsträger. Hier wird deutlich, welch erstaunliche Dignität dem Stammapostel zugesprochen wird. So erklärte ein Apostel am 29. April 1984 in Wiesbaden: „Es gibt nichts Schöneres und für uns Bedeutsameres auf dieser Erde zu erleben, als Jesus im Stammapostelamt erkennen zu können.“4 In der Euphorie finden sich gelegentlich Formulierungen, die theologisch äußerst problematisch sind, so zum Beispiel wenn ein Bezirksapostel in einem Gottesdienst Anfang 1997 in Managua erklärt: Der Stammapostel „(erhöht) in seinem Dienen den himmlischen Vater und seinen Sohn“, ja, er „offenbart in Wort und Tat den Willen des Sohnes“.5 Für Zweifel oder zumindest kritische Reflexion besteht kein Raum. Mit Erstaunen liest man, wie ein Apostel im Sommer 1998 in Wilhelmshaven Kritiker aus den eigenen Reihen abfertigt: „Es gibt sicher Menschen, die können im Stammapostel, im Apostolat, den Herrn Jesus nicht erkennen. Aber das liegt an ihnen.“6 Anfang Februar 2005 erklärte der bisherige Stammapostel Fehr bei einem Besuch in Indonesien der versammelten Gemeinde, dass bereits die Anwesenheit zahlreicher Apostel eine besondere Erhörung von Gebetsanliegen mit sich bringen kann.7

Die „Botschaft“ von 1951

Es gibt ein Ereignis in der Geschichte der NAK, an dem die Problematik des Stammapostelamts besonders deutlich wird. 1951 verkündete der damals achtzigjährige Stammapostel Johann Gottfried Bischoff, dass Jesus Christus noch zu seinen Lebzeiten wiederkommen werde. Diese Verheißung wurde nicht als persönliche Hoffnung des Stammapostels unter die Gläubigen gebracht, sondern wurde in den Rang einer Heilswahrheit erhoben. Wer Bedenken anzumelden wagte, wurde verstoßen. In die Geschichte der NAK ist diese Hoffung als „die Botschaft“ eingegangen. Heute ist kaum zu bestreiten, dass Bischoffs unselige Vorhersage viel Verwirrung und Leid verursacht hat. In ihrer Folge kam es zum Ausschluss und zur Abspaltung ganzer Gemeinden. Als Bischoff am 6. Juli 1960 starb und damit sein Irrtum offenkundig wurde, rückte man nicht etwa von seiner Botschaft ab, sondern suchte die Ursache für das Ausbleiben des Prophezeiten bei Gott: „Wir stehen deshalb vor dem unerforschlichen Ratschluss unseres Gottes und fragen uns, warum er seinen Willen geändert hat. Der Stammapostel ... kann sich nicht geirrt haben, weil er immer das Wort des Herrn zur Richtschnur seines Handelns gemacht hat.“8 Und selbst im Mai 1995 erklärte man noch immer beharrlich: „Die Nichterfüllung der Botschaft kann mit dem Verstand letztlich nicht erklärt werden. Der göttliche Charakter der Botschaft wird dadurch nicht in Frage gestellt. Wir halten daran fest, dass der Stammapostel sich nicht geirrt hat. Wenn der Herr wiedergekommen sein wird, wird die Frage, warum die Botschaft sich nicht erfüllt hat, vollends beantwortet werden.“9

Heute sagt man, es sei seinerzeit den Gläubigen „ein Bedürfnis“ gewesen, an diese Botschaft zu glauben und das eigene Leben darauf einzustellen. Als der Stammapostel starb und sich die „Botschaft“ nicht erfüllt hatte, sei dies für alle, „eine Prüfung ihres Vertrauens und ihrer Treue zu Gott“ gewesen. Die Frage, warum die Botschaft sich nicht erfüllte, könne heute niemand beantworten. Auf die Aussage, „der göttliche Charakter der Botschaft wird nicht in Frage gestellt“, wird inzwischen verzichtet. Stattdessen formuliert man deutlich verhaltener, die göttliche Herkunft der Botschaft könne mit dem Verstand nicht belegt, aber auch nicht widerlegt werden. Die Angelegenheit bleibe daher „eine Sache des Glaubens“.10

Im Mai 2005 kam es in der Schweiz öffentlich zu ersten, vorsichtigen Korrekturen, als sich die Leitung der Schweizer NAK für die vor 50 Jahren getroffenen Fehlentscheidungen und das mancherorts unchristliche Verhalten einiger ihrer Mitglieder förmlich entschuldigte. Die Kirchenleitung erklärte sich außerdem bereit, die damals verfügten Kirchenausschlüsse mit sofortiger Wirkung aufzuheben. Man darf gespannt sein, ob auch in Deutschland weitere Schritte zur Versöhnung folgen.

Theologie und Glaubenspraxis

In der NAK kennt man eine doppelte Form des Wortes Gottes: so wie es einerseits in der Bibel überliefert ist und so, wie es dem neuapostolischen Christen im Wort der NAK-Apostel gegenübertritt. In einem Gottesdienst im März 1997 in Taiwan sagte Stammapostel Fehr: „Das Wasser des Lebens wird dargeboten im Apostelamt.“11 Der lebendige Zugang zum biblischen Gotteswort führt nach neuapostolischem Verständnis also vor allem über das Wort der heutigen Apostel. Kritiker sehen gerade darin eine Schwäche der NAK, denn die Apostel sind durchweg Laien und verfügen über keine wissenschaftlich-theologische Ausbildung. Es fehle deshalb häufig an einem vertieften Umgang mit den biblischen Texten, mitunter muteten Auslegungen recht willkürlich an.

In der NAK gibt es drei Sakramente: Taufe, Abendmahl und die „Versiegelung“. Die Versiegelung bedeutet die Spendung des Heiligen Geistes, sie kann nur durch einen neuapostolischen Apostel vollzogen werden. Da sie als notwendiger Teil der Wiedergeburt betrachtet wird, ist damit indirekt allen Christen außerhalb der NAK die volle Gotteskindschaft abgesprochen. Die NAK betont den Endzeitgedanken: Das Glaubens- und Heilsziel besteht darin, „würdig und bereit“ zu sein für das „naherwartete Wiederkommen Jesu“, um an der sog. „ersten Auferstehung“ teilzuhaben, denn diese ist ausschließlich Gliedern der NAK und den christlichen Märtyrern vorbehalten. Für alle anderen Menschen bricht dagegen erst einmal das „große Verderben“ an, auch wenn nach neuapostolischem Verständnis beim (späteren) Endgericht auch anderen Menschen noch Rettung zuteil werden kann.

Die Taufe anderer christlicher Gemeinschaften wird seitens der NAK lediglich als ein nur „für diese gültiges“ Sakrament betrachtet. Ihre Gültigkeit vor Gott erhält sie erst durch die „Erlangung der Wiedergeburt aus Wasser und Geist“, d. h. durch eine „Bestätigung“, die ein NAK-Apostel vollzieht. Der nicht zuletzt mit dem Sakrament der „Versiegelung“ und mit den Vorstellungen von der „ersten Auferstehung“ zusammenhängende Exklusivismus ist schuld daran, dass die NAK nach wie vor häufig als „Sekte“ wahrgenommen wird: Sie reduziert die Kirche Jesu Christi auf die eigene Organisation, in der allein Errettung und Heil möglich sind. Auf einem Studientag zum Thema „Das Selbstverständnis Apostolischer Kirchen und Gemeinschaften als Kirche Jesu Christi“ in Halle/S. hat Apostel Volker Kühnle im Sommer 2005 die Exklusivität erneut unterstrichen: Nach neuapostolischem Verständnis ist Kirche im Vollsinn nur da, wo auch das erneuerte Apostelamt in Einheit mit dem Stammapostel bestehe.12 Allein die mit dem Stammapostel verbundenen Christen bilden die endzeitliche Braut des Lammes und sind als solche mit Christus verbunden.13 Die neuapostolische Versiegelung wird als Voraussetzung für die Teilnahme an der „Hochzeit im Himmel“ gesehen. Zwar wollte Kühnle die NAK nicht als „exklusive Endzeitkirche“ – so der Titel eines Buches von H. Obst zur NAK – sehen, aber was er beschrieb, war faktisch eine exklusive Kirche. In einer Podiumsdiskussion sagte Kühnle dann auch klar, dass man zur Erlangung der Seeligkeit neuapostolisch werden müsse. Eine Einschränkung machte Kühnle jedoch erneut: Auch die christlichen Märtyrer können gerettet werden.14

Dennoch: die Mitglieder der NAK sind – ungeachtet der Sonderlehren – Christen. Die Taufe der NAK wird von den beiden großen Kirchen anerkannt. Ökumenische Gottesdienste oder Segenshandlungen werden von der NAK strikt abgelehnt, was bei der Frage nach ökumenischen Trauungen immer wieder zu Konflikten führt. Die NAK ist nicht Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK) und wird nicht als Freikirche angesehen. In der Schweiz hat die NAK in der Arbeitsgemeinschaft der Kirchen im Kanton Bern (AKB) einen Gaststatus.15

Quo vadis NAK?

Wie bereits angedeutet, ist Bewegung in die Neuapostolische Kirche gekommen. Dies geschah nicht ganz freiwillig: Das Internet und kritische Publikationen haben dazu herausgefordert.

Aber zweifellos gibt es auch in den eigenen Reihen Stimmen, die eine geistliche Neuorientierung wünschen. In den letzten Jahren wurde erstmals über ökumenische Kontakte nachgedacht. Hierzu wurde 1999 von Stammapostel Fehr eine „Projektgruppe Ökumene“ gegründet. Deren Mitglieder sollen vorerst die Lage sondieren. Der Auftrag der „Projektgruppe Ökumene“ lautet: „Trotz der Unverträglichkeit wesentlicher Lehraussagen der Neuapostolischen Kirche mit der Ökumene werden die Gespräche mit Vertretern anderer Kirchen fortgesetzt. Gespräche mit anderen Kirchen werden auf allen Ebenen forciert. Die Projektgruppe Ökumene untersucht die detaillierten Voraussetzungen für einen Beobachterstatus im Ökumenischen Rat der Kirchen Genf (ÖRK).“16

Die Aufnahme in eine der nationalen oder internationalen Organisationen der Ökumene steht gegenwärtig nicht auf der Tagesordnung. Das wäre allein wegen der Differenzen im Sakraments- und Amtsverständnis auch wenig realistisch. Stammapostel Richard Fehr meinte unlängst zur Frage, wie lange die Neuapostolische Kirche brauchen würde, um sich – wenn überhaupt – an der Ökumene zu beteiligen: „That’s a long way“ – „ein langer Weg des gegenseitigen Kennenlernens und niveauvoller Gespräche in Respekt und Hochachtung“.17 Dies sind erstaunliche Entwicklungen, die man würdigen muss, auch wenn derzeit keine großen Ergebnisse zu erwarten sind. Äußerst heikel ist nach wie vor die Frage nach dem Exklusivitätsanspruch. Das wurde Ende vorigen Jahres erneut deutlich, als der holländische Apostel Gerrit J. Sepers nach immerhin 17 Jahren Leitungstätigkeit sämtliche Funktionen in der NAK „allein aus ideologischen Gründen“ niederlegte.18 Kern des Zerwürfnisses war der Exklusivitätsanspruch der NAK und ihr Festhalten an der Auffassung von der Heilsnotwendigkeit des Apostelamtes. In entschiedener Abgrenzung von der neuapostolischen Lehrmeinung erklärte Sepers: „Das Apostelamt ... ist meines Erachtens nicht unbedingt heilsnotwendig, aber förderlich oder wünschenswert. Man darf unsere Wahrheit repräsentieren, aber man kann nicht sagen[,] dass der Heilige Geist nur in optimaler Form in der NAK offenbar werden kann.“19 Scharf kritisierte er die Wirklichkeit des Apostelamts, das nach seiner Meinung immer mehr zu einer zweiten „Heils-Instanz“ neben Jesus Christus entartete. Und er sieht mit Sorge, wie der Reformstau die niederländische NAK lähmt, wie Sprachlosigkeit, Apathie und Stagnation immer weiter um sich greifen. Schwer zu sagen, ob Sepers’ Lagebeschreibung für die NAK in den westlichen Ländern insgesamt gilt. Auf jeden Fall ist sie ein deutliches Anzeichen einer Krise.

Zu Pfingsten 2005 hat Stammapostel Richard Fehr sein Amt nach 17 Jahren niedergelegt. Es zählt sicher zu den Verdiensten des Schweizers Fehr, eine behutsame Öffnung der NAK eingeleitet zu haben. Zu seinem Nachfolger wurde der bisherige Bezirksapostel Wilhelm Leber berufen, ein promovierter Mathematiker aus Hamburg. Auf die Frage, ob ihm die Etikettierung „liberal und locker“ gefalle, antwortete Leber einige Tage nach seiner Berufung, dies könnte danach klingen, dass man die Dinge nicht seriös oder nicht ernst genug betrachte. „In dieser Weise möchte ich das nicht verstanden wissen. Aber, wenn man daraus abliest, dass ich eben offen bin für alle Fragen, wenn man daraus erkennt, dass ich auch keine Angst habe vor abweichenden Meinungen oder kontroversen Auseinandersetzungen, dann will ich mir dieses Prädikat sehr wohl gefallen lassen.“20

Gefragt nach seinen herausragenden Zielen, nannte Leber unter anderem, er habe sich vorgenommen, die von seinem Vorgänger angestoßenen Entwicklungen, die noch nicht zum Abschluss gekommen seien, „mit Mut und Entschlossenheit“ voranzutreiben. Das schließt sicher auch die ökumenische Neupositionierung ein. Als konkrete Schritte wolle er zunächst Themen wie „die Rolle der Frau in der Gemeinde“ angehen und auch in der innerkirchlichen Kommunikation und bei der Beteiligung der Mitglieder am kirchlichen Leben werde es Korrekturen geben.

Wie zwiespältig der Öffnungsprozess teilweise an der kirchlichen Basis erlebt wird, bekam der scheidende Stammapostel noch kurz vor seinem Eintritt in den Ruhestand zu spüren. Für seine Schreiben nach Rom erntete er in den eigenen Reihen nicht nur Anerkennung, sondern auch herbe Kritik. Manche warfen ihm „Verrat“ vor und fragten, ob sie sich nun von ihrem Glauben verabschieden müssten. Deshalb mahnte Fehr am Tage seiner Versetzung in den Ruhestand: „Wir müssen behutsam, Schritt für Schritt vorgehen, denn wir möchten allen Heimat sein, auch dem orthodoxen Flügel.“

Im Herbst 2005 hat sich der neue Stammapostel in einem Gottesdienst in Castrop-Rauxel zu einigen Veränderungen in der NAK geäußert. Er schlug vor, nicht von Änderungen zu reden, sondern von „Anpassung und Schärfung“, denn „die große Linie unserer Glaubensauffassung ist unverändert geblieben und wird es auch bleiben“21. Da ist sie wieder, die typische Ambivalenz zwischen Veränderung und Bewahrung.


Andreas Fincke


Anmerkungen

1 Vgl. z.B. Geschichte der NAK, Überarbeitung der von G. Rockenfelder zusammengest. und von J. G. Bischoff hg. Fassung, Frankfurt a.M. 1987, 92; 95.

2 Neuapostolische Kirche International (Hg), Fragen und Antworten über den neuapostolischen Glauben, Frankfurt a.M. o.J. (1992), Frage 171, 79.

3 Was ist das Stammapostelamt?, Presseinformation der NAK International, Pfingsten 2005 in Zürich.

4 Unsere Familie, 44. Jg., 1984, Nr.16, 429.

5 Unsere Familie, 57. Jg., 1997, Nr. 9, 12.

6Unsere Familie, 58. Jg., 1998, Nr. 20, 13.

7 Vgl. Unsere Familie, 65. Jg., 2005, Nr. 8, 7.

8 Schreiben vom 7. Juli 1960.

9 Aus einem Rundschreiben der Neuapostolischen Kirche International vom 2. Mai 1995.

10 Vgl. „Stellungnahme zu Vorwürfen gegen die Neuapostolische Kirche“, in: Unsere Familie, 56. Jg., 1996, Nr. 2, 19, sowie eine Stellungnahme der NAK International aus dem Jahre 1998, die verbreitet wird, jedoch nicht in Unsere Familie abgedruckt wurde.

11 Unsere Familie, 57. Jg., 1997, Nr.13, 8.

12 Vgl. Volker Kühnle, Das Selbstverständnis der Neuapostolischen Kirche. Vortrag vom 25. Juni 2005 in Halle, Text im Internet unter www.nak.de .

13 Vgl. Harald Lamprecht, Braucht die Kirche noch Apostel?, in: Materialdienst der EZW 9/2005, 331ff.

14 Vgl. Reinhard Hempelmann, NAK öffnet Tür zum Himmel für christliche Märtyrer, in: Materialdienst der EZW 5/2004, 197f.

15 Das Aufeinanderzugehen ist wichtig!, in: Unsere Familie, 65 Jg., 2005, Nr. 3, 37.

16 Ebd.

17 Ebd. Vgl. auch Unser Herr kommt. Die Neuapostolische Kirche unter Stammapostel Richard Fehr 1998-2005, Frankfurt a.M. o.J., bes. 78.

18 Vgl. Materialdienst der EZW 3/2005, 115f.

19 Stellungnahme des Apostels Sepers zu seiner Amtsrückgabe, unter www.glaubenskultur.de, vgl. auch „Dahinter steckt immer das konservative Denken“, Interview mit Gerrit J. Sepers, unter www.naktuell.de

20 Vgl. www.glaubenskultur.de

21 Gottesdienst mit Stammapostel Wilhelm Leber in Castrop-Rauxel, 23. Oktober 2005, Stellungnahmen, unter: www.nak.de

Wichtige Literatur (Auswahl)
Sekundärliteratur

Andreas Fincke, Die Neuapostolische Kirche, in: Panorama der neuen Religiosität. Sinnsuche und Heilsversprechen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, hg. von R. Hempelmann u.a., Gütersloh 22005, 522-534

Neuapostolische Kirche, in: Lexikon neureligiöser Gruppen, Szenen und Weltanschauungen. Orientierung im religiösen Pluralismus, Freiburg 2005, 859-864

Neuapostolische Kirche, in: Handbuch Religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen, hg. von H. Reller, H. Krech und M. Kleiminger, Gütersloh 52000, 338-350

Helmut Obst, Apostel und Propheten der Neuzeit. Gründer christlicher Religionsgemeinschaften des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 42000, 55-142

Ders., Neuapostolische Kirche – die exklusive Endzeitkirche?, RAT 8, Neukirchen-Vluyn 1996

Katja Rakow, Neuere Entwicklungen in der Neuapostolischen Kirche, Berlin 2004

Johannes Albrecht Schröter, Die Katholisch-apostolischen Gemeinden in Deutschland und der „Fall Geyer“, Marburg 1997

Ders., Bilder zur Geschichte der Katholisch-apostolischen Gemeinden, Jena 2001

Internet

www.nak.org
www.naktuell.de 
www.glaubenskultur.de 

Quellen

Neuapostolische Kirche International (Hg.), Fragen und Antworten über den neuapostolischen Glauben, Frankfurt a.M. 1992

Maran atha. Unser Herr kommt. Die Entwicklung des Werkes Gottes unter Stammapostel Richard Fehr 1988-1998, Frankfurt a.M. o.J. (1998)

Unser Herr kommt. Die Neuapostolische Kirche unter Stammapostel Richard Fehr 1998-2005, Frankfurt a.M. o.J. (2005)