Hans-Jürgen Papier

Wie hält es der Staat mit der Religion?

Herausforderungen in einer multireligiösen Gesellschaft

Sie alle kennen die Gartenszene in Goethes Faust, in der Margarete die berühmte Gretchenfrage stellt: „Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“ Während Faust mit der Beantwortung dieser Frage in Nöte gerät, weil ihr Kern auf seine Machenschaften mit Mephisto abzielt, stellt sie sich für die religiöse Landschaft im Europa des 21. Jahrhunderts in einer abgewandelten Version: Die moderne Gretchenfrage könnte etwa lauten: Wie hält es der Staat mit der Religion? Darf er es überhaupt mit ihr halten, oder fordert die „multireligiöse“ Gesellschaft womöglich seine gänzliche Abstinenz in religiösen Angelegenheiten? Kann der Staat Konflikte lösen, die durch das Aufeinandertreffen der verschiedensten Glaubensüberzeugungen entstehen, indem er alles Religiöse aus dem öffentlichen Raum verbannt, oder muss er vielmehr die Rahmenbedingungen für einen offenen Dialog zwischen den Religionen schaffen?

1. Mit dem Verbot der Staatskirche (Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 1 WRV) ist zugleich eine der tragenden Säulen unserer staatskirchenrechtlichen Ordnung angesprochen, nämlich der Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche, der neben der individuellen und kollektiven Religionsfreiheit und dem kirchlichen Selbstverwaltungsrecht einen der Eckpfeiler unserer Religionsverfassung darstellt.

Historisch betrachtet war die Trennung von Staat und Kirche der Endpunkt der Säkularisierung, die nach den verheerenden Glaubenskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts in ganz Europa als Medium der Herstellung einer umfassenden Friedensordnung diente. Nur eine staatliche Gewalt, die ihren Geltungsanspruch nicht mehr auf der Grundlage eines religiösen Wahrheitsanspruchs definierte, konnte Rahmenbedingungen für ein friedliches Zusammenleben der verfeindeten religiösen Lager schaffen. Die vormals staatlicherseits gegebene Antwort auf die Frage, welche Religion die „richtige“ oder die „wahre“ ist, wurde der privaten Entscheidung des Einzelnen überantwortet. Mit der Französischen Revolution wurde erstmals eine radikale Trennung von Staat und Kirche vollzogen, und die mit dem Reichsdeputationshauptschluss im Jahr 1803 eingeleitete große Säkularisierung läutete das Ende der Reichskirche ein. Die Verwirklichung der Idee vom säkularen Staat als Friedensgarant verlangte beiden Seiten Opfer ab: Der Staat musste seine religiöse Rechtfertigung aufgeben und sich darauf beschränken, wie Immanuel Kant es formuliert hat, die irdischen Angelegenheiten zu regeln, um Platz für den Glauben seiner Bürger zu lassen. Die Religionsparteien mussten ebenfalls Verzicht üben, weil sie ihren Wahrheitsanspruch nicht mehr mithilfe staatlicher Gewalt durchzusetzen vermochten.

Die Säkularisierung hat in den Staaten Europas zu höchst unterschiedlichen staatskirchenrechtlichen Modellen geführt, angefangen etwa von laizistisch geprägten Ordnungen in Staaten wie Frankreich oder der Türkei bis hin zu den Staatskirchen in England, Schottland und Teilen von Skandinavien.

Nach der staatskirchenrechtlichen Ordnung des Grundgesetzes ist den Kirchen und Religionsgemeinschaften die freie Ordnung und Verwaltung der eigenen Angelegenheiten garantiert, durch die der Freiheit des religiösen Lebens und Wirkens der Kirche die zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben unerlässliche Freiheit der Bestimmung über Organisation, Normsetzung und Verwaltung hinzugefügt wird. Insoweit wird den Kirchen und Religionsgemeinschaften ein Freiheitsraum zur Aufrichtung einer spezifischen sozialen Ordnung gewährt. Der Staat erkennt die Kirchen als ihrem Wesen nach unabhängige Institutionen an, die Ihre Gewalt nicht vom Staat herleiten. Infolgedessen verleiht die Kirche ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinden (Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 WRV). Umgekehrt fordert die Trennung von Staat und Kirche die Unabhängigkeit der öffentlichen Ämter und der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte vom Bekenntnis (Art. 33 Abs. 3 GG, Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 1 bis 4 WRV).

Weder die institutionelle noch die inhaltliche Trennung von Staat und Kirche bewirken aber einen gänzlichen Ausschluss der Religion aus dem Gemeinwesen, was schon die Inkorporation der Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung in das Grundgesetz zeigt, die in wichtigen Bereichen Kooperation zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften vorsehen, wenn sie etwa den Religionsgemeinschaften das Angebot unterbreiten, sich als Körperschaften des öffentlichen Rechts zu organisieren, oder ihnen ermöglichen, Kirchensteuern zu erheben. Als weiteres Beispiel sei die in Art. 7 Abs. 3 GG beinhaltete Garantie eines konventionell gebundenen Religionsunterrichts in öffentlichen Schulen genannt.

2. Angesichts der Debatten um Kopftücher, Islamunterricht und ähnliche Themen könnte man geneigt sein zu behaupten, dass der Staat bei einer strikteren Trennung von Staat und Kirche, als sie das deutsche Grundgesetz vorsieht, seine Aufgaben insbesondere im Bereich des Schulwesens leichter erfüllen könnte.

Dies ist, wie ich meine, ein Trugschluss. Der deutsche Säkularstaat hat ein berechtigtes Interesse an der religiösen Vielfalt seines Volkes, da andernfalls die Gefahr besteht, dass Letztbegründungsansprüche an ihn herangetragen werden und damit auch die Gefahr totalitärer Strömungen verstärkt wird. Religionsgemeinschaften sollen daher nach der Konzeption des Grundgesetzes im Gemeinwesen wirken, sich rechtfertigen, sich entfalten können, und sie sollen bei der Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Aufgaben auch vom Staat gefördert werden.

Welchen Inhalt hat aber diese Neutralitätspflicht in concreto? Die dem Staat gebotene religiös-weltanschauliche Neutralität ist, wie das Bundesverfassungsgericht ausgeführt hat, nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche, sondern vielmehr als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen. Sie enthält insoweit ein positives Gebot an den Staat, den Raum für die aktive Betätigung für die Glaubensüberzeugungen und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet zu sichern.

In einem negativen Sinne beinhaltet die Neutralitätspflicht ein Gebot, bestimmte Einflussnahmen zu unterlassen. Der Staat hat sich hinsichtlich der Glaubensinhalte einer Religion einer Bewertung zu enthalten und darf sich umgekehrt auch nicht die Glaubensinhalte einer anderen Religion zu eigen machen. In dieser Ausprägung zieht die Neutralitätspflicht also ein Identifikationsverbot nach sich. Dieses Identifikationsverbot kann auch bei der Förderung von Religionsgesellschaften eine Rolle spielen. Die „religiöse Vitalität“ eines Volkes kann sich nur dann entfalten, wenn der Staat alle Bekenntnisse gleichermaßen fördert und keines benachteiligt. Der Grundsatz der paritätischen Behandlung von Religionsgemeinschaften fordert indes keine schematische Gleichbehandlung, sondern lässt Differenzierungen zu, die durch tatsächliche Verschiedenheiten der einzelnen Religionsgemeinschaften bedingt sind, soweit die Art der Differenzierung nicht sachfremd ist.

Der Staat hat also für die diversen religiös-weltanschaulichen Richtungen einen Raum freier Entfaltung zur Verfügung zu stellen, bei dem er auf die Einhaltung der staatlichen Regeln achtet, sich selbst aber in religiös-weltanschaulicher Hinsicht zurückhält. Welche Religion oder Weltanschauung im tatsächlichen Leben wie in Erscheinung tritt, wie die Menschen auf sie reagieren und welche Religion oder Weltanschauung quantitativ vorherrscht, kann und soll nicht staatlich vorgegeben, sondern von den Menschen frei und immer wieder neu entschieden werden. Auch wenn dieser gesellschaftliche Diskurs zu einer Gesellschaft führt, die sich mehrheitlich von Religion distanziert und atheistisch entwickelt, ist dies staatlicherseits hinzunehmen, solange die Möglichkeit eines freien Bekenntnisses und religiöser Betätigung in der Gesellschaft besteht.

3. Die „präkonstitutionelle Harmonie“ zwischen einem christlich geprägten Staat und einer christlich geprägten Gesellschaft, deren Übereinstimmung das Nebeneinander von Staat und Kirche erleichtert hatte, ist unwiderruflich beendet. Viele Stimmen haben sich vor diesem Hintergrund dafür ausgesprochen, das Verhältnis von Staat und Kirche im Sinne einer noch strikteren Neutralität des Staates neu auszutarieren. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner „Kopftuch-Entscheidung“ die möglichen Antworten auf die gewandelten gesellschaftlichen Verhältnisse umrissen: Einerseits könne die zunehmende religiöse Vielfalt in der Schule aufgenommen und als Mittel für die Einübung von gegenseitiger Toleranz genutzt werden, um einen Beitrag in dem Bemühen um Integration zu leisten. Andererseits sei die beschriebene Entwicklung auch mit einem größeren Konfliktpotenzial behaftet, sodass es auch Gründe dafür gebe, der staatlichen Neutralitätspflicht im schulischen Bereich eine striktere und mehr als bisher distanzierende Bedeutung beizumessen. Ich meine: Von Verfassungs wegen ist Letzteres nicht geboten, es ist auch verfassungspolitisch nicht zu empfehlen. Vielmehr wird die notwendige Offenheit für die heute bestehende Vielzahl weltanschaulicher Inhalte und Werte gerade durch eine Auseinandersetzung mit diesen Werten gefördert.

Sicher ist, dass die Kirchen und Religionsgemeinschaften im 21. Jahrhundert vor neuen, womöglich auch schwereren Aufgaben stehen als noch vor einigen Jahrzehnten. Angesichts der kulturellen Durchmischung unserer Gesellschaft muss es den Kirchen im eigenen Interesse darum gehen, in einen offenen Dialog mit anderen Religionsgemeinschaften zu treten und auf diese Weise einen interreligiösen Konsens zu finden, der zum kulturellen und gesellschaftlichen Frieden in unserem Staat beiträgt. Vor diesem Hintergrund scheint mir die Einbindung der Religionsgemeinschaften in unser Gemeinwesen sogar an Bedeutung zu gewinnen, wohingegen eine Verbannung alles Religiösen aus dem öffentlichen Raum eher den Charakter einer Konfliktverdrängungsstrategie hätte. Die staatskirchenrechtliche Ordnung des Grundgesetzes hält mit ihrer balancierten Trennung von Staat und Kirche jedenfalls den rechtlichen Rahmen dafür bereit, dass Kirchen und Religionsgemeinschaften die ihnen zukommenden Aufgaben auch und gerade in einer zunehmend multikulturell geprägten Gesellschaft erfüllen können.


Hans-Jürgen Papier, München


(Der Beitrag beruht auf Vorträgen des Verfassers, die u. a. in: zur sache.bw., 10/2006, 4, und in: Rainer Pitschas/Arnd Uhle (Hg.), Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik, Festschrift für Rupert Scholz zum 70. Geburtstag, 2007, 1123, veröffentlicht sind.)